Unter der aktuellen SARS-CoV-2-Pandemie (severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2) haben sich das öffentliche Leben und der Alltag, inklusive Berufsalltag, verändert. Erste Daten zu indirekten Auswirkungen der Pandemie auf die psychische Gesundheit, wie bspw. den Alkoholkonsum, liegen jetzt vor. Erste Daten weisen auf einen Trend des erhöhten Rauschtrinkens aufgrund des erlebten Stresses durch bspw. Ausgangsbeschränkungen hin. Diese Übersicht stellt den Verlauf des Alkoholkonsums zu Beginn und während der ersten Wellen der Pandemie dar.
Hintergrund
Beschäftige vieler Berufsgruppen unterliegen immer mehr hohen psychosozialen Belastungen, die zu gesundheitlichen Folgen führen [
6,
26]. Diese Belastungen werden während der SARS-CoV-2-Pandemie noch verstärkt. So zeigt sich eine Verdichtung der Arbeit auf einigen Stationen in Krankenhäusern. Angst um persönliche Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, wie sie in Gesundheits‑/Pflegeberufen in der Pandemie vorkommt, verstärkt die ohnehin hohe psychische Belastung in diesen Berufsgruppen [
3,
32,
50]. Angst vor Kurzarbeit und plötzlicher Arbeitslosigkeit bei Beschäftigten vieler Betriebe, Existenz- und Armutsängste der Selbstständigen aufgrund einer weggebrochenen Geschäftsgrundlage und dazu noch die allgemeinen Maßnahmen des Lockdowns wie Ausgangssperren, „social distancing“ und Isolation sind einschneidend. Hinzu kommen Mehrfachbelastungen in den Familien durch die fehlende Kinderbetreuung, Homeschooling und/oder Homeoffice des Partners [
50]. Das alles kann zu Überbeanspruchungen und Überreaktionen (Stichwort: Gewalt in der Familie) führen.
Eine falsch gewählte Bewältigungsstrategie von Stress kann ein erhöhter Alkoholkonsum sein, was zunächst zu einer subjektiven Veränderung der Belastung führt [
47,
49] und langfristig mit negativen gesundheitlichen Folgen in Verbindung steht [
42].
Stress kann ein Risikofaktor für den problematischen Alkoholkonsum sein [
62]; beides steht häufig in Verbindung [
9]. Deutschland gehört zu den Alkoholhochkonsumländern [
63]. 14,2 % der 18- bis 64-Jährigen, d. h. der erwerbsfähigen Bevölkerung Deutschlands, weisen einen riskanten Alkoholkonsum auf, wovon 3,4 % abhängig sind [
45]. Ein riskanter Konsum wird bei der Aufnahme von mehr als 12 g Reinalkohol pro Tag in den letzten 30 Tagen bei Frauen und 24 g bei Männern angesehen [
8]. Daten des Epidemiologischen Suchtsurveys ergaben, dass 71,6 % der Befragten und somit 36,9 Mio. Menschen in Deutschland Alkohol in den letzten 30 Tagen vor der Befragung konsumierten [
4]. Die indirekten Kosten, wie Mortalitätsverluste, Arbeitsunfähigkeit, Rehabilitation, Frühberentung und Produktionsausfälle, machen ca. 16,6 Mrd. € aus [
8]. Sachschäden alkoholbedingter Arbeitsunfälle belaufen sich auf über 1 Mrd. € [
8]. Für das Individuum relevanter sind die durch schädlichen und abhängigen Alkoholkonsum entstehenden erheblichen psychosozialen Auswirkungen. Sie bedeuten Verlust an Lebensqualität der betroffenen Menschen sowie deren Angehöriger [
63]. Somatisch können alle Organe infolge einer Alkoholabhängigkeit geschädigt sein; im Vordergrund stehen dabei die alkoholische Leberkrankheit und chronische Pankreatitis sowie neuropsychiatrische Schäden wie Hirnatrophie, Enzephalopathie und Alkoholpsychose [
27].
Es gibt weit verbreitete Besorgnis darüber, dass die COVID-19-Pandemie ein hohes Risiko für den Alkoholkonsum unter stark trinkenden Bevölkerungsgruppen aufweist. Daher war das Ziel der Literaturrecherche, die Entwicklungen des Alkoholkonsums in Pandemiezeiten weltweit zu beurteilen. Dabei sollten entweder Veränderungen des Konsumverhaltens während der Pandemie bestimmt oder auf Studien vor Pandemiezeiten zurückgegriffen und verglichen werden. Aussagen zu Berufsgruppen sollten ebenfalls erfasst werden, wobei das Interesse des Reviews auf Gesundheitspersonal und/oder Rettungsdienstpersonal lag.
Methodik
Es erfolgte eine systematische Literaturrecherche in den Datenbanken PubMed, Ovid, Cochrane Library, Scopus, PsycINFO und Web of Science (Deadline: 11. Januar 2022). Als Suchbegriffe wurden („alcoholism“ ODER „alcohol“) UND („pandemic“ ODER „corona“ ODER „SARS-CoV-2“ ODER „Covid 19“) definiert. Einschlusskriterien waren Studien, die den Alkoholkonsum zu verschiedenen Zeiten der Pandemie, im Vergleich zu Zeiten vor der Pandemie oder Veränderungen des Alkoholkonsums während der Pandemie abfragten. Dabei wurden nur Research-Artikel gesichtet. Ausschlusskriterien waren somit Darstellung von Studienergebnissen in Form von Editorials, „letter to editor“, Fallbeschreibungen oder Ähnliches, Studien zum Alkoholkonsum bei Jugendlichen unter 18 Jahren und Studien, die den Alkoholkonsumverlauf während der Pandemie bei Alkoholabhängigen oder Abstinenten untersuchten. Die gefundenen Artikel wurden in den Referenzmanager Citavi 6 (Swiss Academic Software, Wädenswil, Schweiz) eingefügt und Duplikate entfernt. Die Autoren BT und HS überprüften unabhängig voneinander Titel und Abstracts nach dem Thema. Es wurden englisch- und deutschsprachige Arbeiten berücksichtigt. Der Zeitraum wurde ab 2020 definiert, da die Pandemie 03/2020 durch die WHO erklärt wurde [
65]. Die genannten Autoren überprüften unabhängig voneinander den Volltext dieser Artikel. Unstimmigkeiten wurden durch Diskussion mit einem dritten Gutachter (IB) geklärt.
Diskussion
Dieses Review zeigt, dass der veränderte Alkoholkonsum eine Folge der pandemiebedingten Maßnahmen und der Zunahme psychischer Belastungen (Angst vor Verlust persönlicher und familiärer Sicherheit, „social distancing“, Mehrfachbelastungen in den Familien durch die fehlende Kinderbetreuung, Homeschooling usw.) sein könnte. Der Hauptteil der Befragten gab einen unveränderten Alkoholkonsum an. Es ist jedoch anzumerken, dass die Studien sich überwiegend auf die erste und zweite Welle konzentrierten. Studienergebnisse aus 2021 liegen noch nicht vor.
Anpassungen des Alkoholkonsums sind veränderte Alkoholkonsummuster wie bspw. Binge-Drinking oder Online-Trinken. Einige Studien belegen einen zunehmenden Alkoholkonsum mit anhaltender Dauer der Lockdown-Maßnahmen. Dabei muss beachtet werden, dass die Möglichkeiten von Rauschtrinken durch Pandemiemaßnahmen verringert, diese jedoch im Verlauf der weiteren Pandemie nicht mehr so streng waren. Hier könnten aber auch Unterschiede in Altersgruppen vermutet werden. Als Limitation dieser Literaturrecherche muss angemerkt werden, dass die Suchbegriffe wie „alcohol use“ oder „alcohol consumption“ ebenfalls geeignet gewesen wären, jedoch nicht berücksichtigt wurden.
Bereits vor der Pandemie konsumierten ca. 23 % der Arbeitnehmer regelmäßig Alkohol, davon 8 % Alkohol am Arbeitsplatz. Bei etwa 25 % der Betriebsunfälle war Alkohol im Spiel [
7,
18]. Es werden enorme volkswirtschaftliche Kosten durch Alkohol verursacht [
7,
18]. Obwohl die Studienergebnisse überwiegend die Allgemeinbevölkerung betrafen, können diese teilweise auf den Alltag des Arbeitnehmers bezogen werden, da der Hauptteil der Befragten im berufstätigen Alter war. Daher spielen geeignete betriebliche präventive Maßnahmen (nicht nur im Kontext des Alkoholkonsums, sondern auch hinsichtlich der psychischen Belastungen) eine Rolle, die vor allem den Mitarbeitenden zugutekommen, die ein Risiko für erhöhten Alkoholkonsum aufweisen. Eine Studie über Alkoholmissbrauchs‑/Abhängigkeitssymptome von Gesundheitspersonal drei Jahre nach dem SARS-Ausbruch in China 2003 fand einen positiven Zusammenhang mit der Tatsache, dass Betroffene unter Quarantäne gestellt wurden oder mit SARS-Patienten bzw. auf SARS-Stationen arbeiteten [
66]. Die Autoren kamen zu der Schlussfolgerung, dass nicht nur Katastrophenexpositionen, sondern auch eine Exposition gegenüber dem Ausbruch einer schweren Infektionskrankheit zu einer posttraumatischen Belastungsstörung oder auch zu anderen psychiatrischen Erkrankungen wie Alkoholmissbrauch/-abhängigkeit führen kann [
66].
Im Zusammenhang mit den zusätzlichen psychischen Belastungen während der Pandemie sind eine umfassende Information, eine Stärkung der Resilienz durch Tagesstrukturierung und eine frühzeitige betriebliche Prävention zur Reduzierung von berufsbedingtem Stress empfehlenswert und unabdingbar [
60]. Ein erhöhter Alkoholkonsum als Coping-Mechanismus bei Stress ist die falsche Wahl. Eine Aufklärung zu möglichen Folgen des erhöhten Alkoholkonsums ist im Rahmen einer Suchtprävention notwendig [
59]. Bewegungserhalt und gesunde Ernährung als gesundheitsförderliche Maßnahmen können ergänzend angeboten werden [
58].
Im Rahmen einer Interventionslängsschnittstudie konnte eine Erfolgsquote von 50 % bezüglich Abstinenz und Reduktion auf harmloses Trinken erzielt werden [
17]. Auch Führungskräfte sind in der Verantwortung und sollten eine betriebliche Suchtprävention implementieren; sie haben eine Fürsorgepflicht [
18,
23]. Diese Aufgabe könnten der Betriebsarzt und sein Präventionsteam übernehmen, z. B. in Form von Schulungen, Beratungen in konkreten Problemfällen, Kontaktaufnahme mit Hausarzt, Familie, Behandlungseinrichtung und Therapievermittlung [
18]. Ein Review belegte eine begrenzte Evidenz für eine geringe, aber wahrscheinlich relevante Reduktion des Stressniveaus durch personenzentrierte, personennahe und organisatorische Interventionen bei Beschäftigten [
63]. Organisatorische Interventionen (z. B. Unterstützung, Kommunikation, flexible und familienfreundliche Arbeitszeiten) sollten sich auf die Reduzierung spezifischer Stressoren konzentrieren, d. h., es wird eine Evaluation bestehender Belastungen empfohlen, um diesen entgegenzuwirken [
52]. Diesbezüglich besteht sicherlich auch ein hohes Forschungspotenzial. Inhomogene Evidenz soll natürlich auch nicht heißen, dass berufsbedingter Stress allein auf den Schultern der Mitarbeitenden zu tragen ist.
Auch Erkenntnisse des Kompetenznetzes Public Health zu COVID-19 aus Fachgesellschaften und Verbänden zur Abschätzung der psychosozialen Folgen von Isolations- und Quarantänemaßnahmen und deren Vorschläge zu den möglichen Lösungsansätzen sollen in die Arbeit der Präventionsteams einfließen [
34]. Im Hinblick auf die Gefährdung bestimmter Personen, u. a. mit psychischen Vorerkrankungen wie Angststörungen und Depressionen, sollen die psychotherapeutischen Interventionen angedacht werden.
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