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Open Access 03.01.2024 | Originalien

Patientenorientierte Planungskriterien für die Logistik in der Notfallrettung

verfasst von: Sven Watzinger, Christoph Nießner, Cornelia Schutz, Daniel Groß, Daniel Schmitz, Jan-Philipp Stock, Manuel Fabrizio, Patrick Frey, Richard Böhm, Stefan Sebold, Torsten Ade, Stefan Nickel

Erschienen in: Notfall + Rettungsmedizin

Zusammenfassung

Hintergrund

Die Hilfsfrist als zentrales Planungskriterium für logistische Fragestellungen in der Notfallrettung wird seit Jahren kritisch hinterfragt. Wesentliche Kritikpunkte sind die fehlende Differenzierbarkeit unterschiedlicher Notfallbilder und die binäre Betrachtung der Hilfsfristeinhaltung, die den tatsächlichen Verlauf des Patientenzustands nicht widerspiegelt.

Ziel der Arbeit

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, Planungskriterien zu entwickeln, die eine differenziertere Berücksichtigung der Patientenbedürfnisse ermöglichen, als dies bei der Hilfsfrist der Fall ist. Hierzu sollen Patientenkategorien definiert werden. Für jede Kategorie soll eine Nutzenfunktion festgelegt werden, die den Verlauf des Nutzens aus Patientensicht abhängig von den Zeiten im Einsatzverlauf erfasst.

Material und Methoden

Zur Definition der Kategorien und Nutzenfunktionen wurden Workshops mit Notfall- und Intensivmedizinern sowie Vertretern aus Leitstellen und den Leistungsträgern im Rettungsdienst in Baden-Württemberg durchgeführt. Datenseitig wurden die Diagnosen des Minimalen Notfalldatensatzes MIND4.0 sowie landesweit konsentierte Einsatzstichwörter mit den Kategorien verknüpft.

Ergebnisse

Es wurden sechs Patientenkategorien und zwei zusätzliche Einsatzkategorien erarbeitet. Für die Patientenkategorien wurden Nutzenfunktionen geschätzt, die den Nutzen aus Patientensicht je nach Kategorie abhängig von der Eintreff- oder der Prähospitalzeit widerspiegeln.

Diskussion

Durch die Kategorien und Nutzenfunktionen können Patientenbedürfnisse besser in der logistischen Planung berücksichtigt werden. Die Aussagekraft der Nutzenfunktionen kann durch die Messung des Outcomes jedes Patienten und die Rückkopplung von Daten aus den Notaufnahmen zukünftig weiter erhöht werden.

Graphic abstract

Hinweise

Zusatzmaterial online

Die Online-Version dieses Beitrags (https://​doi.​org/​10.​1007/​s10049-023-01254-6) enthält eine Zusammenstellung der Workshopzusammensetzung und des Verlaufs.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Hintergrund und Fragestellung

Die Hilfsfrist als Planungskriterium für die logistische Planung der Notfallrettung steht seit Jahren in der Diskussion. Ein zentraler Kritikpunkt ist, dass mit einer undifferenzierten Hilfsfrist nicht zwischen den Anforderungen verschiedener Notfallbilder unterschieden werden kann. Weiterhin stellt die binäre Betrachtung der Einhaltung einer Hilfsfrist keine gute Repräsentation des Verlaufs des Patientenzustands über die Zeit dar. In diesem Beitrag wird aufgezeigt, wie Planungskriterien aussehen können, die diese beiden Kritikpunkte auflösen.
Ziel der Notfallrettung ist es, Patienten mit akuten gesundheitlichen Bedrohungen zu helfen. Dieses Ziel wird durch differenzierte Qualitätsziele konkretisiert. Bei Lebensgefahr ist das vorrangige Qualitätsziel, das Überleben sicherzustellen. Wenn keine vitale Gefährdung besteht, aber bleibende gesundheitliche Schäden drohen, ist das vorrangige Qualitätsziel, diese Schäden zu verringern. Die Erreichbarkeit der Qualitätsziele wird durch zwei wesentliche Faktoren beeinflusst:
  • Die Qualität der medizinischen Versorgung
  • Die Zeit bis zum Beginn der medizinischen Versorgung
Im Folgenden liegt der Fokus auf der Zeit bis zum Beginn der medizinischen Versorgung. Die für den medizinischen Verlauf entscheidende Versorgung kann nicht immer am Einsatzort erfolgen. Bei gewissen Notfallbildern, wie einem Schlaganfall, kann sie erst in einem geeigneten Krankenhaus erfolgen. Die Zeit bis zum Beginn der Versorgung wird vorrangig durch logistische Entscheidungen beeinflusst. Dazu zählen beispielsweise die Standortplanung der Rettungswachen oder die Dispositionsentscheidung [14, 16]. Diese Entscheidungen sollten so getroffen werden, dass die resultierenden Zeiten die Erreichbarkeit der Qualitätsziele positiv beeinflussen. Dafür sollten die zugrunde liegenden Planungskriterien den Einfluss der Zeit auf das jeweilige Qualitätsziel widerspiegeln.
Aktuell ist eine undifferenzierte Hilfsfrist in Deutschland das zentrale Planungskriterium. Die genauen Vorgaben unterscheiden sich dabei zwischen den Bundesländern [18]. Eine Planung, die allein auf der Einhaltung einer Hilfsfrist basiert, impliziert die Annahme, dass ein Einhalten der Hilfsfrist das Erreichen der Qualitätsziele ermöglicht, während ein Überschreiten dies verhindert. Den Autoren ist keine Evidenz bekannt, welche diese Annahme unabhängig von der Notfallsituation bestätigt. Im Wesentlichen lassen sich zwei Schwachpunkte der Hilfsfrist festhalten:
  • Mit einer undifferenzierten Hilfsfrist kann nicht zwischen den heterogenen Anforderungen unterschiedlicher Notfallbilder unterschieden werden.
  • Eine binäre Betrachtung der Einhaltung einer Hilfsfrist spiegelt nicht wider, wie sich die Erreichbarkeit der Qualitätsziele im Zeitverlauf kontinuierlich verändert.
Ansätze für eine Differenzierung finden sich bereits in Rettungsdienstsystemen [12, 16]. Mit diesen Ansätzen kann zwischen unterschiedlichen Notfallsituationen unterschieden werden, eine kontinuierliche Betrachtung ist jedoch nicht gegeben.
In der Literatur finden sich Ansätze für eine kontinuierliche Betrachtung. Sie basieren auf Untersuchungen der Überlebenswahrscheinlichkeit von Patienten mit Herz-Kreislauf-Stillstand abhängig vom Beginn der Wiederbelebungsmaßnahmen [4, 10]. Aus diesen Studien lassen sich sogenannte Überlebensfunktionen ableiten, die den Verlauf der Überlebenswahrscheinlichkeit abhängig von der Eintreffzeit des Rettungsdiensts abschätzen (s. Abb. 1). Diese Überlebensfunktionen werden in der Literatur zur Standortplanung [2, 11] und für Dispositionsentscheidungen genutzt [1, 3]. Mit Überlebensfunktionen kann die kontinuierliche, nichtlineare Veränderung des Patientenzustands in der Planung berücksichtigt werden. Die Funktionen basieren allerdings ausschließlich auf der Betrachtung von Menschen mit Herz-Kreislauf-Stillstand. Es ist bisher in vielen Fällen unklar, in welcher Weise die Eintreffzeit das Behandlungsergebnis auch bei anderen Notfallbildern beeinflusst.
Im Rahmen des Forschungsprojekts „Entwicklung und Validierung von Planungskriterien für rettungsdienstlich relevante Strukturen als Grundlage für eine landeseinheitliche Planungsmethodik im Rettungsdienst in Baden-Württemberg unter besonderer Berücksichtigung logistischer Aspekte“ (EVRALOG-BW) wird untersucht, wie eine Differenzierung von Notfallbildern mit einer kontinuierlichen Betrachtung in Planungskriterien kombiniert werden kann. In einem nächsten Schritt sollen die entwickelten Planungskriterien in neue Planungsansätze überführt und mit historischen Einsatzdaten simulativ validiert werden [15, 21]. Das Forschungsprojekt EVRALOG-BW wird unter Leitung von Prof. Dr. Stefan Nickel am Health Care Lab des Karlsruher Instituts für Technologie in Kooperation mit der Stelle zur trägerübergreifenden Qualitätssicherung im Rettungsdienst Baden-Württemberg (SQR-BW) durchgeführt. Gefördert wird das Projekt durch das Ministerium des Inneren, für Digitalisierung und Kommunen Baden-Württemberg.

Studiendesign und Untersuchungsmethoden

Um den Einfluss der Zeit vom Notfallereignis bis zum Beginn der Versorgung auf das Behandlungsergebnis zu quantifizieren, bietet sich eine datenbasierte Herangehensweise analog zur Erstellung der Überlebensfunktionen an. Dafür muss für jedes Notfallbild eine quantitative Größe definiert und gemessen werden, die das Outcome erfasst. Durch Analysen des Zusammenhangs zwischen Zeiten im Einsatzverlauf und dieser Größe kann der Einfluss der Zeit auf das Outcome quantifiziert werden. Nach heutigem Stand sind derartige Größen nicht für alle Notfallbilder definiert. Zudem fehlt oftmals eine Rückkopplung von Daten aus den Krankenhäusern, um den Zustand aller Patienten am Ende des Behandlungspfads zu messen.
Daher wurden im Forschungsprojekt Kategorien und Nutzenfunktionen auf Basis von Expertenwissen erarbeitet. Die Nutzenfunktionen erfassen für jede Kategorie, wie sich der Nutzen aus Patientensicht über die Zeit verändert. Dafür wurden Workshops mit Intensiv- und Notfallmedizinern sowie mit Vertretern aus Leitstellen und Leistungsträgern im Rettungsdienst Baden-Württemberg durchgeführt. Nähere Informationen zu den Qualifikationen der Experten finden sich im Online-Anhang. Das Vorgehen lässt sich in die folgenden Schritte unterteilen:
1.
Definition von Patientenkategorien
 
2.
Mapping der MIND-Diagnosen zu den Kategorien
 
3.
Mapping der landesweit konsentierten Einsatzstichwörter in Baden-Württemberg zu den Kategorien
 
4.
Erstellen der Nutzenfunktionen
 

Definition von Patientenkategorien

Die Patientenkategorien wurden in einem explorativen Workshop durch die beteiligten Intensiv- und Notfallmediziner erarbeitet. Für die Kategorien wurden vorrangig zwei Dimensionen betrachtet: Die zeitliche Dringlichkeit und der relevante Zeitabschnitt der Rettungskette. Anhand der Dringlichkeit wird unterschieden, wie groß der Einfluss der Zeit auf das Outcome ist. Der relevante und derzeit messbare Zeitabschnitt ist entweder die Eintreff- oder die Prähospitalzeit. Die Wahl hängt davon ab, ob die Behandlung, mit der das vorrangige Qualitätsziel erreicht wird, am Einsatzort oder erst im Krankenhaus erfolgen kann. Auf die resultierenden acht Kategorien wird in Abschn. Patienten- und Einsatzkategorien eingegangen.

Mapping der MIND-Diagnosen

Im zweiten Schritt wurde ein Mapping der Diagnosen des Minimalen Notfalldatensatzes MIND4.0 Version 1.0 [7] zu den Kategorien vorgenommen. Dies ermöglicht eine retrospektive Kategorisierung der Patienten in den historischen Einsatzdaten im Datenmodell der SQR-BW, auf der im weiteren Projektverlauf aufgebaut werden kann. Weiterhin dient das Mapping zur Validierung der Kategorien, indem überprüft wird, ob alle Diagnosen kategorisiert werden können.

Mapping der Einsatzstichwörter

Parallel zum Mapping der Diagnosen fanden Workshops zum Mapping der landesweit konsentierten Einsatzstichwörter für die Verwendung zur externen Qualitätssicherung bei der SQR-BW [19] zu den Kategorien statt. Ziel war es, zum einen die Nutzbarkeit der Kategorisierungssystematik im Rahmen des Notrufgesprächs zu untersuchen. Zum anderen kann durch das Mapping in den historischen Einsatzdaten eine Annahme dazu getroffen werden, welcher Einsatz mit welcher Kategorie disponiert worden wäre. Dies kann im weiteren Projektverlauf als Grundlage für simulative Untersuchungen dienen.

Erstellen der Nutzenfunktionen

Für einzelne Notfallbilder können zeitliche Maßgaben aus der Literatur abgeleitet werden [46, 8, 17]. Ohne Datengrundlage für alle Notfallbilder ist eine Modellierung von Nutzenfunktionen jedoch nicht evidenzbasiert möglich. Der Anspruch im Rahmen von EVRALOG-BW ist daher nicht, endgültige Nutzenfunktionen zu erstellen, sondern vorhandenes Expertenwissen so zu formalisieren, dass die Bedürfnisse der Patienten in der logistischen Planung besser berücksichtigt werden können als durch eine Hilfsfrist.
Die Aussagen, die im Forschungsprojekt über den Nutzen aus Patientensicht getroffen werden konnten, haben die folgende beispielhafte Form: „Patienten aus Kategorie X haben einen großen Nutzen von einer Eintreffzeit kleiner 5 min. Bei einer Eintreffzeit zwischen 5 und 10 min liegt ein mittlerer Nutzen vor. Eine Eintreffzeit über 10 min führt zu geringem Nutzen.“ Um diese Informationen strukturiert zu erfassen, wurden bei den Workshopteilnehmern für jede Kategorie die zeitlichen Intervalle sowie der zugehörige Nutzen auf einer Skala von 0 (geringster Nutzen) bis 1 (höchster Nutzen) zu Beginn und Ende jedes Intervalls abgefragt. Durch die Interpolation von sogenannten Splines [9] können aus jeder Rückmeldung kontinuierliche Kurven abgeleitet werden (s. Abb. 2). Aus den Splines wurde anschließend mithilfe von nichtlinearer Regression eine Durchschnittsfunktion ermittelt, welche die letztendliche Nutzenfunktion darstellt (s. Abb. 3).

Ergebnisse

Patienten- und Einsatzkategorien

Die erarbeiteten Kategorien sind in Tab. 1 aufgeführt.
Tab. 1
Patienten- und Einsatzkategorien
Kategorie
Kurzbeschreibung
Art
Kategorie 1
Lebensgefahr mit Interventionsmöglichkeit am Einsatzort
Patientenkategorie
Kategorie 2
Lebensgefahr ohne Interventionsmöglichkeit am Einsatzort
Patientenkategorie
Kategorie 3
Krankheitsbilder mit zeitnah erforderlicher Therapie. Nicht ausschließbare Gefahr für gesundheitliche Schäden. Interventionsmöglichkeit am Einsatzort
Patientenkategorie
Kategorie 4
Krankheitsbilder mit zeitnah erforderlicher Therapie. Nicht ausschließbare Gefahr für gesundheitliche Schäden. Keine Interventionsmöglichkeit am Einsatzort
Patientenkategorie
Kategorie 5
Progrediente Verschlechterung eines bestehenden medizinischen Problems
Patientenkategorie
Kategorie 6
Psychosoziale Notfälle, sozialmedizinische Notfälle
Patientenkategorie
Kategorie 7
Bereitstellung (z. B. Brand, polizeiliche Lagen, Gefahrenmeldeanlagen), jeweils ohne Patientenkontakt
Einsatzkategorie
Kategorie 8
Krankentransporte
Einsatzkategorie

Patientenkategorien

Kategorie 1 erfasst Patienten, die akut lebensbedrohlich erkrankt oder verletzt sind und bei denen noch am Einsatzort durch das Rettungsteam durchgeführte Interventionen zu einer entscheidenden kausalen Veränderung des Krankheitsverlaufs führen können. Hierzu zählen etwa Herz-Kreislauf-Stillstand, Status epilepticus oder lebensbedrohliches Thorax- oder Extremitätentrauma. Bei Patienten der Kategorie 1 weist die Zeit einen großen Einfluss auf den Nutzen auf. Der relevante Zeitabschnitt ist vorrangig die Eintreffzeit.
In Kategorie 2 fallen Patienten, die akut lebensbedrohlich erkrankt oder verletzt sind und bei denen der Krankheitsverlauf nicht durch eine Intervention am Einsatzort kausal wesentlich beeinflusst werden kann. Bei diesen Patienten liegt das vorrangige Qualitätsziel in der bedarfsgerechten Stabilisierung vor Ort und der möglichst raschen Zuführung zur definitiven Therapie im Krankenhaus. In diese Kategorie fallen exemplarisch Patienten mit Schlaganfall, ST-Hebungs-Infarkt oder lebensbedrohlichem Abdominaltrauma. Bei Patienten der Kategorie 2 weist die Zeit einen großen Einfluss auf den Nutzen auf. Der relevante Zeitabschnitt ist vorrangig die Prähospitalzeit.
In Kategorie 3 werden Patienten erfasst, die nicht akut lebensbedrohlich erkrankt oder verletzt sind, bei denen eine Therapie aber dennoch zeitnah erforderlich ist, um gesundheitlichen Schäden entgegenzuwirken. Weiterhin sind Patienten dieser Kategorie einer Intervention vor Ort zugänglich. Die Unterscheidung zu den Kategorien höherer Priorität stützt sich im Wesentlichen auf eine fehlende lebensbedrohliche Einschränkung von Vitalfunktionen. Beispielhaft fallen in diese Kategorie eine exazerbierte COPD mit Spastik (ohne schwere Luftnot, ohne ausgeprägte Hypoxiezeichen) oder eine Hypoglykämie mit stabilen Vitalwerten (insbesondere ohne Bewusstlosigkeit). Bei Patienten in Kategorie 3 ist der relevante Zeitabschnitt die Eintreffzeit, die Zeit hat aber einen geringeren Einfluss auf den Nutzen als bei Kategorie 1.
Die Kategorie 4 beschreibt ebenfalls Patienten ohne akute Lebensgefahr, aber mit Bedarf einer zeitnahen Intervention. Die dieser Kategorie zugrunde liegenden Erkrankungen und Verletzungen können vor Ort jedoch nicht entscheidend beeinflusst werden. Dazu zählen etwa das akute Abdomen ohne stärkste Schmerzen, ein fieberhafter Infekt mit stabilen Vitalwerten oder eine Epistaxis. Für diese Kategorie ist der relevante Zeitabschnitt die Prähospitalzeit, der Einfluss der Zeit auf den Nutzen ist jedoch geringer als bei Kategorie 2.
Die Kategorien 5 und 6 umfassen Patienten, bei denen keine akut auftretende körperliche Erkrankung oder Verletzung vorliegt, die umgehend medizinische Hilfe erfordert. In Kategorie 5 finden sich Patienten mit einer progredienten Verschlechterung eines bestehenden medizinischen Problems. Der Fokus liegt bei diesen Patienten mehr auf der Lenkung des Behandlungspfads und einer Versorgung im ambulanten Umfeld als auf einer möglichst schnellen Intervention am Einsatzort oder einem Transport. Der relevante Zeitabschnitt für diese Kategorie ist die Eintreffzeit, allerdings mit geringerer Dringlichkeit als bei den Kategorien 1 bis 4.
In Kategorie 6 fallen Patienten mit psychosozialen und sozialmedizinischen Notfällen ohne unmittelbare somatische Gefährdung. Eine Versorgung durch die Notfallrettung ist bei diesen Patienten vorrangig dadurch begründet, dass kein alternatives System zur Versorgung verfügbar ist. Der relevante Zeitabschnitt für diese Kategorie ist die Eintreffzeit, der Einfluss dieser Zeit auf den Nutzen ist geringer als in den Kategorien 1 bis 4.

Einsatzkategorien

Nicht bei jedem Einsatz von Ressourcen der Notfallrettung kommt es zu einem Kontakt mit einem Notfallpatienten. Die Ressourcen sind während des Einsatzes jedoch trotzdem gebunden und sollten in einer logistischen Planung berücksichtigt werden. Für solche Einsätze wurden die folgenden Einsatzkategorien definiert.
Kategorie 7 beschreibt Einsätze ohne Patientenkontakt. Dazu zählen beispielsweise Bereitstellungseinsätze für polizeiliche Lagen oder Reaktionen auf Brandmeldeanlagen ohne Patientenkontakt. Da bei diesen Einsätzen kein Patient vorhanden ist, können auch keine Aussagen zu einem Patientennutzen getroffen werden.
Kategorie 8 erfasst Krankentransporte. Wird ein solcher durch ein Einsatzmittel der Notfallrettung (RTW) durchgeführt, ist dies aus Sicht der Notfallrettung eine Bindung von Ressourcen ohne Kontakt zu einem Notfallpatienten. Krankentransporte sind für die Notfallrettung insbesondere deshalb relevant, weil sie für einen Abtransport von Patienten aus und damit eine Aufrechterhaltung der Kapazitäten in Notaufnahmen sorgen können.

Nutzenfunktionen

Ziel der Nutzenfunktionen ist es, widerzuspiegeln, wie hoch der Nutzen aus Patientensicht bei Erreichen einer bestimmten Eintreff- bzw. Prähospitalzeit ist. Die Nutzenfunktionen wurden auf Basis von fünf Schätzungen erstellt. In Abb. 2 sind Splines gestrichelt dargestellt, die aus den einzelnen Rückmeldungen erstellt wurden. Die durchgezogenen Kurven zeigen die gemittelten Nutzenfunktionen, die durch nichtlineare Regression berechnet wurden. Die auf der x‑Achse abgetragene Zeit repräsentiert für die Kategorien 1, 3, 5 und 6 die Eintreffzeit und für die Kategorien 2 und 4 die Prähospitalzeit. Abb. 3 zeigt eine Übersicht der Nutzenfunktionen.
Der Nutzen verschiedener Kategorien kann dabei nicht direkt miteinander verglichen werden. Ein Nutzen von 0,5 in Kategorie 1 kann beispielsweise nicht mit einem Nutzen von 0,5 in Kategorie 5 gleichgesetzt werden. Die Nutzenfunktionen sollen je Kategorie Aussagen darüber ermöglichen, wie schnell der Nutzen für die Patienten über die Zeit abnimmt.

Mapping zu Einsatzstichwörtern und Diagnosen

Die Einsatzstichwörter und Diagnosen wurden den Kategorien iterativ zugeordnet. Zunächst wurden jene Diagnosen und Einsatzstichwörter kategorisiert, die per Konsens eindeutig einer Kategorie zugeordnet werden konnten. Bei den restlichen Diagnosen wurden zusätzlich Vitalparameter betrachtet. Dafür wurden sie zunächst der jeweils am wenigsten dringlichen passenden Kategorie zugeordnet. Anschließend wurden je Diagnose für die relevanten Vitalparameter Grenzwerte festgelegt, die zu einer Zuordnung in eine dringlichere Kategorie führen. Die Grenzwerte orientieren sich an den Werten zur Ermittlung des M‑NACA-Scores für MIND4.0 [13, 20]. Bei den nicht eindeutig kategorisierbaren Einsatzstichwörtern wurden zusätzlich die historisch disponierten Rettungsmittel berücksichtigt. Die Kategorie hängt dabei davon ab, ob bei einem Einsatzstichwort ein Rettungswagen ohne Sondersignal, mit Sondersignal oder gemeinsam mit einem Notarzt disponiert wurde. Weitere Informationen über das Erstellen der Mappings finden sich im Online-Anhang.
Um Erkenntnisse über das Einsatzvolumen je Kategorie zu erhalten, wurden die historischen Einsatzdaten aus 2021 von acht Rettungsdienstbereichen in Baden-Württemberg anhand ihrer Einsatzstichwörter und Diagnosen kategorisiert. In Abb. 4 sind die relativen Einsatzvolumina nach der Einsatzstichwort- und Diagnosekategorie abgebildet.

Diskussion

Interpretation der Ergebnisse

Das Ziel von EVRALOG-BW ist es zu untersuchen, wie Planungskriterien aussehen können, die eine Berücksichtigung der Patientenbedürfnisse in der logistischen Planung ermöglichen. Durch die Kategorien kann zwischen Patienten differenziert werden. Die Nutzenfunktionen ermöglichen eine kontinuierliche Bewertung des Einflusses der Einsatzzeiten auf die Versorgungsqualität. Dadurch können die Bedürfnisse der Patienten besser in die Planung integriert werden als durch eine Hilfsfrist.
Der vorgestellte Ansatz weist im Vergleich mit dem gestuften Versorgungssystem nach [12] Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf. Beide Ansätze zielen darauf ab, die Gestaltung des Rettungsdiensts stärker von differenzierten Patientenbedürfnissen abhängig zu machen. So ist nicht immer die Zeit bis zur Intervention entscheidend, sondern auch eine gezielte Abklärung und Lenkung des Behandlungspfads kann im Vordergrund stehen (vergleiche GVS‑3 nach [12] und Kategorie 5 nach EVRALOG-BW). Ein Unterschied besteht in der grundsätzlichen Zielsetzung. Bei [12] liegt der Fokus auf den Einsatzmitteln und Zeitfenstern für die Eintreffzeit. In EVRALOG-BW liegt er darauf, welche Zeiten im Einsatzverlauf für die Patienten relevant sind und wie sie aus Patientensicht bewertet werden können. Dieser verstärkt retrospektive Fokus äußert sich in den Einsatzkategorien 7 und 8, deren Äquivalent in [12] nicht existiert. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass [12] auch die äußere Gefahr mit einbezieht, während EVRALOG-BW sich auf den medizinischen Bedarf fokussiert, der in [12] als innere Gefahr bezeichnet wird. Die Berücksichtigung der äußeren Gefahr ist vorrangig für die Dispositionsentscheidung relevant, eine Einbeziehung im Rahmen einer Operationalisierung der Ergebnisse von EVRALOG-BW widerspricht den erstellten Kategorien nicht. Im Vergleich mit den in [16] beschriebenen Kategorien liegen die Unterschiede zum einen in der Berücksichtigung der Prähospitalzeit und nicht nur der Eintreffzeit. Zum anderen werden in den in [16] vorgestellten Systemen zeitliche Fristen analog der Hilfsfrist verwendet, während EVRALOG-BW eine kontinuierliche Betrachtungsweise einnimmt. Eine Gemeinsamkeit liegt in der Berücksichtigung des Bestehens von Lebensgefahr für die Kategorisierung.
In Abb. 2 ist zu erkennen, dass Abweichungen zwischen den Schätzungen bestehen. Eine mögliche Ursache liegt in der Bandbreite der Notfallbilder. Eine Unterteilung der 143 Diagnosen des MIND4.0-Datensatzes in sechs Kategorien, teilweise unter Berücksichtigung von Vitalparametern, führt unweigerlich zu Varianz innerhalb der Kategorien. Die Einschätzungen können auch bei denselben Notfallbildern aufgrund der fehlenden wissenschaftlichen Datenbasis zum Zusammenhang zwischen Zeit und Outcome divergieren. Trotzdem unterscheiden sich die Verläufe der gemittelten Nutzenfunktionen deutlich (s. Abb. 3). Sie sind zudem konsistent mit den abgestuften Dringlichkeiten, die sich aus den Kategoriedefinitionen ergeben. Dies lässt auf ein gemeinsames Verständnis der Kategorien zwischen den Experten schließen. Die Unterschiede der Einschätzungen verdeutlichen den Bedarf für eine datenseitige Erfassung des Outcomes, um die Verläufe der Nutzenfunktionen evidenzbasiert validieren zu können.
Das Mapping der Einsatzstichwörter sowie der Diagnosen ist ein Indiz dafür, dass die Kategorien ausreichend genau zwischen Patienten unterscheiden können und gleichzeitig das volle Spektrum an Notfallbildern abdecken. Der Anteil an Einsätzen außerhalb der Kategorien 1 und 2 deutet darauf hin, dass alternative Dispositionsstrategien zur Nächstes-Fahrzeug-Strategie für Einsätze ohne vitale Bedrohung einen Effekt und damit Potenzial für eine patientengerechtere Versorgung aufweisen können. Die unterschiedliche Verteilung der Einsatzvolumina der Kategorisierung nach Einsatzstichwörtern und Diagnosen (s. Abb. 4) lässt eine detaillierte Analyse der Abweichungen und ihrer möglichen Ursachen sinnvoll erscheinen. Im Hinblick auf Abweichungen zur Nächstes-Fahrzeug-Strategie wird eine Balance zwischen Über- und Unterkategorisierung gefunden werden müssen. Für die Untersuchung der Effekte von Über- und Unterkategorisierung bieten sich simulative Untersuchungen an. Weiterhin ist zu untersuchen, ob für die Dispositionsentscheidung eine Differenzierung aller Kategorien notwendig ist oder ob sie für diese Entscheidung zusammengefasst werden können.
Die Betrachtung der Prähospitalzeit bei den Kategorien 2 und 4 verstärkt den Blick auf logistische Fragestellungen mit einer direkten Auswirkung auf die Prähospitalzeit. Dazu zählen beispielsweise die Einbeziehung der Luftrettung, die Standorte von Notaufnahmen oder spezieller Einrichtungen wie Stroke Units. Auch die Auswirkungen struktureller Veränderungen der Krankenhauslandschaft oder der Verfügbarkeit von Notaufnahmen auf die Versorgungsqualität können dadurch sichtbarer gemacht werden.

Limitationen

Die größte Limitation der Ergebnisse liegt in der fehlenden Evidenz für den Verlauf der Nutzenfunktionen. Die Modellierung der Nutzenfunktionen ist methodisch auch datenbasiert möglich. Die dazu benötigten Daten liegen aktuell nicht vor. Durch die Schätzung der Funktionen durch Experten entsteht eine Unsicherheit über die Aussagekraft der exakten Werte der Nutzenfunktionen. Aus Sicht der Projektteilnehmer erlauben die Nutzenfunktionen aber dennoch eine Bewertung von Einsatzzeiten, die näher am tatsächlichen Verlauf der Patientenzustände liegt, als es bei einer Hilfsfristbetrachtung der Fall ist.
Eine weitere Unsicherheit besteht dahingehend, dass die tatsächlichen Kategorien der Patienten derzeit retrospektiv nur auf Basis von Notarztdiagnosen festgestellt werden können. Eine größere Sicherheit kann durch die Rückkopplung von Daten aus den Notaufnahmen an den Rettungsdienst erreicht werden.

Ausblick

In der nächsten Phase von EVRALOG-BW werden aufbauend auf den entwickelten Kategorien und Nutzenfunktionen die logistischen Fragestellungen Rettungsmitteldisposition und Standortplanung von Rettungswachen betrachtet. Dazu wird zunächst erforscht, ob neue Planungsstrategien entwickelt werden können. Zur Analyse und Validierung der Strategien kommt anschließend ein Simulationsmodell zum Einsatz, das in Verbindung mit den Einsatzdaten der SQR-BW am Health Care Lab des Karlsruher Instituts für Technologie entwickelt wird [21].
Simulative Untersuchungen können zudem genutzt werden, um den Mehrwert zusätzlicher Daten für die untersuchten Strategien einzuschätzen. So können beispielsweise die Auswirkungen unterschiedlicher Genauigkeitsgrade der Kategorisierung während des Notrufgesprächs auf den Patientennutzen untersucht werden. Solche Erkenntnisse können als Anstoß für weitere Forschungsvorhaben logistischer sowie medizinischer Natur dienen.

Fazit für die Praxis

  • Planungskriterien für logistische Entscheidungen im Rettungsdienst sollten von den Bedürfnissen der Patienten abgeleitet werden. Dafür müssen sie in der Lage sein, den Zusammenhang zwischen Zeiten im Einsatzverlauf und der Erreichbarkeit von Qualitätszielen widerzuspiegeln.
  • Im Rahmen des Forschungsprojekts EVRALOG-BW wurden Patientenkategorien und zugehörige Nutzenfunktionen entwickelt, die diesen Zusammenhang besser erfassen als eine Hilfsfrist.
  • Für eine zukünftige datenbasierte Gestaltung von Nutzenfunktionen ist eine quantitative Messung des Outcomes von Notfallpatienten erforderlich.
  • Für eine kontinuierliche Verbesserung einer prospektiven Kategorisierung im Erstgespräch erscheinen eine Rückkopplung von Daten aus den Notaufnahmen sowie eine strukturierte oder standardisierte Notrufabfrage grundlegend.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

S. Watzinger, C. Nießner, C. Schutz, D. Groß, D. Schmitz, J.-P. Stock, M. Fabrizio, P. Frey, R. Böhm, S. Sebold, T. Ade und S. Nickel geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Literatur
5.
Zurück zum Zitat Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e. V. (2022) Master Pocket-Leitlinie. Empfehlungen für die Akutversorgung, Version 2022 Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e. V. (2022) Master Pocket-Leitlinie. Empfehlungen für die Akutversorgung, Version 2022
17.
Zurück zum Zitat Ringleb P, Köhrmann M, Jansen O et al. (2022) Akuttherapie des ischämischen Schlaganfalls, S2e-Leitlinie, 2022 Version 1.1. www.dgn.org/leitlinien. Zugegriffen: 01.12.2023 Ringleb P, Köhrmann M, Jansen O et al. (2022) Akuttherapie des ischämischen Schlaganfalls, S2e-Leitlinie, 2022 Version 1.1. www.​dgn.​org/​leitlinien. Zugegriffen: 01.12.2023
21.
Zurück zum Zitat Watzinger S, Nickel S (2022) Computerbasierte Ablaufsimulation: Entscheidungsunterstützung für die Notfall-Logistik. Rettungsdienst 45:16–21 Watzinger S, Nickel S (2022) Computerbasierte Ablaufsimulation: Entscheidungsunterstützung für die Notfall-Logistik. Rettungsdienst 45:16–21
Metadaten
Titel
Patientenorientierte Planungskriterien für die Logistik in der Notfallrettung
verfasst von
Sven Watzinger
Christoph Nießner
Cornelia Schutz
Daniel Groß
Daniel Schmitz
Jan-Philipp Stock
Manuel Fabrizio
Patrick Frey
Richard Böhm
Stefan Sebold
Torsten Ade
Stefan Nickel
Publikationsdatum
03.01.2024
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Notfall + Rettungsmedizin
Print ISSN: 1434-6222
Elektronische ISSN: 1436-0578
DOI
https://doi.org/10.1007/s10049-023-01254-6