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Erschienen in: Pflegezeitschrift 3/2024

01.02.2024 | Pflege Praxis

Machen Psychopharmaka abhängig?

verfasst von: Simone Schmidt, Dr. med. Otto Dietmaier, Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Gerd Laux

Erschienen in: Pflegezeitschrift | Ausgabe 3/2024

Zusammenfassung

Die meisten Psychopharmaka, insbesondere Antidepressiva und Antipsychotika, haben - anders als oft angenommen - kein Abhängigkeitspotenzial . Allerdings besteht bei Tranquilizern sowie bei Schlafmitteln, Psychostimulanzien, Pregabalin und Clomethiazol das Risiko einer Abhängigkeitsentwicklung bzw. eines Missbrauchs. Suchtgefährdeten Personen dürfen diese Medikamente daher nicht verordnet werden.
Von sinnvoller Therapie bis Genussmittel Der Missbrauch und die Abhängigkeit von Substanzen, die auf das seelische und körperliche Wohlbefinden einwirken, sind ein wachsendes medizinisches, volkswirtschaftliches und sozialhygienisches Problem. Dazu gehören auch Psychopharmaka. Welche können unter welchen Voraussetzungen abhängig machen und welche nicht? Ein Einblick.
Sucht ist ein Begriff, der bei vielen Menschen Abwehr auslöst, wobei die Begriffe Abhängigkeit und Sucht oft synonym verwendet werden. Dabei wurde bereits 1968 höchstrichterlich festgestellt, dass Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängigkeit Krankheiten sind. Die amerikanische Psychiatrie-Gesellschaft hat in der fünften Version ihres „Diagnostischen und Statistischen Manuals psychischer Störungen“ (DSM-5) als neuen Diagnosebegriff „Substanzgebrauchsstörung“ eingeführt - die Übergänge zwischen bestimmungsgemäßem Gebrauch von Medikamenten, Missbrauch (Abusus ) und Abhängigkeit werden als fließend angesehen. Aus Patientensicht kann das „Abhängigsein“ von Medikamenten als problematisch erlebt werden.
Ein grundsätzliches Problem in der Diskussion um Missbrauch, Abhängigkeit und Sucht ist die unscharfe Definition und die uneinheitliche Verwendung der Begriffe. Aus wissenschaftlicher Sicht beinhalten diese Begriffe eine starke Wertung. Ein Missbrauch (Abusus) liegt vor, wenn eine Substanz nicht bestimmungsgemäß eingenommen und trotz psychischer, körperlicher oder sozialer Folgeschäden konsumiert wird.
Eine Abhängigkeit wird diagnostiziert, wenn drei oder mehr der folgenden Kriterien während mindestens eines Monats in einem Zeitraum von zwölf Monaten erfüllt sind (DSM-5):
  • Starker Wunsch oder Zwang, das Psychopharmakon zu konsumieren („Craving“)
  • Verminderte Kontrolle im Umgang mit der Substanz
  • Auftreten von körperlichen Entzugssymptomen beim Absetzen
  • Toleranzentwicklung (Wirkverlust - Dosissteigerung)
  • Interessen, berufliche und soziale Aktivitäten werden vernachlässigt, erhöhter Zeitaufwand zur Beschaffung, Einnahme und Erholung von der Substanz
  • Anhaltender Substanzgebrauch trotz eindeutiger, schädlicher Folgen
Missbrauch und Abhängigkeit von Substanzen, die auf das seelische und körperliche Wohlbefinden einwirken, stellen ein zunehmend größer werdendes medizinisches, volkswirtschaftliches und sozialhygienisches Problem dar. Zu den gebräuchlichsten und gesellschaftlich am meisten akzeptierten Substanzen zählen seit Jahrzehnten Nikotin und Alkohol. Neben dem Konsum dieser frei zugänglichen Genussmittel wird in den letzten Jahren auch verstärkt auf Medikamente, insbesondere aus der Gruppe der Psychopharmaka, zurückgegriffen, um das Lebensgefühl zu steigern. Gesunde Erwachsene wollen beispielsweise durch die Einnahme von Psychostimulanzien ihre Hirnleistung oder Stimmung steigern („Hirndoping“, „Neuro-Enhancement“).
Immer häufiger sind in Arztpraxen und Kliniken Patienten anzutreffen, die oft schon seit Jahren Medikamente ohne eigentliche Indikation einnehmen. Die Gefahr des Missbrauchs und der Abhängigkeitsentwicklung besteht bei vielen Medikamenten, insbesondere bei Schmerz- und Betäubungsmitteln. Zu den Gründen für einen Medikamentenmissbrauch zählen:
  • Beseitigung negativer psychischer Symptome (Schlafstörungen, Ängste, Depressivität, Schmerzen)
  • euphorisierende Wirkung
  • Leistungssteigerung („Hirndoping “)
Für Psychopharmaka gilt: Alle Antipsychotika/Neuroleptika und Antidepressiva sowie Stimmungsstabilisierer wie Lithium, Carbamazepin, Lamotrigin oder Valproat und Antidementiva besitzen kein Abhängigkeitspotenzial.

Gewöhnungsrisiko bei Schlaf- und Beruhigungsmitteln

Das Problem der Abhängigkeitsentwicklung von Beruhigungsmitteln wird in der Fach- und Laienpresse regelmäßig diskutiert. Wurden diese Präparate insbesondere in den 70er-Jahren noch unkritisch verharmlosend als „Opium für das Volk“ verordnet, so schlug das Pendel Anfang der 80er-Jahre in die entgegengesetzte Richtung aus, und diese Medikamente wurden in den Massenmedien nicht selten unsachlich übertrieben als Suchtmittel verteufelt.
Inzwischen scheinen sich die Wogen zu glätten und eine angemessenere Beurteilung durchzusetzen. Wie fast immer liegt die Wahrheit in der Mitte: Tranquilizer bergen ein Abhängigkeitsrisiko, aber im Vergleich zum Alkoholmissbrauch und in Relation zur Anwendungshäufigkeit ist eine echte Sucht selten. Meist handelt es sich um Patienten, die primär alkohol- oder drogenabhängig waren oder sind (sog. „Umsteiger“).
Aus der Sicht des Nervenarztes/Psychiaters ist es besonders betrüblich, dass diese Missbrauchsgefahr pauschal für alle Psychopharmaka behauptet wird. Das ist jedoch falsch! Denn für die hauptsächlich von Nervenärzten verordneten Antipsychotika/Neuroleptika und Antidepressiva trifft dies nicht zu. Benzodiazepin-Tranquilizer, Hypnotika, Psychostimulanzien, Pregabalin und Clomethiazol können dagegen abhängig machen. Dieses Risiko einer Abhängigkeitsentwicklung bedarf strikter Beachtung!
Es ist wichtig zu wissen, dass bei regelmäßiger und langfristiger Einnahme von Tranquilizern in normaler Dosierung (Langzeitkonsum) eine Niedrigdosisabhängigkeit („Low Dose Dependency“) entstehen kann. Hierbei sind keine Toleranzentwicklung (Dosissteigerung ) und kein Kontrollverlust zu beobachten, bei Absetzversuchen treten aber Entzugserscheinungen wie Angstgefühle, Schlafstörungen und vegetative Symptome (Schwitzen, Tremor, Herzjagen, Kreislaufregulationsstörungen) auf. Bei abruptem Absetzen höherer Dosen oder nach Langzeiteinnahme von Benzodiazepinen können gravierende Symptomen (zerebrale Krampfanfälle, Verwirrtheitszustände mit Stürzen) auftreten.

„Funktionieren müssen“ als Missbrauchsrisiko?

Die Gründe für die häufige Verschreibung und Einnahme von Beruhigungsmitteln sind vielfältig und keinesfalls nur in der Substanz zu suchen. Eine bedeutende Rolle spielen Persönlichkeits- und Umweltfaktoren. Es scheint, dass mit steigendem Zivilisationsgrad immer weniger Menschen mit sich selbst und der entfremdeten Umwelt zurechtkommen. Tiefgreifende soziale Strukturveränderungen, Technisierung, Automatisierung und Reizüberflutung, das „Diktat der Zeit“ bei gleichzeitiger empfundener Sinnentleerung des Lebens haben zu einer massiven Zunahme nervöser Störungen, zeit- und umweltbedingter psychischer Erkrankungen geführt. Im „Zeitalter des Funktionierens“ mit dem ständig neu genährten Glauben an Fortschritt und Machbarkeit häufen sich die funktionellen Störungen, d.h. stressbedingte psychosomatische Erkrankungen. Eine „Konsumentenhaltung“ mit dem Anspruch auf schnelle Bedürfnisbefriedigung bei verminderter körperlicher und seelischer Belastbarkeit verführt insbesondere in kritischen Lebenssituationen (z.B. bei Partner-/Ehe- und Berufsproblemen) dazu, rasch zum Medikament als vermeintlichem Problemlöser zu greifen. So scheinen sich Tranquilizer, umgangssprachlich auch gerne als „Sonnenbrillen der Seele“ bezeichnet, als bequeme und recht einfache Möglichkeit anzubieten, psychosoziale Schwierigkeiten, Alltagsstress und zum menschlichen Leben gehörende Verstimmungszustände zu bewältigen.
Ein neuer Zeitgeisttrend ist die Einnahme vor allem von Psychostimulanzien zur (vermeintlichen) Leistungssteigerung (sog. Hirndoping). Studierende und Manager gehören hier zu den Hauptkonsumenten.
Ärzte berichten immer wieder, dass sie von Patienten unter Druck gesetzt werden, Tranquilizer zu verschreiben. Aber auch die Ärzte sind an der Entwicklung von Medikamentenmissbrauch und -abhängigkeit beteiligt. Aufgrund der guten Verträglichkeit und der meist rasch einsetzenden Wirkung dieser Präparate, der oft fehlenden psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten, aber auch aus Zeitmangel und Bequemlichkeit greifen manche Ärzte vorschnell zum Rezeptblock.
In den letzten Jahren ist vor allem in den USA eine neue Entwicklung zu beobachten: Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) werden wegen ihrer aktivierenden, aufhellenden und hungerdämpfenden Wirkung - außerhalb ihrer eigentlichen Indikation als Antidepressiva - von Gesunden missbräuchlich eingenommen („busy but happy“, Gewichtsabnahme, „die Pille gegen die Schüchternheit“ bei „sozialer Phobie“!).
Aufgrund des Risikos eines Missbrauchs und einer Abhängigkeitsentwicklung bei der Einnahme von Tranquilizern sowie bei Schlafmitteln, Psychostimulanzien, Pregabalin und Clomethiazol, dürfen diese Medikamente suchtgefährdeten Personen nicht verschrieben werden.

Pflegerische Aufgaben im Rahmen der Therapie

Entgegen verbreiteter Meinungen sind Abhängigkeit und Missbrauch durchaus erfolgreich behandelbar - je nach Stadium und bei sachgerechter Therapie. Bei der Alkoholabhängigkeit wurde lange Zeit nur das Maximum - die dauerhafte Abstinenz - als Behandlungsziel und -erfolg angesehen. Aber auch eine Konsumreduktion, unterstützt durch neue Medikamente wie die Anti-Craving Substanz Nalmefen oder bei Drogenabhängigkeit eine Substitution, kann eine Behandlungsoption sein.
Die Aufgaben der Pflege unterscheiden sich in den verschiedenen Phasen der Behandlung. So werden bei der rein körperlichen Entzugsbehandlung zunächst Überwachungsmaßnahmen wie beispielsweise die Überwachung mittels CIWA-Entzugsskala im Vordergrund stehen. Das Ziel hierbei ist, einen möglichst symptomarmen und vor allem sicheren Entzug zu ermöglichen. In dieser Phase stehen auch Gesprächsangebote zur Vermittlung von Sicherheit und zur Reduktion von Ängsten bei den betroffenen Personen im Vordergrund.
Detailliertere Informations- und Beratungsangebote sind erst in der nächsten Behandlungsphase relevant, in der psychosoziale und motivationsfördernde Einzel- und Gruppenangebote durch das multiprofessionelle Team stattfinden. Die jeweilige Therapieform, beispielsweise kognitive Verhaltenstherapie oder bei Komorbidität die dialektisch behaviorale Therapie (DBT), muss individuell ausgewählt werden.
Darüber hinaus sollten für Patienten mit minderjährigen Kindern zusätzliche Beratungs- und Informationsangebote zur Verfügung stehen. Diese werden durch speziell geschulte Pflegekräfte, sogenannte Kinderbeauftragte, durchgeführt, um die Betroffenen in ihrer Elternrolle zu entlasten und den Kindern präventive Angebote zu vermitteln.

Literatur

  • Dietmaier O, Schmidt S, Laux G (2019) Pflegewissen Psychopharmaka, Springer, Heidelberg
  • Falkai P, Wittchen H U, Döpfner M, & American Psychiatric Association (2015) Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM-5®. Hogrefe, Göttingen
  • S3-Leitlinie Medikamentenbezogene Störungen (2020) AWMF-Register-Nr.: 038-025, Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN) Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie e.V. (DG-Sucht)

Fazit

Antipsychotika/Neuroleptika und Antidepressiva sowie Stimmungsstabilisierer und Antidementiva besitzen kein Abhängigkeitspotenzial.
Bei Tranquilizern und Schlafmitteln, Psychostimulanzien, Pregabalin und Clomethiazol besteht das Risiko einer Abhängigkeitsentwicklung.
Eine „Konsumentenhaltung“ mit dem Anspruch auf schnelle Bedürfnisbefriedigung bei verminderter körperlicher und seelischer Belastbarkeit verführt insbesondere in kritischen Lebenssituationen zum schnellen Griff zum Medikament als vermeintlichem Problemlöser.
Je nach Stadium und mit sachgerechter Therapie sind Abhängigkeit und Missbrauch erfolgreich behandelbar.

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Metadaten
Titel
Machen Psychopharmaka abhängig?
verfasst von
Simone Schmidt
Dr. med. Otto Dietmaier
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Gerd Laux
Publikationsdatum
01.02.2024
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Pflegezeitschrift / Ausgabe 3/2024
Print ISSN: 0945-1129
Elektronische ISSN: 2520-1816
DOI
https://doi.org/10.1007/s41906-024-2564-5

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