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Erschienen in: Pflegezeitschrift 11/2022

01.10.2022 | Genderforschung | Pflege Praxis Zur Zeit gratis

Symptome und Therapie - eine Frage des Geschlechts

verfasst von: Dr. med. Carola Göring

Erschienen in: Pflegezeitschrift | Ausgabe 11/2022

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Zusammenfassung

Männer und Frauen sollten in der medizinischen Behandlung und pflegerischen Versorgung geschlechterdifferenziert betrachtet werden. In den klinischen Studien sind Frauen heute noch unterrepräsentiert; erst in den 1990er Jahren wurde gefordert, dass Frauen stärker in Studien einbezogen werden. So tritt beispielsweise Herzinsuffizienz bei Frauen erst in höherem Alter auf als bei Männern. Bei Krebs sind im Durchschnitt mehr Männer als Frauen betroffen, etwa zwei Drittel der an Alzheimer leidenden Menschen sind jedoch weiblich. An einer COPD erkranken Frauen etwa gleich häufig wie Männer, in jungen Jahren sogar deutlich häufiger. Diese Beispiele verdeutlichen, erst wenn die Unterschiede in den Krankheitsbildern erforscht sind und in der Praxis mehr beachtet werden, kann die bestmögliche Versorgung für Patienten und Patientinnen sichergestellt werden.
Bei der Versorgung auf den Unterschied achten Bei der täglichen Arbeit stoßen Pflegende immer wieder auf Unterschiede zwischen den Geschlechtern und damit auch auf eine Gender-sensible Versorgung. Sei es durch die geschilderten Symptome, die Krankheitsmanifestation oder das Ansprechen auf die Therapie. Eine aktuelle Übersicht von Krankheitsbildern unter geschlechterdifferenzierter Betrachtung.
Geschlecht und Gender beeinflussen Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod. Dabei spielen genetische, epigenetische und hormonelle Einflüsse des biologischen Geschlechts eine Rolle. Dazu kommen soziokulturelle Dimensionen des Geschlechts (engl. gender), die das Verhalten der Gesellschaft und damit auch das Verhalten von Ärzt*innen, Pflegenden und Patient*innen beeinflussen. Dass die unterschiedlichen biologischen und sozialen Gegebenheiten auch noch permanent interagieren, macht die individuellen Folgen noch komplexer.

Gender - in der Medizin zu wenig beachtet

Die geschlechterspezifische Differenziertheit bildet sich viel zu selten in präklinischen und klinischen Studien ab, hier sind Frauen heute noch unterrepräsentiert. Lange Zeit wurden die meisten Untersuchungen an Männern, männlichen Zellen oder auch männlichen Mäusen durchgeführt. Dabei ging man wider besseres Wissen davon aus, dass männliche und weibliche Zellen identisch sind. Erst in den 1990er Jahren forderten Forscherinnen und Gesundheitsbehörden, mehr Frauen in Studien einzuschließen. Denn wenn Geschlecht und Gender in Forschung und Klinik - speziell bei Diagnose, Prävention und Therapie - routinemäßig berücksichtigt werden, kommt das der Gesundheit beider Geschlechter zugute.
Koronare Herzkrankheit: Die koronare Herzkrankheit (KHK) ist das bekannteste Beispiel für Geschlechter-abhängige Unterschiede. Im Vergleich zu Männern sind Frauen, die an einer KHK leiden, durchschnittlich älter. Doch werden koronare Herzkrankheiten bei Frauen seltener erkannt und die Wahrscheinlichkeit, dass ein Myokardinfarkt prähospital diagnostiziert wird, ist geringer. Die Gründe liegen einerseits in der Pathogenese: Männer sind eher von einer obstruktiven koronaren Herzkrankheit der großen Gefäße betroffen als Frauen, bei denen die koronare mikrovaskuläre Dysfunktion häufiger der chronischen Myokardischämie ohne obstruktive koronare Herzkrankheit zugrunde liegt. Andererseits erhalten Frauen, die an einer ischämischen Herzerkrankung leiden, seltener als Männer eine evidenzbasierte Behandlung. Erleiden Frauen einen akuten Myokardinfarkt, erfolgt kaum eine Reperfusion. Auch die kardiovaskulären Risikofaktoren unterscheiden sich je nach Geschlecht. So sind ein hoher systolischer Blutdruck und Hypertonie, Rauchen sowie Diabetes mit einem höheren Myokardinfarkt-Risiko für Frauen verknüpft als für Männer.
Herzinsuffizienz: Herzinsuffizienz tritt bei Frauen erst in höherem Alter auf als bei Männern und ist auch seltener auf ischämische Ursachen zurückzuführen. Bluthochdruck und Diabetes prädisponieren ältere Frauen jedoch stärker für eine Herzinsuffizienz als Männer. Die Herzinsuffizienz mit erhaltener Ejektionsfraktion (HFpEF), eine Form der Herzinsuffizienz mit normaler systolischer Funktion, tritt bei Frauen doppelt so häufig auf. Dabei spielen Entzündungen und die daraus resultierende Fibrose eine pathogenetische Rolle. Von der Herzinsuffizienz mit verminderter Auswurffraktion (HFrEF) sind dagegen mehr Männer als Frauen betroffen.
Die Leitlinien für die Behandlung von Herzinsuffizienz sind für Frauen und Männer vergleichbar. Studien weisen jedoch darauf hin, dass Frauen mit einer niedrigeren als der empfohlenen Dosierung von Beta-Blockern, Angiotensin-Rezeptorblockern und ACE-Hemmern ein besseres Überleben erzielen. Schließlich erhalten weniger Frauen als Männer eine Herztransplantation, obwohl Frauen häufiger Spenderinnen sind, was auf eine mögliche Voreingenommenheit bei der Überweisung deuten könnte.
Krebserkrankungen: Krebserkrankungen sind nach Herz-Kreislauferkrankungen die zweithäufigste Todesursache in Deutschland. Dabei sind im Durchschnitt mehr Männer betroffen als Frauen. Das höhere Krebsrisiko von Männern lässt sich teilweise durch genderspezifische Faktoren wie Ess- und Trinkgewohnheiten oder Risikoverhalten wie Rauchen und Alkoholkonsum erklären. Rechnet man diesen Einfluss auf das Gesamtkrebsrisiko heraus, haben erwachsene Männer immer noch ein höheres Krebsrisiko als Frauen. Es wird vermutet, dass eine genetische Programmierung männlicher Zellen und der Einfluss von Sexualhormonen nach der Pubertät für diese biologische Prädisposition verantwortlich sind.
Für einige und teilweise häufige Tumorentitäten wie Darmkrebs oder Lungenkrebs stehen Präventionsstrategien zur Verfügung. Schätzungen des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) gehen davon aus, dass mindesten 37% aller Krebsneuerkrankungen über ein Risikofaktor-Management vermeidbar oder zumindest positiv beeinflussbar wäre. Darunter hat Tabakkonsum die größte Bedeutung - etwa jede fünfte Krebserkrankung in Deutschland ist dem Rauchen zuzuschreiben. Weiter sind Übergewicht, Bewegungsmangel, chronische Entzündungen oder ungesunde Ernährungsgewohnheiten wichtige Risikofaktoren.
Beispiel Rauchen: Im höheren Alter rauchen zwar noch deutlich mehr Männer als Frauen, bei Jugendlichen gibt es jedoch nahezu keine Geschlechterunterschiede mehr. Bei den Motiven für das Rauchen zeigen sich geschlechterbezogene Muster. Männer rauchen eher in Gesellschaft, während Frauen häufiger bei Stress und zur Gewichtsregulation zur Zigarette greifen. Daher sollten unter präventiven Gesichtspunkten bei Frauen Themen wie die Bewältigung von Stress oder die Sorge um Figur und Gewicht stärker berücksichtigt werden. Wichtig ist auch ein differenzierter Blick auf die "Zielgruppe Frauen". Besonders Frauen der unteren Bildungsgruppe und alleinerziehende Mütter sollten adressiert werden, da hier die Rauchprävalenz besonders hoch ist.
COPD: Die chronisch obstruktive Lungenerkrankung COPD galt früher eher als "Männerkrankheit". Diese Zeiten sind vorbei. Frauen erkranken etwa gleich häufig an einer COPD wie Männer, in jungen Jahren sogar deutlich häufiger. Der Grund: ihre Lungen sind besonders anfällig gegenüber Tabak und Noxen. Die Krankheitsmanifestation ist bei Frauen anders als bei Männern, so weisen sie etwa doppelt so häufig eine COPD mit chronischer Bronchitis auf. Frauen mit schwerer COPD haben ebenso häufig ein Emphysem wie Männer - entgegen dem Irrglauben, dass Emphysem sei eine männliche Form der chronisch obstruktiven Lungenerkrankung.
Frauen sind durch die Symptome Luftnot, Husten, depressive Verstimmung und Angst stärker in ihrer Lebensqualität belastet als Männer. Männliche Patienten leiden insbesondere unter der erhöhten Sputumproduktion. Frauen weisen dagegen eine höhere Hospitalisierungs- und Mortalitätsrate auf. Zudem leiden Frauen mit COPD überproportional häufig an Begleiterkrankungen wie Angst und Depression. Trotzdem erhalten Frauen mit COPD häufig eine falsche Diagnose. Daher sollte bei der Differenzialdiagnose von Frauen mit pulmonalen Symptomen unabhängig von der Tabak- oder Schadstoffexposition eine COPD in Betracht gezogen werden.
Gendermedizinische Daten zur Therapie sind rar. Es gibt Hinweise, dass Frauen stärker von einer Therapie mit Ipratropium profitieren als Männer. Weiter scheint sich die Kombination von Beta-2-Sympathomimetika mit anticholinergen Substanzen positiv auf die Lebensqualität auszuwirken. Die Verordnung inhalativer Steroide erfolgt seltener als bei COPD-kranken Männern, aber Psychopharmaka werden häufiger verschrieben.
Alzheimer: Die Alzheimer-Krankheit ist die häufigste Form der Demenz, und etwa zwei Drittel der an Alzheimer leidenden Menschen sind weiblich. Das Alter ist der größte Risikofaktor für die Erkrankung. Damit erklärt unter anderem die höhere Lebenserwartung die unverhältnismäßig hohe Krankheitslast von Frauen. Bedingungen wie Schwangerschaftshypertonie, frühe beidseitige Eierstockentfernung, frühe Menopause und ein später Beginn einer menopausalen Hormontherapie werden ebenfalls mit einem erhöhten Alzheimer-Risiko in Verbindung gebracht.
Frauen schneiden in den verbalen Gedächtnistests, die bei der Diagnose der Alzheimer-Krankheit eingesetzt werden, besser ab als Männer. Dieser Vorteil besteht bereits im präklinischen Stadium der Alzheimer-Krankheit, der "leichten kognitiven Beeinträchtigung", und trägt wahrscheinlich zu einer verzögerten oder verpassten Diagnose bei Frauen sowie zu einer falschen Diagnose der Erkrankung bei Männern bei.
Gegenwärtig gibt es keine Behandlungsmöglichkeiten für die Alzheimer-Krankheit; Cholinesterasehemmer und Memantin werden zur Linderung der Symptome verschrieben, um die kognitiven Funktionen zu Beginn des Krankheitsverlaufs aufrechtzuerhalten, ändern aber nicht die zugrunde liegende Pathophysiologie oder den Krankheitsverlauf. Es gibt jedoch Hinweise, dass Frauen seltener die therapeutische Dosis erhalten als Männer und neben den Cholinesterasehemmern andere Medikamente einnehmen, die die Kognition beeinträchtigen.
Typ-2-Diabetes: Die Raten von Typ-2-Diabetes liegen weltweit zwischen 9-10% und sind zwischen den Geschlechtern relativ ähnlich. Bei der Entstehung von Typ-2-Diabetes spielt das biologische Geschlecht eine Rolle: Eine gestörte Glukosetoleranz, die eine postprandiale Insulinresistenz widerspiegelt, kommt bei Frauen häufiger vor als bei Männern. Eine gestörte Nüchternblutglukose, die eine Nüchterninsulinresistenz widerspiegelt, findet sich hingegen bei Männern häufiger als bei Frauen. Für das Screening oder die Diagnose von Typ-2-Diabetes könnte daher der HbA1c-Wert, der die durchschnittliche Blutzuckerkonzentration der letzten drei Monate misst, besser geeignet sein als der Nüchternzucker oder der orale Glukosetoleranztest (OGTT).
Gonadenhormone wirken sich geschlechtsspezifisch auf die Pathophysiologie des Typ-2-Diabetes aus. So prädisponiert ein Östrogenmangel speziell Frauen in den Wechseljahren für einen Typ-2-Diabetes, der durch eine Östrogentherapie verhindert werden kann. In ähnlicher Weise kann eine Testosteronersatztherapie bei Männern mit Testosteronmangel das Fortschreiten von Prädiabetes zu Typ-2-Diabetes aufhalten. Ärzt*innen sollten daran denken, dass Typ-2-Diabetes bei Frauen ein größeres Risiko für schwerwiegende Folgen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen birgt als bei Männern. Daher sollten bei Typ-2-Diabetikerinnen die Risikofaktoren für Herz-Kreislauferkrankungen (Bluthochdruck, Dyslipidämie, Diabetes, Rauchen, Übergewicht und Bewegungsmangel) dringend ermittelt und Leitliniengemäß kontrolliert werden.
Auch im Ansprechen auf antidiabetische Medikamente gibt es Geschlechterunterschiede: Schlanke Männer reagieren mit einer stärkeren Senkung des Blutzuckerspiegels durch Sulfonylharnstoffe (welche die Insulinsekretion erhöhen) als schlanke Frauen. Frauen mit Übergewicht hingegen zeigen eine stärkere Senkung des Blutzuckerspiegels mit Glitazonen (welche die Insulinempfindlichkeit erhöhen) als Männer mit Übergewicht. Insgesamt ist Diabetes bei Frauen ein stärkerer Risikofaktor für das Auftreten von ischämischen Herzkrankheiten, Herzinsuffizienz, Schlaganfall, Krebs und Demenz als bei Männern.
Chronische Nierenerkrankung: Während Autoimmunität und Infektionen (z.B. Pyelonephritis) bei Frauen häufigere Ursachen für chronische Nierenerkrankungen sind als bei Männern, überwiegen bei Männern Bluthochdruck und Diabetes. Allerdings prädisponieren hypertensive Störungen in der Schwangerschaft Frauen für die Entwicklung einer chronischen Nierenerkrankung im späteren Leben. Es gibt Hinweise, dass Frauen bei der Diagnostik (z.B. Kreatininmessung) und Behandlung von chronischer Niereninsuffizienz benachteiligt werden.
Obwohl in der allgemeinen Bevölkerung mehr Frauen als Männer an chronischen Nierenerkrankungen leiden, werden mehr Männer mittels Dialyse behandelt (Verhältnis 6:4). Frauen spenden häufiger Nieren als Männer, erhalten aber seltener eine Nierentransplantation. Ältere Frauen entscheiden sich außerdem bevorzugt für eine konservative Versorgung, möglicherweise weil mehr ältere Frauen als Männer allein und ohne Pflegepersonal leben.

Literatur

  • Mauvais-Jarvis F et al. Lancet 2020;396:562-82; doi: 10.1016/S0140- 6736(20) 31561-0.
  • Robert Koch-Institut 2020. Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland; rki, 2020; https://​go.​sn.​pub/​gLkiCO

Fazit

Biologische und soziokulturelle Geschlechterunterschiede finden sich bei der Mehrzahl aller Erkrankungen.
An der Versorgung beteiligte Professionen sollten sich die Unterschiede zwischen Frauen und Männern bewusst machen.
Geschlechterunterschiede gibt es bezüglich Epidemiologie, Pathophysiologie, Krankheitsmanifestation und -verlauf, psychologischen Auswirkungen sowie beim Ansprechen und Erfolg einer Behandlung.
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Metadaten
Titel
Symptome und Therapie - eine Frage des Geschlechts
verfasst von
Dr. med. Carola Göring
Publikationsdatum
01.10.2022
Verlag
Springer Medizin
Schlagwort
Genderforschung
Erschienen in
Pflegezeitschrift / Ausgabe 11/2022
Print ISSN: 0945-1129
Elektronische ISSN: 2520-1816
DOI
https://doi.org/10.1007/s41906-022-1939-8

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