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25.10.2023 | Intensivpflege | Online-Artikel

Interview zu einem neuen Ansatz in der pädiatrischen Intensivmedizin

Umdenken bei Sedierung

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Um Spätfolgen bei Kindern nach einem Aufenthalt auf der Intensivstation zu vermeiden, wird an der Universität Tübingen möglichst auf das künstliche Koma verzichtet. Dr. Juliane Engel, Ärztin für Intensivmedizin, und Rebekka Reich, Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin, erläutern, wie das die Intensivmedizin verändern könnte.

© Universitätsklinikum TübingenJuliane Engel & Rebekka Reich, © Universitätsklinikum Tübingen

Frau Dr. Engel, Frau Reich, normalerweise liegen Kinder auf Intensivstationen oft für lange Zeit im künstlichen Koma. Bei Ihnen in Tübingen sollen sie durch einen innovativen Behandlungsansatz möglichst wach bleiben, auch wenn sie beatmet werden. Warum?

Engel: Hintergrund des künstlichen Komas für Patientinnen und Patienten auf Intensivstationen ist die Vorstellung, dass man ihnen das Erleben der Behandlung so ersparen kann. Das gilt auch für Kinder. Inzwischen weiß man aber, dass die Zeit im künstlichen Koma nicht einfach nur ein tiefer und andauernder Schlaf ist. Die eingesetzten Medikamente haben unerwünschte Wirkungen, wie die Beeinträchtigung der Schlafqualität, die Entstehung von Albträumen und Halluzinationen. Kinder, die tief sediert sind, nehmen ihre Umgebung zwar wahr, können aber das Erlebte aufgrund der Medikamente nicht adäquat „einordnen“ und verarbeiten. Dies führt zu Desorientierung und beängstigenden Erinnerungsfetzen, die sich in einem Delir äußern und noch lange nach der akuten Behandlung zu Angst und Schlafstörungen führen.

Reich: Die intensivmedizinische Behandlung führt außerdem zu körperlicher Schwäche durch langes Liegen, zu Komplikationen durch lange Beatmungszeiten. Die nach der Intensivtherapie häufig verbleibenden chronischen und komplexen Erkrankungen der Kinder beeinträchtigen das familiäre Zusammenleben. Diese Kombination von Langzeitfolgen der Intensivtherapie wird als Post-Intensive-Care-Syndrom bei Patienten (PICSp) und ihren Familien (PICSf) zusammengefasst und führt bei über 60 % der Familien zu einer Einschränkung der Lebensqualität und posttraumatischen Belastungsstörungen.

Die Kinder werden ja in ein künstliches Koma versetzt, damit sie keine Schmerzen haben. Wie trägt dieser neue Behandlungsansatz dazu bei, das Leiden der Kinder zu verringern?

Engel: Wir differenzieren zwischen der Schmerzbehandlung, die einen hohen Stellenwert hat und konsequent durchgeführt wird, und der Sedierung. Es werden also primär Medikamente eingesetzt, deren sedierende Wirkung nicht überwiegt. Benzodiazepine wie Midazolam werden in der Kinderintensivmedizin häufig eingesetzt, haben aber keinen schmerzlindernden Effekt. Im Gegenteil, sie können dazu führen, dass die Schmerzen unentdeckt bleiben, weil diese nicht geäußert werden können.

Reich: Das Ziel ist es, die Patienten möglichst wach zu halten, damit sie auf Ereignisse und ihr Umfeld reagieren, Schmerzen äußern und lokalisieren können. So kann eine individuell angepasste Therapie erfolgen.

Der Kontakt der Kinder zu ihren Eltern und Angehörigen wird in Tübingen offensichtlich höher bewertet als die Gabe von Schmerzmitteln und Sedierung. Warum ist dies für die Kinder so wichtig?

Engel: Auf unserer Station werden schmerzfreie, aber weitgehend wache Patienten behandelt, die eine künstliche Beatmung mit endotrachealem Tubus tolerieren. Da sie von medizinischen Geräten abhängig sind, sind sie in ihrem Bewegungsspielraum eingeschränkt und können das Bett oder dessen Umgebung nicht verlassen. Kinder jeden Alters brauchen in dieser Situation persönliche Zuwendung, Unterhaltung und Ablenkung. Eltern oder enge Angehörige können dies besser leisten als Fachpersonal. Die Familie hat einen hohen Stellenwert im Leben der Kinder, daran ändert auch die Aufnahme auf die Intensivstation nichts. Im Gegenteil, Eltern und Verwandte geben den Kindern Sicherheit und helfen ihnen, die fremden Eindrücke zu verarbeiten. Auch für die Familie ist eine enge Einbindung in die Behandlung wichtig. So werden sie nicht in die „Besucherrolle“ gedrängt, sondern tragen aktiv zur Genesung bei.

Reich: Ihre Anwesenheit kann die Unruhe und Angst der Kinder reduzieren, was zur Folge hat, dass weniger Sedierung zur „Beruhigung“ eingesetzt werden muss. Eine ausreichende Analgesie darf während der Behandlung intensivpflichtiger Kinder jedoch nicht fehlen und durch Eltern und Angehörige „ersetzt“ werden. Die adäquate Schmerztherapie steht weiterhin als wichtiger Punkt im Vordergrund.

Welche nicht-medikamentöse Interventionen oder therapeutische Ansätze wurden eingeführt, um die Behandlung zu optimieren?

Engel: Unser Ansatz basiert auf den sogenannten ABCDEF-Bundles - eine Kombination aus sekundär-präventiven Maßnahmen, die die Entwicklung des Post-Intensive-Care-Syndroms verringern bzw. vermeiden. Sie bestehen aus konsequenter Analgesie (A), standardisiertem Beatmungsmanagement mit möglichst kurzer Beatmungsdauer (B), der sorgfältigen Abwägung beim Einsatz sedierender Medikamente (C), der Erfassung und dem Management von Intensivdelir (D), der frühen Mobilisation (E) und der Familienzentrierten Behandlung (F). Die Maßnahmen stammen aus der ICU-Liberation-Campaign der Society of Critical Care Medicine und wurde von uns für den Einsatz bei Kindern evidenzbasiert angepasst.

Reich: Wache Patienten benötigen mehr Zuwendung. Da dies durch das ärztliche und pflegerische Personal oft nicht ausreichend abgedeckt werden kann, haben wir zusätzlich Psycholog*innen und Heilerziehungspfleger*innen angestellt. Stationseigene Physiotherapeut*innen verstärken das Team ebenfalls. Während sich die Psycholog*innen um die psychologische Begleitung der Patient*innen und deren Bezugspersonen während des Aufenthaltes kümmern, nehmen sich die Heilerziehungspfleger*innen die Zeit, um die wachen Kinder zu beschäftigen, wenn die Bezugspersonen nicht anwesend sind. Außerdem unterstützen sie die Patient*innen in ihrer Delirbewältigung und bieten den Bezugspersonen ein offenes Ohr, um das Erlebte zu verarbeiten. Physiotherapeuten entwickeln individuelle Therapiepläne für jedes Kind, um möglichst früh mit der Rehabilitation zu beginnen. Und die Familien werden von Anfang an mehr in die Therapie einbezogen. Eltern sollen als Teil des Behandlungsteams wahrgenommen werden, sie werden angeleitet und unterstützt, verschiedene pflegerische Maßnahmen zu übernehmen und so für ihre Kinder da zu sein. Geschwisterkinder werden durch begleitete Besuche darin unterstützt, die besondere Familiensituation zu bewältigen und zu verstehen.

Welche anderen Aufgaben haben die Pflegenden im Rahmen des neuen Ansatzes? Haben sie einen größeren Handlungsspielraum und wenn ja, wie wurden sie darauf vorbereitet?

Reich: Die Maßnahmenbündel der ABCDEF-Bundles wurden von interprofessionellen Arbeitsgruppen innerhalb unseres Behandlungsteams erarbeitet. Dabei wurden Schulungsmaterialien für interne Schulungen entwickelt, die von den Mitgliedern der verschiedenen Arbeitsgruppen durchgeführt wurden. Zudem ist uns die interprofessionelle Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen in unserer Arbeit sehr wichtig. Die Pflegenden bilden dabei eine wichtige Verknüpfungsstelle. Ihre Einschätzung zu adäquater Analgesie, Sedierung, Beatmung und einem guten Delirmanagement spielt eine bedeutende Rolle. Sie sind neben den Physiotherapeut*innen für die Mobilisation zuständig und können durch ihre Nähe zu den Patient*innen und deren Angehörigen den Bedarf an psychologischer Betreuung einschätzen und weiterleiten. Durch pflegegesteuerte Protokolle werden Rahmenbedingungen vorgegeben, innerhalb derer die Pflegenden eigenständig agieren können. Am Beispiel der Analgosedierung können Pflegende so bei Bedarf eine gewisse Anzahl an Bolusgaben der entsprechenden Medikamente verabreichen, ohne jede einzelne Gabe von einem Arzt anordnen zu lassen.

Mehr Personal ist ja immer auch ein Kostenfaktor - die Krankenkassen zahlen diese Art der Behandlung bisher nicht. Wie rechnet sich dieser innovative Ansatz für die Klinik?

Engel: Ziel dieser Versorgungsform ist es, Langzeitfolgen bei den Kindern und ihren Familien zu vermeiden. Dem finanziellen Mehraufwand im Rahmen der Intensivtherapie steht eine langfristige Entlastung des Gesundheitssystems durch einen reduzierten Bedarf an Wiederaufnahmen in die Klinik und Folgebehandlungen, reduzierte Arztkontakte und Rehabilitationsbedarf gegenüber und kann beispielsweise auch die Arbeitsunfähigkeitszeiten der Eltern reduzieren. Eine gesundheitsökonomische Analyse des Konzeptes soll diese Kosten genau untersuchen, um die Grundlage für eine langfristige Finanzierung der Versorgungsform zu schaffen.

Sie arbeiten nun in einem interdisziplinären Team. Was ist der Mehrwert eines solchen interprofessionellen Teams?

Engel: Die Arbeit auf Kinderintensivstationen war schon immer multiprofessionell. So kommen beispielsweise Psycholog*innen und Physiotherapeut*innen bei Bedarf konsiliarisch zu den Kindern, ebenso wie Logopädie und Ergotherapie. Psycholog*innen und Heilerziehungspfleger*innen waren bei uns die ersten Berufsgruppen, die fest in das Team integriert wurden, teilweise finanziert durch Spenden. Aufgabe der Heilerziehungspfleger*innen ist die Betreuung der Kinder in Abwesenheitszeiten der Eltern sowie die Begleitung der Eltern im Umgang mit ihren schwerkranken Kindern. Ihr Haupteinsatz ist die Vermeidung und die Therapie von Delir.

Reich: Durch den neuen Ansatz wird das bestehende interdisziplinäre Team durch weitere Berufsgruppen ergänzt. Dies ermöglicht eine umfassendere und ganzheitlichere Betreuung der Patient*innen sowie deren Bezugspersonen. Ziel ist es, die Langzeitfolgen für die Patient*innen und deren Familien zu verringern. Jede Berufsgruppe trägt mit ihrer Expertise dazu bei, die Patient*innen und deren Familien bei der Bewältigung und Verarbeitung der besonderen Situation eines Intensivaufenthaltes zu unterstützen.

Wie können mögliche Hemmschwellen gegenüber intensivfremden Berufen abgebaut und diese integriert werden?

Engel: Es ist hinreichend bekannt, dass auf den Kinderintensivstationen ein Fachkräftemangel herrscht. Die Arbeit dort erfordert insbesondere vom Pflegepersonal eine sehr hohe Spezialisierung, die Arbeit ist anspruchsvoll und kräftezehrend. Die Unterstützung durch weitere Berufsgruppen ermöglicht eine Entlastung des Pflegepersonals und die Einführung von Maßnahmen, die im derzeitigen Alltag der Regelversorgung auf Kinderintensivstationen aufgrund fehlender Ressourcen häufig zu kurz kommen.

Reich: Gleichzeitig wächst das Bewusstsein dafür, dass neben der medizinischen Behandlung auch die psychologische und emotionale Begleitung der Patient*innen und ihrer Bezugspersonen von großer Bedeutung ist. Das unterbesetzte medizinische Fachpersonal kann diese ganzheitliche Betreuung neben der medizinisch komplexen Behandlung häufig nicht leisten. Die ergänzenden Berufsgruppen entlasten somit das medizinische Personal und tragen maßgeblich zum Therapieerfolg bei.

Sie erhalten vom Gemeinsamen Bundesausschuss Forschungsmittel in Höhe von 10 Mio. Euro (für welchen Zeitraum?). Welche konkreten Projekte und Entwicklungen planen Sie mit diesem Budget?

Engel: Die Fördersumme aus dem Innovationsfonds des gemeinsamen Bundesausschuss ist für die Untersuchung der Wirksamkeit der Maßnahmen bestimmt. Die Projektlaufzeit beträgt 3,5 Jahre. Sie finanziert das notwendige Personal für die Umsetzung der Maßnahmen in den Interventionsphasen einer multizentrischen Studie (im Stepped-Wedge-Design) („Kinderintensivmedizin neu gedacht - Vermeidung von Post Intensive Care Syndrom bei kritisch kranken Kindern und deren Familien NoPICS-Kids“) auf den Kinderintensivstationen der Universitätskinderkliniken Tübingen, Heidelberg, Mannheim und Freiburg mit Untersuchung der Langzeitfolgen sechs Monate nach der Entlassung sowie eine Prozessevaluation der Einführung und Umsetzung auf den verschiedenen Stationen. Die gesundheitsökonomische Evaluation ist ebenfalls Bestandteil der geförderten Studie.

Welche Empfehlungen oder Ratschläge würden Sie anderen pädiatrischen Intensivstationen geben, die ähnliche Veränderungen in der Patientenversorgung erwägen?

Engel: Die Einführung des gesamten ABCDEF-Bundles erfordert einen Paradigmenwechsel auf Kinderintensivstationen. Die Vielfalt der Maßnahmen sollte aber nicht abschrecken. Studien zeigen, dass auch jede einzelne Maßnahme für sich eine Verbesserung gegenüber dem Status quo der Regelversorgung ist und als solche bereits ein Schritt in die richtige Richtung sein kann. Und auch wenn aufgrund fehlender Ressourcen (Räume, Personal, Ausstattung, Zeit) nicht alle gewünschten Veränderungen sofort umgesetzt werden können, so gibt es doch viele Aspekte, die mit wenig Aufwand einen wichtigen ersten Schritt hin zu einer besseren Versorgung leisten können.

Reich: Wir sind überzeugt, dass die Umsetzung der verschiedenen Maßnahmen eine Verbesserung der Versorgung, ein besseres Outcome für die Patient*innen und eine höhere Arbeitszufriedenheit des Personals mit sich bringt. Schon bei erwachsenen Patient*innen konnte gezeigt werden, dass die Umsetzung einzelner Aspekte aus den verschiedenen Maßnahmenbündeln zu einer Verbesserung der Versorgung führte. Oftmals ist auf Grund gegebener Umstände eine gewisse Hürde in der Umsetzung neuer Erkenntnisse gegeben, wir ermutigen jedoch jede pädiatrische Intensivstation, auch einzelne kleinere Maßnahmen umzusetzen, um so die Patientenversorgung Schritt für Schritt zu verbessern.

Vielen Dank für den Austausch!

Das Interview führte Benjamin Berger

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