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Erschienen in: Notfall + Rettungsmedizin 6/2023

Open Access 04.08.2021 | Originalien

Das Präsentationsdiagramm „Massenanfall“ des Manchester-Triage-Systems

Eine prospektive Untersuchung bei traumatologischen und nichttraumatologischen Patienten

verfasst von: Monika Kogej, Melina Kern, Patric Tralls, Moritz Berger, PD Dr. med. Ingo Gräff, DESA

Erschienen in: Notfall + Rettungsmedizin | Ausgabe 6/2023

Zusammenfassung

Hintergrund und Ziel der Arbeit

Für die klinische Sichtung in der Zentralen Notaufnahme (ZNA) existiert bisher für den Massenanfall von Verletzten kein standardisierter Sichtungsalgorithmus. Mit dem Erscheinen der vierten überarbeiteten und erweiterten Auflage des Manchester-Triage-Systems (MTS) wird dem Nutzer ein spezielles Präsentationsdiagramm („Massenanfall“) angeboten. In der vorliegenden Studie wurde erstmalig das Präsentationsdiagramm „Massenanfall“ des MTS im klinischen Setting hinsichtlich seiner Güte untersucht.

Methodik

In der vorliegenden monozentrischen, prospektiven Studie wurden 215 traumatologische und 235 nichttraumatologische Patienten unter Verwendung des Präsentationsdiagramms „Massenanfall“ gesichtet und in eine der drei Sichtungskategorien (SK I–III) eingruppiert.

Ergebnisse

Das MTS-Diagramm stufte die traumatologische Kohorte in 80 % der Fälle korrekt ein. In 15,35 % erfolgte eine Über- und in 4,65 % eine Untertriage. Hierbei wurde eine Sensitivität/Spezifität von 84/99 % für die SK I, 87/78 % für SK II sowie 76/94 % für SK III erreicht. Die nichttraumatologischen Patienten wurden in 59,57 % korrekt kategorisiert sowie in 15,75 % über- und in 24,68 % untertriagiert. Die Sensitivität/Spezifität für SK I lag bei 50/95 %, für SK II bei 49/71 % und für SK III bei 73/65 %.

Diskussion

Zusammenfassend war der Algorithmus leicht und schnell anzuwenden und identifizierte traumatologische Patienten mit lebensbedrohlichen Verletzungen treffsicher. Es wurde aber auch deutlich, dass die Diskriminante „Gehfähigkeit“ zu Beginn der Sichtung bzw. rein physiologische Entscheidungskriterien mit einer schlechten Testgüte einhergingen. Nichttraumatologische Krankheitsbilder wurden qualitativ ungenügend kategorisiert.
Hinweise
Die ursprüngliche Online-Version dieses Artikels wurde überarbeitet: Die Abbildung 1 wurde korrigiert.
Die Autoren M. Kogej und M. Kern teilen sich die Erstautorenschaft.
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Zu diesem Beitrag ist ein Erratum online unter https://​doi.​org/​10.​1007/​s10049-021-00973-y zu finden.

Einleitung

Hintergrund

Großschadenslagen, Krisensituationen sowie zunehmende Gefahrenlagen wie Terror und Amokläufe können schlagartig eine Vielzahl von Menschen betreffen und stellen für alle beteiligten Organisationen wie Feuerwehr, Polizei, Rettungsdienst und Krankenhäuser eine große Herausforderung dar. Hierbei hat sich im Umgang mit dem Massenanfall von Verletzten oder Erkrankten (MANV/MANE) die Sichtung zur Behandlungspriorisierung als entscheidender Prozess bewährt, um eine bedarfsgerechte Versorgung der Patienten zu gewährleisten, Überleben und Lebensqualität der Patienten zu sichern und die vorhandenen Ressourcen optimal zu nutzen [7, 14]. Ziel der klinischen Sichtung ist die Einteilung des auf die Krankenhäuser zukommenden Patientenstroms in jeweilige Sichtungskategorien (SK), um eine optimale Verteilung der vorhandenen Ressourcen zu gewährleisten. Jede SK beschreibt nicht nur die Verletzungs‑/Erkrankungsschwere jedes einzelnen Patienten, sondern legt ebenfalls die Behandlungspriorität fest. Hierbei steht SK I (rot) für Patienten mit einer akuten vitalen Bedrohung und einer sofortigen Behandlung als Konsequenz. SK II (gelb) zeigt eine schwere Verletzung/Erkrankung mit entsprechender dringlicher Behandlung der Patienten auf. Patienten mit leichter Verletzung/Erkrankung werden in SK III eingestuft und können verzögert behandelt werden [11]. Um den innerklinischen Ressourcenmangel insbesondere in der Initialphase einer MANV/MANE-Lage beherrschen zu können, ist es essenziell, SK I-Patienten treffsicher zu identifizieren, da diese einen Teil der Ressourcen unmittelbar binden.
Getriggert durch die in der jüngsten Vergangenheit erfolgten Terroranschläge, rückte die klinische Sichtung in der Zentralen Notaufnahme (ZNA) immer mehr in den Fokus von wissenschaftlichen Untersuchungen und Expertengremien. Von 2019 bis 2021 fanden unter Federführung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) spezielle Sichtungs-Konsensuskonferenzen zur klinischen Sichtung statt. Schwerpunkt dieser Konferenzen waren Grundsätze der klinischen Sichtung, die Schnittstelle zur Präklinik, die Nomenklatur, die Dokumentation, die klinische Sichtung in speziellen Lagen sowie Schulungen und Übungen [11].

Wichtigkeit

Im MANV/MANE ist es aufgrund der Vielzahl der Patienten für die Zentralen Notaufnahmen unabdingbar, bei Eintritt in die Klinik eine erneute Sichtung bzw. eine Erstsichtung durchzuführen. Es können sich Zustandsänderungen auf dem Transport ergeben und es müssen Patienten evaluiert werden, die noch keine Vorsichtung durch den Rettungsdienst erhalten haben bzw. sich selbstständig fußläufig vorstellen.
Grundsätzlich soll die klinische Sichtung Bestandteil der Krankenhausalarm- und -einsatzplanung (KAEP) sein. Einstimmig hatten sich die Experten dafür ausgesprochen, dass alle Patienten einer Eingangssichtung unterzogen werden müssen und konsekutiv den Behandlungsbereichen SK I (rot), SK II (gelb) oder SK III (grün) zugeführt werden sollen [11].
In Bezug auf einen anwendbaren Algorithmus zur Triage bei der Eingangssichtung ist dagegen keine Aussage zu finden. Unumstritten handelt es sich um eine primäre Fragestellung, die durch wissenschaftliche Untersuchungen geklärt werden sollte.
Kleber et al. zeigten in einer Analyse von 17 unangekündigten Krankenhauskatastrophenübungen in Berlin 2010/2011 mit 601 Verletztendarstellern, dass in der klinischen Sichtung ohne Anwendung eines standardisierten Algorithmus in nur 61 % eine korrekte Einstufung der Patienten in die entsprechenden Sichtungskategorien (SK) erfolgte [13, 14], was die Verwendung eines standardisierten Algorithmus notwendig erscheinen lässt.
Im Jahr 2019 wurde durch die Arbeitsgruppe Sichtungsalgorithmus Berlin ein klinischer Sichtungsalgorithmus im Rahmen von unangekündigten Katastrophenübungen evaluiert und validiert [14].
Insgesamt existieren nur sehr wenige Untersuchungen zu klinischen Sichtungsalgorithmen. Dies spiegelt auch die sehr inhomogene Herangehensweise der klinischen Sichtung in deutschen ZNAs wider. Häufig werden Vorsichtungsalgorithmen aus der Präklinik „zweckentfremdet“. Dieses Vorgehen stellt zwar eine pragmatische Lösung dar, an dieser Stelle fehlt jedoch größtenteils die wissenschaftliche Validierung für solch ein Vorgehen.
Mit dem Erscheinen der vierten überarbeiteten und erweiterten Auflage des Manchester-Triage-Systems (MTS) wird dem Nutzer – neben den Diagrammen zur pflegerischen Ersteinschätzung der Behandlungsdringlichkeit im Alltag der Individualversorgung einer Notaufnahme – ein spezielles Präsentationsdiagramm („Massenanfall“) angeboten [15]. Das MTS ist in Deutschland für den klinischen Alltag in Zentralen Notaufnahmen das am weitesten verbreitete und in viele Klinikinformationssysteme integrierte Ersteinschätzungsinstrument. Daher ist es naheliegend, dieses spezielle Präsentationsdiagramm für den Massenanfall zu nutzen. Nach Kenntnisstand der Autoren ist eine Validierung des Diagramms „Massenanfall“ des MTS im klinischen Setting bisher noch nicht erfolgt.

Ziel der Studie

Die vorliegende Studie untersuchte erstmalig das Präsentationsdiagramm „Massenanfall“ des MTS im klinischen Setting eines Maximalversorgers hinsichtlich seiner Güte. Die Validierung erfolgte sowohl an traumatologischen als auch an nichttraumatologischen Patienten. Die Arbeit leistet somit einen Beitrag zur Versorgungsforschung eines nicht alltäglichen Prozesses in Zentralen Notaufnahmen. Ferner soll die vorliegende Arbeit einen Ausgangspunkt zur Weiterentwicklung bzw. Standardisierung der klinischen Sichtung in der ZNA bieten und dadurch letztlich die Patientensicherheit in der speziellen MANV/MANE-Situation erhöhen.

Methodik

Studiendesign

Die vorliegende Studie war eine monozentrische prospektive Datenerhebung, die im Zeitraum vom 15.04.2019 bis 01.04.2020 in der Abteilung für Klinische Akut- und Notfallmedizin des Universitätsklinikum Bonn (UKB) durchgeführt wurde. Das UKB ist ein Krankenhaus der Maximalversorgung, in dessen Notfallzentren etwa 41.000 Notfallpatienten pro Jahr durch 14 Fachdisziplinen versorgt werden. Ausgenommen von der Versorgung sind nichttraumatologische Notfallpatienten unter 16 Jahren sowie gynäkologische und geburtshilfliche Notfallpatientinnen. In den Notfallzentren wird jeder Notfallpatient standardisiert mittels Manchester-Triage-System (MTS) einer Behandlungsdringlichkeit zugeordnet. Die Ersteinschätzung erfolgt EDV-gestützt und ist integraler Bestandteil des Krankenhausinformationssystems (Cockpit Notaufnahme Dedalus Healthcare Systems Group©). Alle Notfallpatienten der Abteilung für Klinische Akut- und Notfallmedizin werden von speziell MTS-geschulten Pflegekräften ersteingeschätzt. In Vorbereitung auf die Studie wurden alle Pflegekräfte zusätzlich auf das Präsentationsdiagramm „Massenanfall“ geschult. Da die Erhebung der Rekapillarisierungszeit nicht Bestandteil der Routineanwendung des MTS ist, wurden alle Pflegekräfte gesondert in die Durchführung dieser Untersuchung unterwiesen. Die Einschätzung der rettungsdienstlich zugeführten Notfallpatienten durch das Präsentationsdiagramm „Massenanfall“ erfolgte mittels einer papiergestützten Version (Abb. 1). Um eine Beeinflussung durch die standardisierte MTS Anwendung weitestgehend auszuschließen, waren die Pflegekräfte angehalten, das Präsentationsdiagramm „Massenanfall“ vor der eigentlichen Ersteinschätzung anzuwenden.
Der algorithmenartige Aufbau mit speziellen Indikatorfragen ähnelt den anderen 53 Präsentationsdiagrammen im MTS. Allerdings beginnt der Algorithmus mit der Identifikation leichtbetroffener Patienten und hat anstatt fünf Dringlichkeitsstufen nur drei Kategorien, die zu einer Zuweisung in einen Behandlungsbereich SK I (rot), SK II (gelb) oder SK III (grün) führen. Es besteht somit Deckungsgleichheit zu den in Deutschland konsentierten Sichtungskategorien [10]. Das Präsentationsdiagramm „Massenanfall“ hat seinen Ursprung im „Major Incident Medical Management and Support Course“ (MIMMS), welcher aus Großbritannien stammt. Die Philosophie der Triage aus Sicht des „MIMMS“ ist „sieben“ (sieve) und „sortieren“ (sort) [4].

Referenzstandard

Um in der vorliegenden Untersuchung eine Aussage zur Güte (Validität) des Präsentationsdiagramms „Massenanfall“ zu treffen, also eine Aussage wie zuverlässig eine Einstufung in die Gruppen SK I, SK II und SK III erfolgte, wurde für die Testung ein Referenzstandard etabliert [10]. Hierbei wurde für jeden Patienten, der in die Studie eingeschlossen wurde, eine sogenannte Patientenvignette erstellt. Diese Vignette enthielt weitergehende Informationen hinsichtlich des Verletzungsmusters, der Diagnosen, der Prozeduren und des Versorgungslevels, welche aus den Behandlungsdaten des Krankenhausinformationssystems (KIS) erhoben wurden. Jede Vignette eines in die Studie eingeschlossenen Falls wurde Experten eines Expertengremiums, welches aus drei erfahrenen Notfallmedizinern mit zusätzlicher Expertise in Katastrophenmedizin bestand, zur Bewertung vorgelegt. Ziel der Bewertung war, unter Berücksichtigung der umfassenden Informationen auf der Vignette, eine Einstufung in die Sichtungskategorien SK I–III. Durch ein nachfolgendes, im Vorfeld reglementiertes Delphi-Verfahren wurde eine abschließende verbindliche SK-Einstufung festgelegt.

Statistik

Die statistische Auswertung erfolgte mit R (Version 3.6.1; The R Foundation for Statistical Computing, Vienna, Austria), Microsoft Excel (Version 2101; für Microsoft 365 MSO) und VassarStats: Website for Statistical Computation (Richard Lowry 1998–2021) [8]. Kontinuierliche Variablen wurden über Mittelwert und Standardabweichung beschrieben, für kategoriale Variablen wurden absolute und relative Häufigkeiten angegeben. Vergleiche der beiden Studiengruppen der traumatologischen und nichttraumatologischen Patienten erfolgten mittels t‑Tests bzw. Chi-Quadrat-Tests zu einem Signifikanzniveau von α = 0,05. Die Einstufung der Patienten in die drei Sichtungskategorien durch das MANV-MTS im Vergleich zum Referenzstandard wurde jeweils über die entsprechende zweidimensionale Kontingenztafel evaluiert. Im Fall von SK II wurde dabei sowohl eine Über- als auch Untertriage durch das MANV-MTS als „falsch“ gewertet. Berechnet wurden Sensitivität und Spezifität sowie der positive prädiktive Wert (PPW) und der negative prädiktive Wert (NPW) auf Basis der in der Literatur beschriebenen Prävalenzen. Ein Vergleich der in der Arbeit beobachteten Prävalenzen mit den in der Literatur beschriebenen Prävalenzen zeigte nur geringe Abweichungen (Tab. 1). Darüber hinaus wurden die Likelihood-Quotienten (LR+ und LR−) bestimmt.
Tab. 1
Prävalenzen der Sichtungskategorien (SK I–III). Gegenüberstellung der Prävalenzen aus der Literatur und der sich in der Studie tatsächlich darstellenden Prävalenzen [10]
Kategorie
Prävalenz Literatur
Tatsächliche Prävalenz
Gesamt
SK I
0,2
0,1467
SK II
0,3
0,3356
SK III
0,5
0,5178
Traumatologisch
SK I
0,2
0,1488
SK II
0,3
0,2419
SK III
0,5
0,6093
Nichttraumatologisch
SK I
0,2
0,1447
SK II
0,3
0,4213
SK III
0,5
0,4340
SK Sichtungskategorie

Ethische Aspekte

Die Studie erhielt die Genehmigung (Nr. 020/19) durch den Vorsitzenden der lokalen Ethikkommission (K. Racké, MD, PhD, Professor, Universität Bonn). Die aus dem klinischen Informationssystem gewonnenen Daten durften in Übereinstimmung mit dem Kodex für medizinische Ethik der Ärztekammer verwendet werden [9].
Darüber hinaus darf der Arzt, wie es die deutschen Datenschutzbestimmungen vorsehen, vorhandene Patientendaten für Analysen verwenden, ohne explizit die Zustimmung des Patienten einzuholen. Alle erhobenen klinischen Daten, die in dieser Studie ausgewertet wurden, wurden vor der Analyse vollständig anonymisiert. Das Studiendesign steht im Einklang mit der Deklaration von Helsinki [12].

Ergebnisse

Demografische Daten und Gruppenverteilung

Im Zeitraum vom 15.04.2019 bis 01.04.2020 konnten insgesamt 450 Patienten anhand des Präsentationsdiagramms „Massenanfall“ einer Sichtungskategorie (SK I–SK III) zugewiesen werden. Das Gesamtkollektiv ließ sich in 215 traumatologische und 235 nichttraumatologische Patienten aufteilen. Basischarakteristika und ein statistischer Vergleich der Studiengruppen sind in Tab. 2 dargestellt.
Tab. 2
Demografische Daten der untersuchten Kohorte und Klassifizierung in die Sichtungskategorien
 
Gesamtkollektiv (n = 450)
Traumatologisch (n = 215)
Nichttraumatologisch (n = 235)
Signifikanz
Demografie
Alter [MW ± SD]
58 ± 23
51 ± 25
65 ± 19
< 0,0001
Männlich [n/%]
252/56,00 %
135/62,79 %
117/49,79 %
0,0073
Sichtungskategorie
SK I [n/%]
66/14,67 %
32/14,88 %
34/14,47 %
1,0000
SK II [n/%]
151/33,56 %
52/24,19 %
99/42,13 %
< 0,0001
SK III [n/%]
233/51,78 %
131/60,93 %
102/43,40 %
0,0003
SK Sichtungskategorie, MW arithmetisches Mittel, SD Standardabweichung

Traumatologische Patienten

In der Gruppe der traumatologischen Patienten zeigte der Vergleich der MTS-Sichtungskategorie mit der Experteneinschätzung einen Konsens in 80 % der Fälle (n = 172) (Abb. 2). Eine Übertriage war in 15,35 % der Fälle (n = 33) zu verzeichnen. Die Experteneinstufung in SK III vs. die MTS-Einstufung in SK II war im Wesentlichen dadurch begründet, dass ein Extremitätenproblem vorlag und die Gehfähigkeit beeinträchtigt war. Eine Untertriage zeigte sich in 4,65 % der Fälle (n = 10). Fünf Mal klassifizierten die Experten den Patienten in SK I, das MTS Diagramm hingegen in SK II. Diese Diskrepanz war auf intraabdominale Verletzungen mit freier Flüssigkeit bzw. erheblichen Schädel-Hirn-Traumen mit Beeinträchtigung des Glasgow Coma Score (GCS) zurückzuführen. Fünf Mal kategorisierten die Experten den Patienten in SK II, das MTS-Diagramm hingegen in SK III. Hier wurde die Untertriage durch Verletzungen des Kopf-Hals-Bereiches sowie der oberen Extremitäten bedingt, resultierend ergab sich eine erhaltene Gehfähigkeit. Eine Über- bzw. Untertriage über zwei Sichtungskategorien in der Gruppe der traumatologischen Patienten lag nicht vor.
Die errechnete Sensitivität in der Kategorie SK I mit lebensbedrohlichen Verletzungen lag bei 84 %, die Spezifität bei 99 %. Der negative prädiktive Wert (NPW) lag bei 96 % und der positive (PPW) bei 95 %. Die positive Likelihood-Ratio (LR+) präsentierte sich bei 77,2, die negative (LR−) bei 0,16.
Für die Patienten SK II ergab sich eine Sensitivität von 87 %, die Spezifität lag bei 78 %. Der negative prädiktive Wert (NPW) belief sich auf 93 %, der positive (PPW) bei 63 %. Die positive Likelihood-Ratio (LR+) lag bei 3,9, die negative (LR−) bei 0,17.
Für die Patienten der SK III zeigte sich eine Sensitivität von 76 % und eine Spezifität von 94 %. Der negative prädiktive Wert (NPW) ist 80 %, der positive (PPW) 93 %. Die positive Likelihood-Ratio (LR+) lag bei 12,8, die negative (LR−) bei 0,25 (Tab. 3).
Tab. 3
Testgüte des Präsentationsdiagramms „Massenanfall“ in Abhängigkeit von Sichtungskategorien und dem betrachteten Patientenkollektiv
 
Sens.
Spez.
PPW
NPW
LR+
LR−
Sichtungskategorie I
Gesamtkollektiv
0,67
0,97
0,84
0,92
21,3
0,34
Traumatologisch
0,84
0,99
0,95
0,96
77,2
0,16
Nichttraumatologisch
0,5
0,95
0,72
0,88
10,1
0,53
Sichtungskategorie II
Gesamtkollektiv
0,62
0,75
0,52
0,82
2,5
0,5
Traumatologisch
0,87
0,78
0,63
0,93
3,9
0,17
Nichttraumatologisch
0,49
0,71
0,43
0,77
1,7
0,71
Sichtungskategorie III
Gesamtkollektiv
0,75
0,76
0,76
0,75
3,2
0,33
Traumatologisch
0,76
0,94
0,93
0,8
12,8
0,25
Nichttraumatologisch
0,73
0,65
0,68
0,7
2,1
0,42
Sens. Sensitivität, Spez. Spezifität, PPW positiver prädiktiver Wert, NPW negativer prädiktiver Wert, LR+ positive Likelihood-Ratio, LR− negative Likelihood-Ratio

Nichttraumatologische Patienten

235 Patienten wurden in die Studie als nichttraumatologische Patienten eingeschlossen. Hier kam es in der Gegenüberstellung der MTS-Sichtungskategorien mit der Experteneinschätzung in 59,57 % (n = 140) zu einer Übereinstimmung (Abb. 3). Eine Übertriage in höhere Sichtungskategorien zeigte sich insgesamt in 15,75 % (n = 37) der Fälle, wobei in 36 Fällen um eine Stufe übertriagiert wurde. Innerhalb dieser 36 Fälle konnte am häufigsten die Experteneinstufung in SK III vs. die MTS Einstufung in SK II beobachtet werden. Diese Übertriage war im Wesentlichen an Krankheitsbilder geknüpft, die mit einer körperlichen Schwäche, meist mit vielen chronischen Komorbiditäten assoziiert, einhergingen und somit die Gehfähigkeit kompromittierten, jedoch keine schwere akute Erkrankung mit sich brachten. Überdies hatte die Atemfrequenz, z. B. bei assoziierten Schmerzen, einen Einfluss auf die Übertriage. In einem Fall wurde um zwei Stufen übertriagiert (Experten SK III/MTS SK I). Hierbei handelte es sich um einen Patienten mit psychogenem Krampfanfall und hoher Atemfrequenz. Eine Untertriage wurde in 24,68 % (n = 58) beobachtet, in 53 Fällen um eine Stufe und in fünf Fällen um zwei Stufen. Wesentlicher Trigger der Untertriage von SK II in SK III war hier die Gehfähigkeit, die bei dieser Patientengruppe mit z. B. hypertensiver Entgleisung und akutem Koronarsyndrom erhalten war. Die weitere Analyse der Untertriage zeigte, dass häufig Patienten mit Atemwegs- und Kreislauferkrankungen, akutem Koronarsyndrom, Z. n. epileptischem Anfall, Herzrhythmusstörungen, Aortendissektion oder Vigilanzminderung aufgrund Mischintoxikation initial als nicht kritisch eingestuft wurden, da die im MTS-MANV zu erfassenden Vitalparameter innerhalb des Referenzbereichs lagen und es somit keine Indikation für die Einordnung in SK I gab. Diese Patienten wurden durch das System deshalb in SK II untertriagiert, obwohl weitere Vitalparameter wie der Blutdruck und die Einschätzung der Vigilanz mittels GCS auf einen kritischen Patienten hindeuteten, jedoch im MTS-Diagramm keine Beachtung fanden.
Statistisch ergab sich in der SK I der nichttraumatologischen Patienten eine errechnete Sensitivität von 50 %, die Spezifität lag bei 95 %. Der negative prädiktive Wert (NPW) lag bei 88 % und der positive (PPW) bei 72 %. Die positive Likelihood-Ratio (LR+) war bei 10,1, die negative (LR−) bei 0,53.
Für die Patienten der SK II konnte eine Sensitivität von 49 % errechnet werden, wobei die Spezifität bei 71 % lag. Der negative prädiktive Wert (NPW) lag bei 77 %, der positive (PPW) bei 43 %. Die positive Likelihood-Ratio (LR+) war bei 1,73, die negative (LR−) bei 0,71.
Für die Patienten der SK III ergab sich im Kollektiv eine Sensitivität von 73 % und eine Spezifität von 65 %. Der negative prädiktive Wert (NPW) lag bei 70 %, der positive (PPW) bei 68 %. Die positive Likelihood-Ratio (LR+) war bei 2,1, die negative (LR−) bei 0,42 (Tab. 3).

Gesamtkollektiv

Im Gesamtkollektiv bei den insgesamt 450 Patienten zeigte die Gegenüberstellung der MTS-Sichtungskategorien mit der Expertenmeinung eine Übereinstimmung in 69,33 % (n = 312). Bei 15,56 % (n = 70) stellte sich eine Übertriage dar, eine Untertriage lag in 15,11 % (n = 68) der Fälle vor. Die Testgüte des Gesamtkollektivs in den drei Sichtungskategorien ist in Tab. 3 dargestellt.

Diskussion

Die vorgelegte Arbeit untersuchte erstmalig das Präsentationsdiagramm „Massenanfall“, welches im Vergleich zu den übrigen 53 Präsentationsdiagrammen im MTS nicht die Zeit bis zum spätesten Arztkontakt festlegt, sondern möglichst vielen Patienten bei begrenzten Ressourcen eine bestmögliche Versorgung ermöglichen soll. Ein weiterer Unterschied zur klassischen Ersteinschätzung ist, dass als erstes Entscheidungskriterium nicht der Schwerstbetroffene identifiziert wird, sondern der am wenigsten betroffene Patient detektiert werden soll. Unsere Ergebnisse liefern einen Beitrag in der Versorgungsforschung eines bisher nur wenig untersuchten Forschungsgebiets. Die Arbeit trifft eine Aussage zur Güte des Diagramms bei Anwendung durch eine Pflegekraft. Es zeigte deutlich, dass es einen Unterschied in der Sichtung zwischen traumatologischen und nicht-traumatologischen Patienten gab, und bietet somit einen Ausganspunkt zur weiteren Entwicklung und Standardisierung von Sichtungsalgorithmen für die klinische Sichtung.
Die Literaturrecherche zum Thema klinische Sichtung lenkte den Blick auf zwei Studien aus den Jahren 1996 und 2012, die sich mit den Sichtungsalgorithmen „SAVE“ (Secondary Assessment of Victim Endpoint) und „SORT“ (engl: sortieren) beschäftigten. Der SAVE-Algorithmus beinhaltet physiologische Parameter, welche in einer komplexen Formel mit anatomischen Verletzungen kombiniert werden [13, 16]. Er kalkuliert zur Ermittlung einer Sichtungskategorie für jeden Patienten den potenziellen Nutzen von medizinischen Maßnahmen, notwendige Ressourcen und die Überlebenswahrscheinlichkeit. Kleber et al. bezeichneten den SAVE-Algorithmus als zu komplex. Für die Ersteinschätzung von Patienten in der Klinik ist er ihrer Meinung nach zu zeitaufwändig und wenig praktikabel [14]. Der SORT-Algorithmus wurde abgeleitet vom Triage Revised Trauma Score (T-RTS), der ursprünglich in den 1980er-Jahren in den USA entwickelt wurde, um diejenigen Patienten zu identifizieren, die in ein großes Traumazentrum verlegt werden mussten. Zur Verwendung der Triage-Sortierung werden drei physiologische Variablen bewertet und mit einem Score versehen. Die Summe dieser drei Scores wird dann zur Ableitung der Triagekategorie verwendet. Auch dieser Algorithmus erschien sehr aufwendig und komplex [5, 14, 16].
Im Jahr 2019 wurde die Arbeit von Kleber et al. zum Berliner Sichtungsalgorithmus publiziert. Die Autoren präsentierten einen speziell für die klinische Sichtung entwickelten, validierten und im Echteinsatz bewährten Algorithmus. Der Algorithmus berücksichtigt neben Verletzungen auch internistische und neurologische Krankheitsbilder. Die Einbettung von infektiologischen Symptomen und Toxidromen soll auch den Einsatz speziell in Pandemie‑, CBRN- (chemische, biologische, radiologische und nukleare Stoffe) und terroristischen Gefahrenlagen ermöglichen [14].
Mit dem Erscheinen der vierten überarbeiteten und erweiterten Auflage des Manchester-Triage-System steht dem Nutzer erstmalig ein Präsentationsdiagramm „Massenanfall“ zur Verfügung [15]. Es ist davon auszugehen, dass das MTS in deutschen ZNA integraler Bestandteil des Krankenhausinformationssystems (KIS) ist bzw. dessen Anwendung in einem Subsystem erfolgt. Dies bedeutet einerseits einen täglichen Umgang mit geringem Schulungsaufwand, und andererseits kann die Nutzung des Präsentationsdiagramms „Massenanfall“ z. B. bei einem Großschadensereignis sofort ohne Hinzuziehen anderer logistischer Strukturen erfolgen. Ein weiterer Vorteil wäre die räumliche Zuteilung und Visualisierung der SK I–III-Patienten in der gewohnten Dashboardübersicht in der ZNA. In diesem Kontext ist die Triage am Sichtungspunkt durch eine Pflegekraft zu beleuchten. Auch wenn sich in der 8. Sichtungs-Konsensuskonferenz alle Experten dafür aussprachen, dass die Beurteilung und Entscheidung über die Priorität der innerklinischen medizinischen Versorgung, also die standardisierte Zuweisung einer Sichtungskategorie, eine ärztliche Aufgabe darstellt, kann nach Meinung der Autoren eine Sichtung durch eine Pflegekraft auch Vorteile bieten. Pflegekräfte sind geübt im tagtäglichen Umgang mit der Ersteinschätzung von Patienten. Dieser Aspekt rückt umso mehr in den Vordergrund, weil die Kennzeichnung von toten Patienten („schwarz“) bzw. eine abwartende Haltung („blaue“ Patienten) nicht am Sichtungspunkt erfolgt und die Etablierung eines leitenden Arztes der Sichtung (LArS) als Unterstützung empfohlen wird [18].
Es fiel auf, dass der Algorithmus aufgrund der Entscheidungskriterien schnell zu einem Klassifizierungsergebnis (SK I, II oder III) führte. Dies wurde insbesondere deutlich in der Klassifizierung der gehfähigen Patienten, die nur wenige Sekunden in Anspruch nahm. Selbst wenn die Rekapillarisierungszeit bzw. die Atemfrequenz in der SK I erhoben werden musste, lag die gesamte Untersuchungszeit des Patienten deutlich unter einer Minute. Entscheidend für die klinische Sichtung ist allerdings die Zuverlässigkeit des Sichtungsalgorithmus, einem Notfallpatienten die richtige Sichtungskategorie zuzuordnen, hier insbesondere die SK I. In der Gruppe der traumatologischen Patienten zeigte sich eine Zuordnung zur SK I mit einer Sensitivität von 84 % und einer Spezifität von 99 %, sodass hier von einer sehr zuverlässigen Identifikation Schwerstverletzter ausgegangen werden kann. Hervorzuheben war hierbei die Testgüte des Algorithmus für SK I-Patienten mit einer Likelihood-Ratio (LR+) von 77. Der Berliner Sichtungsalgorithmus zeigte in dieser Gruppe eine Sensitivität von 75 %, eine Spezifität von 97 % und eine LR+ von 25 [14]. Die Zuordnung der leicht verletzten Patienten (SK III) mit einer Sensitivität von 76 % erschien dagegen als nicht ausreichend valide. Betrachtet man die von uns ermittelte Rate an Übertriagierungen mit ca. 15 %, stellt dies im Literaturvergleich einen guten Wert dar [14]. Frykberg et al. konnte zeigen, dass je Prozent der Übertriagierung die beobachtete Mortalität der Verletzten um 0,5 % stieg [6]. Hervorzuheben war, dass eine relevante Menge durch die Experten in SK III, durch das Diagramm „Massenanfall“ aber in SK II eingestuft wurden. Kleber et al. sahen die Begründung in der Diskriminante der „Gehfähigkeit“ an der Spitze des Algorithmus, die ihrer Meinung nach keine verlässliche Allokation zu einer medizinischen Behandlungspriorität zulässt. „Gehfähige“ Patienten können in der Klinik sowohl Patienten mit akut lebensbedrohlichen Erkrankungen oder Verletzungen sein als auch Bagatellverletzungen aufweisen [14]. Sollte allerdings wirklich nur eine leichte Verletzung vorliegen und die Kategorie SK III am Ende des Algorithmus als Ausschlusskriterium stehen, kann dies auch von Nachteil sein. Die sehr geringe Untertriage zwischen Patienten der SK I und SK III zeigte, dass es bei wirklich leicht Verletzten nicht sinnvoll ist, zunächst die SK I- und SK II-Kriterien zu prüfen. Dies würde deutlich mehr Zeit für die nicht vital bedrohten Patienten erfordern und bezugnehmend auf die vorliegenden Zahlen nur für die absolute Minderheit der Patienten einen Mehrwert bringen. Die sehr geringe Untertriagierungsrate von 4,6 % bei den traumatologischen Patienten wies im internationalen Vergleich mit Raten von bis zu 47 % einen exzellenten Wert auf [2].
Wie diese Arbeit empirisch zeigte, unterschieden sich traumatologische und nichttraumatologische Krankheitsbilder hinsichtlich der erreichbaren Trennschärfe in den jeweiligen Sichtungskategorien. Bei den nichttraumatologischen Patienten waren unsere Ergebnisse deckungsgleich mit der Arbeit von Heller et al. [7]. Auch wenn Heller et al. die Validität von Vorsichtungsalgorithmen untersuchten, konnten diese Ergebnisse für die Diskussion herangezogen werden. Heller et al. untersuchten in einer wissenschaftlichen Arbeit internationale Vorsichtungsverfahren hinsichtlich Sensitivität und Spezifität sowie ihres Zeitbedarfs in einem notfallmedizinisch relevanten Patientengut. Ihre Schlussfolgerung war, dass die Identifikation internistischer Krankheitsbilder nur ungenügend war [7]. Heller et al. machten unter anderem die starre Festlegung der „Cut-off“-Werte der Vitalparameter dafür verantwortlich [7].
Offensichtlich fehlt dem Diagramm „Massenanfall“ bei nichttraumatologischen Krankheitsbildern eine Diskriminierung, welche symptomorientiert ausgerichtet ist. Passende Parameter wie Atemfrequenz, Herzfrequenz und Rekapillarisierungszeit für traumatologische Verletzungen sind nur schlecht auf nichttraumatologische Krankheitsbilder übertragbar.
Die Diskriminante „Gehfähigkeit“ bei nichttraumatologischen Krankheitsbildern führte in unserem Kollektiv sowohl zu einer Übertriage als auch zu einer Untertriage. Die Untertriage präsentierte sich durch Krankheitsbilder, die als schwerwiegend einzuordnen waren, während die Gehfähigkeit der Patienten jedoch erhalten war. In Relation zum validierten Berliner Sichtungsalgorithmus zeigt sich, dass z. B. in der Stufe SK II zur Evaluation von Patienten mit schwerer Verletzung/Erkrankung Symptome wie „Brustschmerz, Atemnot, Schwindel und Übelkeit“ abgefragt werden [14]. Bezugnehmend auf eine Vigilanzstörung existiert im Diagramm „Massenanfall“ zwar eine Diskriminierung über die Gehfähigkeit, diese fehlt jedoch in der weiteren Differenzierung zwischen der SK II und SK III. Dieser Zusammenhang betraf sowohl traumatologische als auch nichttraumatologische Patienten.
Letztendlich sind neben der Auswahl der Vitalparameter auch die hinterlegten Referenzbereiche zu diskutieren. Vasallo et al. ermittelten unter Verwendung von aufgezeichneten physiologischen Daten von Vitalparametern des UK Joint Theater Trauma Registry (JTTR) mittels binärer logistischer Regressionsmodelle optimale physiologische Bereiche zur Vorhersage des Bedarfs an lebensrettenden Maßnahmen. Konsekutiv wurde das Modified Physiological Triage Tool (MPTT) entwickelt [17]. Vergleicht man das MPTT mit dem Diagramm „Massenanfall“ des MTS, so fällt auf, dass auch hier die „Gehfähigkeit, die Atmung/Atemfrequenz und die Herzfrequenz“ als Diskriminanten enthalten sind. Die Rekapillarisierungszeit fehlt allerdings, stattdessen ist der GCS abgebildet. Hiermit würde ein Lösungsansatz unseres evaluierten Problems bezüglich der Vigilanzstörung aufgezeigt werden. Vergleicht man die mittels binärer logistischer Regression ermittelten Cut-off-Werte der Vitalparameter des MPTT mit dem Diagramm „Massenanfall“, so fällt auf, dass der Maximalwert der Herzfrequenz in SK I im MPTT bei 100/min liegt anstatt 120/min beim MTS. Die Atemfrequenz im MPTT bei der SK I ist < 12 oder > 22, im MTS „Massenanfall“ ist sie < 10 oder > 29, wodurch ein wesentlich weiterer Korridor entsteht. Da die Sensitivität bei traumatologischen Patienten der SK I sehr gut war, würde eine Modifikation der Cut-off-Werte im MTS keinen Vorteil bedeuten. Anders sieht es allerdings bei den nichttraumatologischen Patienten aus, konkret bei den Patienten, die nach Expertenmeinung SK I waren und vom MTS Diagramm „Massenanfall“ in SK II eingestuft wurden. Da die vorliegende Arbeit als primäres Ziel die Validitätsprüfung des MTS-Diagramms „Massenanfall“ hatte, sollten ggf. weitere Studien folgen, die das Verbesserungspotenzial wissenschaftlich evaluieren. Eine Güteprüfung bei Triagesystemen konzentriert sich immer auch auf die Reliabilität (Inter-Rater) und liegt nach Meinung der Autoren in einem weiteren wissenschaftlichen Betätigungsfeld.

Limitationen

Die vorgelegte Studie hat einige Limitationen. Der monozentrische Charakter der Studie und somit unterschiedliche Versorgungsschwerpunkte im Hinblick auf das traumatologische und nichttraumatologische Verletzungs- bzw. Erkrankungsmuster könnten eine Verzerrung mit sich bringen. Die Durchführung der Arbeit erfolgte allerdings an einem Haus der Maximalversorgung, wodurch sich dies als Einfluss von geringem Ausmaß darstellte. Des Weiteren konnte eine Verzerrung in der Anwendung des Präsentationsdiagramms durch die Pflegekraft selbst bestehen. Auch wenn die Pflegekräfte angehalten wurden, die Triage mittels „Massenanfall-Diagramm“ getrennt von der eigentlichen Ersteinschätzung mittels MTS durchzuführen, ließ sich eine Beeinflussung durch das Ersteinschätzungsergebnis nicht gänzlich ausschließen. Eine anzuführende Stärke im Vergleich zu anderen wissenschaftlichen Untersuchungen war, dass die Festlegung der SK durch die Pflegekräfte an einem Kollektiv mit echten Patienten stattfand. Methodisch nicht anders durchführbar, erfolgte allerdings die Festlegung der Referenzeinstufungen durch die Experten im Rahmen des Delphi-Verfahrens anhand von Vignetten.

Schlussfolgerungen

Die vorgelegten Ergebnisse der Studie zeigten sehr deutlich, dass das Präsentationsdiagramm „Massenanfall“ des Manchester-Triage-Systems in kürzester Zeit zu einem Triageergebnis kam. Traumatologische Patienten mit lebensbedrohlichen Verletzungen wurden treffsicher identifiziert. Es wurde aber auch deutlich, dass die Diskriminante „Gehfähigkeit“ bzw. rein physiologische Entscheidungskriterien mit einer schlechten Testgüte einhergingen. In der vorgelegten Untersuchung wurden nichttraumatologische Patienten nicht ausreichend zuverlässig einer Sichtungskategorie zugeordnet. Aus Sicht der Autoren zeigte sich deutlich, dass die Kombination aus Symptomen, anatomischen und physiologischen Diskriminanten in einem Sichtungsalgorithmus die Güte der klinischen Sichtung erheblich verbessern würde. Neben den Effekten, die alleine aus dem Aufbau des Algorithmus resultieren, müssen Erfahrung und Routine im Umgang mit dem Algorithmus ebenso berücksichtigt werden. Konkurrierend steht der „Aufwand“ und somit die Anwendungsdauer einer zügigen Sichtung am Sichtungsplatz gegenüber. Möglicherweise stellt eine Kombination aus schneller, ausreichend valider Sichtung am Sichtungsplatz mit einer zeitnahen ebenfalls standardisierten Zweitsichtung in den einzelnen Sichtungsbereichen eine Lösung dar. Die gilt es in weiteren Studien zu untersuchen. Auffallend ist, dass sich die Studien zur Triage sehr auf die Validität der Systeme konzentrierten. Vergessen werden darf dabei allerdings nie, dass Sichtungsalgorithmen folgende Bedingungen erfüllen müssen: Sie müssen schnell, verlässlich, reproduzierbar, leicht anzuwenden und einfach zu lehren sein!

Fazit für die Praxis

  • Der Algorithmus ist leicht und schnell anzuwenden und ist reproduzierbar.
  • Er identifiziert traumatologische Patienten mit lebensbedrohlichen Verletzungen treffsicher.
  • Rein physiologische Entscheidungskriterien und die Diskriminante der Gehfähigkeit zu Beginn der Sichtung gehen mit einer schlechten Testgüte einher.
  • Nichttraumatologische Krankheitsbilder werden qualitativ ungenügend kategorisiert.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

M. Kogej, M. Kern, P. Tralls, M. Berger und I. Gräff geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. I. Gräff und P. Tralls haben auf den Konsensuskonferenzen des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) die Deutsche Gesellschaft für interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin e. V. (DGINA) als Mandatsträger vertreten.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Metadaten
Titel
Das Präsentationsdiagramm „Massenanfall“ des Manchester-Triage-Systems
Eine prospektive Untersuchung bei traumatologischen und nichttraumatologischen Patienten
verfasst von
Monika Kogej
Melina Kern
Patric Tralls
Moritz Berger
PD Dr. med. Ingo Gräff, DESA
Publikationsdatum
04.08.2021
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Notfall + Rettungsmedizin / Ausgabe 6/2023
Print ISSN: 1434-6222
Elektronische ISSN: 1436-0578
DOI
https://doi.org/10.1007/s10049-021-00937-2

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