Hintergrund und Fragestellung
Am 28.01.2020 wurde in Deutschland die erste Infektion mit dem neuartigen Coronavirus SARS-Cov-2 (COVID-19) bestätigt. Mitte Februar empfahl das Robert Koch-Institut den Schutz besonders vulnerabler Personen, welche ein erhöhtes Risiko für schwere Krankheitsverläufe und Mortalität aufweisen, hierzu zählen u. a. Pflegeheimbewohnende [
1]. Dies und die Tatsache, dass es in Pflegeheimen mit bestätigten Infektionen zu hohem Infektionsgeschehen kommt, stellt die Einrichtungen vor große Herausforderungen und führt zu diversen, z. T. restriktiven, Maßnahmen [
2,
3]. Zum Schutz der Bewohnenden gelten für diese teilweise tiefgreifendere Maßnahmen als für die Allgemeinbevölkerung. Ab März 2020 bestanden massive Zugangseinschränkungen sowohl für externe Dienstleister und Leistungserbringer als auch für ehrenamtliche Helfende. Weiter wurde auch der Besuch Angehöriger temporär ausgesetzt oder nur in Ausnahmefällen erlaubt [
2]. In der Alltagsgestaltung wurden tägliche Beschäftigungen und Gruppenaktivitäten wie auch die gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten eingestellt; teilweise wurden Bewohnende in ihren Zimmern isoliert [
4]. Diese Einschränkungen gehen mit negativen Folgen für die Gesundheit der Bewohnenden einher. In Frankreich und den Niederlanden, wo ähnliche Einschränkungen galten, wurden erhöhte Depressivität, Ängstlichkeit, Einsamkeit und eine Zunahme an Verhaltensauffälligkeiten festgestellt [
5,
6]. Soziale Isolation und Einsamkeit können sich durch eine Vielzahl von Folgeerscheinungen (Bluthochdruck, kardiovaskuläre Erkrankungen, gesteigerte Depressivität, Abbau der kognitiven Leistungsfähigkeit) negativ auf den Gesundheitszustand von Pflegeheimbewohnenden auswirken und zu einer erhöhten Sterblichkeit führen [
7‐
9].
Bereits vor der COVID-19-Pandemie zeigte knapp die Hälfte der Bewohnenden in deutschen Pflegeheimen Hinweise auf eine depressive Symptomatik [
10].
Zielsetzung der Studie war es, die Auswirkungen der Pandemie auf das alltägliche Leben der Bewohnenden mit depressiver Symptomatik in stationären Pflegeheimen zu beleuchten und ihre subjektiven Sichtweisen und Erfahrungen zu explorieren.
Diskussion
Die Studie hat zum Ziel, die Auswirkungen der Pandemie auf das Leben von Pflegeheimbewohnenden mit depressiver Symptomatik sowie deren Sichtweisen und Erfahrungen zu explorieren.
Die Identifizierung einzelner negativer Empfindungen und Emotionen wie Ängstlichkeit, Einsamkeit oder Sorge steht in Konsistenz mit anderen Studien [
5,
6]. Überwiegend berichten die Befragten jedoch, die Pandemie als wenig belastend zu empfinden und keine Angst vor einer Infektion und deren möglichen Folgen zu haben. Obwohl die Befragten gut über die Gefahren des Virus informiert zu sein scheinen und über dramatische Ausbrüche in nahegelegenen Pflegeheimen Bescheid wissen [
17], erwecken sie stellenweise einen sorglosen Eindruck angesichts einer potenziell letalen Erkrankung. Eine Erklärung hierfür könnten die Charakteristika der Bewohnenden sein. Höheres Alter, Leben im Pflegeheim und Depression können in Zusammenhang mit einem Todeswunsch, wie ihn ein Befragter mitunter kommuniziert hat, stehen [
18]. Dies könnte zu Akzeptanz der eigenen Sterblichkeit und zu Sorglosigkeit gegenüber SARS-CoV‑2 führen.
Eine Studie [
19] zeigt, dass ältere Menschen, die zu Hause leben, weniger durch die Pandemie belastet sind als jüngere Personen. Das lässt auf Bewältigungsstrategien schließen, die mit Erreichen eines gewissen Alters assoziiert sind und die Sorglosigkeit ebenfalls erklären könnten.
Obwohl zum Zeitpunkt der Interviewdurchführung z. T. noch erhebliche Einschränkungen in den untersuchten Heimen galten (keine Gruppenaktivitäten, wöchentlicher Besuch auf eine Person und Stunde beschränkt, dauerhaftes Tragen einer FFP2-Maske außerhalb des Zimmers etc.), waren die Reglementierungen aufgrund umgesetzter Hygienekonzepte und einer Ausweitung der Teststrategien lockerer als noch zu Beginn der Pandemie. Beispielhaft ist hier zu nennen, dass den Bewohnenden im Frühjahr und im Sommer ein Verlassen des Heims und teilweise auch des Zimmers nicht gestattet war. Im Dezember, zum Erhebungszeitpunkt, waren diese Einschränkungen aufgehoben. Lockerungen im Pandemieverlauf könnten ebenfalls zu einer Entlastung bei den Bewohnenden führen, welche sie entsprechend in den Interviews benennen.
Die Befragten empfinden die geltenden Maßnahmen als lästig und störend. Mitunter wird auch deren Sinnhaftigkeit hinterfragt. Das Zentrum für Qualität in der Pflege [
20] und die Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft [
21] warnen davor, den Infektionsschutz über den Erhalt der Lebensqualität zu setzen und werben für eine Abwägung zwischen Viruseindämmung, der Wahrung individueller Bedürfnisse und dem Schutz der psychischen und sozialen Gesundheit. So berichten auch die Befragten von Wünschen, welche sich aufgrund der Pandemieeinschränkungen nicht realisieren lassen. Eine Nicht-Erfüllung kann sich negativ auf die Lebensqualität und die psychische Verfassung der Bewohnenden auswirken. Es ist ein schmaler Grat zwischen der Vermeidung von Infektionen und Sterbefällen und dem Versuch, die Lebensqualität der Menschen zu erhalten und damit eine Zunahme von psychischen Problemen zu vermeiden [
3,
5,
6,
22].
In Situationen, in denen persönlicher Kontakt nicht möglich ist, kann die Nutzung von Alternativen hilfreich sein. So führen regelmäßige Videokonferenzen mit Angehörigen zu weniger Einsamkeit und Depressivität sowie zu vermehrter emotionaler Unterstützung [
23].
Der geringere DIA-S-Wert der Bewohnenden mit dokumentierter, teils schwerer, Depressionsdiagnose könnte auf eine antidepressive Pharmakotherapie zurückzuführen sein, die die Bewohnenden mit ärztlicher Diagnose mit höherer Wahrscheinlichkeit erhalten, als Bewohnende ohne dokumentierte Diagnose. Da die Medikation der Befragten nicht erfasst wurde, können hierzu keine Aussagen getroffen werden. Darüber hinaus könnte die Wahrnehmung depressiver Symptome durch Pflegende anders sein, als bei einer ärztlichen Diagnostik oder in der Situation, in der die DIA-S eingesetzt wurde. Dies könnte die unterschiedlichen DIA-S-Werte ebenfalls erklären.
Limitationen der Studie betreffen die Selektion der Befragten, welche durch die Mitarbeitenden der Heime vorgenommen wurde. Zum einen, da der Zugang zu den Heimen aufgrund der Pandemie stark reglementiert war, zum anderen schien es mit Blick auf mögliche Infektionsrisiken sinnvoll, die Heime nur für die Interviews zu betreten. Weiter führte die Angst vor einer Infektion evtl. zu einer Zurückhaltung ängstlicher und vorsichtiger Bewohnender mit der Folge vermehrt sorgloser Teilnehmender. Auch das Tragen von FFP2-Masken und damit verbundene potenzielle Beeinträchtigungen, u. a. das Beschlagen der Brille sowie das Nicht-Erfassen der Mimik, können zu Einschränkungen in der Interviewsituation geführt haben. Drei der 9 Befragten sind während der Pandemie ins Pflegeheim gezogen. Es kann sich eine Limitation der Ergebnisse ergeben, da die Bewohnenden keinen Vergleich zu einem Leben im Heim unter nichtpandemischen Bedingungen anstellen können. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, dass die Depressivität im Sinne einer Anpassungsstörung aufgrund des Umzugs aufgetreten ist oder durch diesen verstärkt wurde [
24].
Es wurde nicht erfasst, ob die Bewohnenden, die aufgrund des Depressionsverdachts eingeschlossen wurden, bereits vor der Pandemie an einer Depression erkrankt waren, oder ob dies eine Begleiterscheinung ebenjener war. Es ist denkbar, dass die Symptome bei diesen Befragten während der Pandemie eintraten.
Die untersuchte Stichprobe ist auf 9 Bewohnende begrenzt. Während die Bewohnenden bei Alter und Verweildauer eine heterogene Verteilung aufweisen, ist der Familienstand der 9 Befragten ähnlich (verwitwet, geschieden, ledig). Vier Teilnehmende haben zudem keine Kinder. Möglicherweise hatten die Bewohnenden bereits vor der Pandemie nur begrenzt soziale Kontakte, sodass die Kontakt- und Besuchsbeschränkungen für die Befragten weniger belastend sind. Es wurden keine Daten zu den sozialen Kontakten vor und während der Pandemie erfasst, somit kann hierzu keine Aussage getroffen werden.
Weiter muss bedacht werden, dass es sich bei der eingesetzten DIA‑S um ein Kurzscreening handelt und keine umfängliche Depressionsdiagnostik vorgenommen wurde. Die DIA‑S ersetzt keinesfalls eine ärztliche Diagnostik oder ein strukturiertes klinisches Interview und liefert lediglich einen Hinweis auf das Vorliegen einer depressiven Erkrankung auf Basis des Vorhandenseins depressiver Symptome.
Zu guter Letzt wurden keine Bewohnenden ohne Depressionsdiagnose oder -verdacht interviewt. Es kann daher kein Vergleich zwischen Bewohnenden mit und ohne depressiver Symptomatik bezüglich ihres Erlebens in der Pandemie gezogen werden. Es stellt sich die Frage, wie Bewohnende ohne depressive Symptome die Pandemie erleben, und ob und wie sich die Ergebnisse dieser beiden Gruppen unterscheiden würden.
Zu den Stärken der Studie zählt die Befragung einer in der Forschung eher unterrepräsentierten Zielgruppe. Der Zugang zu den Heimen und den Bewohnenden während der Pandemie und den geltenden Maßnahmen stellt ebenfalls eine Stärke der Studie dar.
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