Hintergrund und Fragestellung
Altersassoziierte Morbidität bedeutet häufig Multimedikation bzw. Polypharmazie. So nahm in Deutschland etwa ein Drittel der 18- bis 29-Jährigen ärztlich verordnete Medikamente ein, während es bei den über 65-Jährigen mehr als 85 % waren [
6,
20]. Bei diesen Patienten kann u. U. schon der Funktionsabfall der Nieren oder Leber die Gefahr für unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) erhöhen.
UAW im Alter können zum vermehrten Auftreten von Krankenhausaufnahmen und im schlimmsten Fall zum Tod des Betroffenen führen [
5,
17]. Um schwerwiegende Ereignisse dieser Art zu verringern, sollten Arzneiwirkstoffe mit hohem Risikopotenzial eher vermieden oder, wenn erforderlich, unter engmaschiger Beobachtung verabreicht werden.
In der vorliegenden Studie wurde das Risiko durch potenziell inadäquate Medikation (PIM) und Arzneimittelinteraktionen bei Bewohnern von Essener Alten- und Seniorenpflegeheimen untersucht, die durch die gerontopsychiatrische Ambulanz des LVR-Klinikums Essen/Kliniken und Institut der Universität Duisburg-Essen (im Folgenden LVR-Klinik Essen) betreut wurden. Das Arzneimittelinteraktionsrisiko wurde anhand einer „Clinical Decision Support Software – CDSS“, dem aus der Schweiz stammenden Programm mediQ (
www.mediQ.ch), untersucht. Mit mediQ wurden sämtliche Präparate der Patienten auf ihr Interaktionsrisiko hin analysiert. Anhand der Ausprägung der festgestellten Interaktionsrisiken wurde insbesondere auf die Identifikation von Patienten mit hohem potenziellen Risikoprofil fokussiert. Ferner wurde untersucht, inwieweit die Patienten Medikamente erhielten, die in einer Liste für potenziell inadäquate Medikation (PIM), der PRISCUS-Liste [
11], aufgeführt sind. Beide Methoden werden heute vielfach eingesetzt, um Risikopatienten für UAW zu identifizieren. Diese Studie sollte also neben der Identifikation von Risikopatienten Unterschiede zwischen den CDSS- und den PRISCUS-Risikogruppen untersuchen bzw. Überlappungen zwischen beiden Personenkreisen aufzeigen.
Diskussion
In dieser Studie haben wir pharmakologische IR bei fast 1000 Seniorenheimbewohnern in Essen mithilfe der CDSS mediQ untersucht; mediQ wurde wegen seiner im Vergleich zu weiteren Kandidaten guten Praktikabilität und breiten Datenbasis, wie auch ein Vergleich mit weiteren CDSS zeigte [
8], ausgewählt. Daneben wurde mit der PRISCUS-Liste die Einnahme von potenziell inadäquater Medikation (PIM) erfasst.
Aus den hier erhobenen Daten lässt sich folgern, dass bei der untersuchten Population IR bei rund drei Viertel nach Auswertung mit dem CDSS mediQ potenzielle Risiken von klinischer Relevanz vorlagen, allerdings nur bei 2 % IR in der höchsten Stufe. Die Verordnung von PIM laut PRISCUS-Liste lag demgegenüber mit rund einem Viertel der Untersuchten niedriger. Bei abgetrennter Betrachtung der Psychopharmaka zeigte sich jeweils eine deutlich niedrigere Rate potenzieller IR bzw. in der Verschreibung von PIM (ein Viertel bzw. ein Siebentel der Patienten).
Hierbei ist zu betonen, dass es sich bei sämtlichen IR, deren Einteilung originär auf dem Zurich Interaction System (ZHIAS) und dem Operational Classification of Drug Interactions (ORCA) beruht, um potenzielle Risiken handelt. Dies bedeutet, dass die Ergebnisse der CDSS hinsichtlich ihrer klinischen Relevanz einer individuellen Überprüfung bedürfen.
Bei Bewohnern von Pflegeheimen besteht eine hohe Verschreibungsrate – auch im Hinblick auf PPh [
3]. Zusammen genommen mit non-PPh erhielten Bewohner von Pflegeeinrichtungen im Durchschnitt 8,8 Präparate insgesamt [
10]. In der vorliegenden Untersuchung bekamen die Patienten durchschnittlich 7,1 Medikamente rezeptiert. Die PPh-Medikation lag in unserem Kollektiv im Durchschnitt bei 1,8 Präparaten. Diese Ergebnisse sind vergleichbar mit einer kürzlich durchgeführten Untersuchung in brandenburgischen Pflegeheimen [
14].
Neben der Nutzung von Negativlisten wie der PRISCUS-Liste gibt es ebenso den Ansatz der optimierenden Pharmakotherapie von älteren Menschen, der Medikamente in Bezug auf ihre Alltagstauglichkeit in einem Klassifikationssystem bewertet, z. B. die sog. FORTA-Liste („Fit for the aged“) [
7]. Ferner sei angemerkt, dass trotz weiter Verbreitung von Polypharmazie Studien zeigten, dass bei bis zu 60 % und mehr der Patienten eine Unterversorgung für dringend indizierte Medikamente bestand [
22]. Zu deren Identifizierung ist weiterhin die sog. START-Liste („screening tool to alert doctors to the right treatment“) zu nennen: Hierbei handelt es sich um eine Auflistung von evidenzbasierten Verordnungsindikationen und Behandlungsempfehlungen bei älteren Menschen [
15]. Wir empfehlen zur Vertiefung der Thematik listenbasierter Ansätze in der Arzneitherapie eine in dieser Zeitschrift erschienene Übersichtsarbeit von Thiem [
18].
Mögliche Begrenzungen der Studie bestanden u. a. darin, dass es sich um eine anonymisierte Datenauswertung handelte: So konnten wir weder die Patienten direkt identifizieren noch das mit der CDSS mediQ ermittelte Risikopotenzial auch tatsächlich beim Patienten verifizieren. Auch war es nicht möglich, sich direkt die Patienten herauszusuchen, die PIM entsprechend der PRISCUS-Liste erhielten. Nur mithilfe der individuellen Patientenakte wäre es dann mit Labor, Vorbefunden etc. möglich gewesen, den abstrakt analysierten potenziellen Risiken durch Maßnahmen zu begegnen bzw. den jeweiligen Patienten strenger zu beobachten und die Indikationen noch genauer zu hinterfragen.
Schließlich lässt sich bei ambulanten Patienten noch schwerer die Gesamtmedikation erfassen, da zumindest nicht ausgeschlossen werden konnte, dass „Over-the-counter“(OTC)-Präparate und Bedarfsmedikation der Pflegeeinrichtungen nicht dokumentiert wurden.
Allgemeine Maßnahmen zur Optimierung von Medikamentenverordnungen für ältere Patienten in Senioren- und Pflegeheimen wurden kürzlich auf Basis eines systematischen Cochrane-Reviews von 12 Studien aus 10 Ländern diskutiert [
19], wobei die Überprüfung der Medikation bei nur 10 Studien der für den Cochrane-Prozess ausgewählten Arbeiten erfolgte [
1]. Das Evidenzniveau war bei „Medikationsreviews“ niedrig. Unerwünschte Folgen für die Patienten konnten nicht signifikant verringert werden. Auch zeigt eine jüngere, zunächst vielversprechende, clusterrandomisierte Studie aus den Niederlanden trotz aufwendiger Interventionen, u. a. unter Einbeziehung von Apothekern, in den definierten Endpunkten wie Stürzen, Häufigkeit von Visiten, neuropsychiatrischen Symptomen und „quality of life“ keine signifikanten Unterschiede auf [
21]. Ähnlich uneinheitlich im Outcome blieb die COME-ON-Arbeit aus Belgien, die zwar eine PIM-Reduktion in der Interventionsgruppe zeigte – allerdings bei erhöhter Mortalität im Vergleich zur Kontrollgruppe [
2]. Zu einem ähnlichen Resultat kam eine norwegische Interventionsstudie, in der zwar eine Reduktion in der Anzahl verordneter Medikamente erreicht werden konnte, diese aber mit reduzierter Lebensqualität in der Interventionsgruppe verbunden war [
12]. Im Hinblick auf konkrete Risikokonstellationen sei auf detaillierte Arbeiten in dieser Zeitschrift verwiesen [
13,
16].
Wir haben diese Studie durchgeführt, um das Ausmaß potenzieller Gefahren durch Polymedikation in der besonders vulnerablen Gruppe der multimorbiden Patienten zu erfassen und zu identifizieren. Identifizieren ließen sich bei fast 1000 untersuchten Patienten 2,2 %, die ein potenzielles Risiko einer starken Interaktion aufwiesen. Allein durch Psychopharmaka verursacht, besteht dieses Risiko bei 0,6 % der hier analysierten Patienten, darauf sei auch bei der gesellschaftlichen Diskussion zu diesem manchmal emotional aufgeladenen Thema hingewiesen. Diese potenziellen Risiken durch Interaktionen sind durch den jeweiligen Arzt immer ernst zu nehmen, und es ist unter strengen Bedingungen das Risiko von therapeutischem Nutzen und möglichem Schaden stets abzuwägen. Die untersuchten Hilfsmittel CDSS oder eine Negativliste können hier sicherlich einen Beitrag leisten, alleine reichen sie zur Identifizierung von Risikopatienten, wie die vorliegende Arbeit gezeigt hat, nicht aus – dafür sind die Ergebnisse zu heterogen. Es sei aber schließlich darauf hingewiesen, dass selbst monotherapeutische Ansätze durchaus ein erhebliches Gefahrenpotenzial für Ältere darstellen können; erwähnt sei hier nur die langfristige Verschreibung von hochpotenten Neuroleptika in hoher Dosis bei Menschen mit Demenz [
4].
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