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Erschienen in: Pflegezeitschrift 11/2022

01.10.2022 | Schluckstörungen | Pflege Praxis Zur Zeit gratis

Brei ist nicht gleich Brei

verfasst von: Simon Sollereder, Christoph Palli, Sandra Mack

Erschienen in: Pflegezeitschrift | Ausgabe 11/2022

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Zusammenfassung

Die Modifikation der Textur von Speisen und Flüssigkeiten ist gängige Technik in der Betreuung von Patient*innen mit Schluckstörungen und hat das Ziel, die orale Ernährung zu gewährleisten. Die International Dysphagia Diet Standardisation Initiative (IDDSI) hat die Bestrebung, Prüftechniken und Bezeichnungen für Nahrungsmittel auf der Grundlage der Schluckphysiologie weltweit zu vereinheitlichen und die Sicherheit der Patient*innen zu erhöhen. Ziel des Beitrags ist es daher, die Herausforderungen in der Betreuung von Patient*innen mit Schluckstörungen zu benennen, die schluckphysiologische und interdisziplinäre Motivation für die Erstellung und Verbreitung des IDDSI-Grundgerüsts zu erklären und Vorteile der Implementierung darzulegen, die für die Pflege und für Patient*innen entstehen.
Hinweise

Supplementary Information

Zusatzmaterial online: Zu diesem Beitrag sind unter https://​doi.​org/​10.​1007/​s41906-022-1956-7 für autorisierte Leser zusätzliche Dateien abrufbar.
Die Versorgung von Patient*innen mit Schluckstörungen verbessern Ein fehlender interdisziplinärer Konsens bei der Bezeichnung und Einteilung konsistenz-modifizierter Koststufen hat weitreichende Konsequenzen für schluckgefährdete Patient*innen. Die International Dysphagia Diet Standardisation Initiative (IDDSI) bietet erstmals eine evidenzbasierte Klassifikation von Koststufen für alle am Rehabilitationsprozess beteiligten Berufsgruppen: Eine Chance für Patient*innen. Und für die Pflege.
Schluckstörungen, auch Oropharyngeale Dysphagien (OD) genannt, beschreiben differenzierte Schwierigkeiten einer sicheren, effizienten und damit erfolgreichen Nahrungsverarbeitung und -beförderung unabhängig von der Ätiologie mit folgenschweren Konsequenzen für den Ernährungs- und Gesundheitszustand und damit für die Lebensqualität der primär und sekundär Betroffenen (Buchholz 1996, Warnecke, Dziewas 2018). Die OD ist ein dabei weit verbreitetes Symptom bei einer Vielzahl von klinischen Bildern und betrifft alle Altersgruppen oder Pflegesettings. Malnutrition und Dehydration sowie rezidivierende Pneumonien sind, neben der unmittelbaren Gefahr einer Atemwegsverlegung durch zu große Speisepartikel, hoch relevante, medizinische und lebensbedrohende Risiken. Sie stellen hohe Anforderungen an das klinische, institutionelle und ökonomische Management (Allen et al. 2020).
Restituierende, kompensatorische und adaptive Ansätze bilden traditionelle Säulen in der Rehabilitation von OD. Die Modifikation textur-spezifischer Aspekte von Speisen und die rheologische Veränderung von Flüssigkeiten sind dabei gängige Techniken mit dem Ziel, die orale Ernährung bei gleichzeitig hoher Sicherheit und Effizienz zu gewährleisten (Steele et al. 2015). Diese Diätmodifikationen verringern typischerweise die Fließgeschwindigkeit von Flüssigkeiten und reduzieren Weichheit, Klebrigkeit und Partikelgröße von Speisen, um die orale Verarbeitung, Kauprozesse sowie ein sicheres Schlucken zu ermöglichen. Eine besondere Rolle in der Betreuung von OD kommt dem interprofessionellen Management zwischen Pflege und Logopädie zu. Patient*innen vertrauen dabei der fachlichen Expertise und der engen Zusammenarbeit innerhalb der unterschiedlichen Berufsgruppen.
Die konsequente Sicherung oraler Ernährung unter Zuhilfenahme von Konsistenzmodifikationen steht jedoch aus grundlagenwissenschaftlicher und klinischer Perspektive vor Herausforderungen, die eine Gefährdung in der Behandlung von Patient*innen mit Schluckstörungen mit sich bringen: Während lebensmittelphysikalische Eigenschaften von Speisen und Flüssigkeiten sowie oralphysiologische Parameter einen erheblichen Einfluss auf die Schluckfähigkeit haben, wird dies bei der Charakterisierung von Schluckstörungen, der daraus abgeleiteten Kostformen und der Zubereitung in den Küchen von Krankenhäusern, Rehabilitationszentren oder Pflegeheimen nicht beachtet. Die Beurteilung von Texturen und Konsistenzen durch Pflegende und Therapierende ist nicht nachvollziehbar, höchst subjektiv und variiert stark (Cichero et al. 2013). Die fehlende Transparenz und Nachvollziehbarkeit betrifft dabei alle Berufsgruppen innerhalb des Dysphagiemanagements wie Küchentechnik, Pflege, Diätologie und Logopädie, aber allen voran die Zusammenarbeit zwischen den Professionen (Pirker-Neuwirth et al. 2020). Es besteht kein gemeinsamer Konsens in der Bezeichnung, Herstellung, Zuordnung, Testung und Darreichung modifizierter Lebensmittel. Diese sollen einerseits evidenzbasiert und texturreich hergestellt, zuverlässig vergleich- und beurteilbar sowie andererseits konsequent angereicht werden. Dies hat weitreichende Konsequenzen für schluck- und ernährungsgefährdete Patient*innen.

Mit IDDSI Dysphagien managen

Die Entwicklung einer Standardisierung der Terminologie, der Klassifikation und der Testbarkeit von Schluckdiäten war daher deutlich indiziert. 2017 wurde mit der International Dysphagia Diet Standardisation Initiative (IDDSI) ein interdisziplinäres, kultursensibles und weltumspannendes Projekt gestartet, um global einheitliche Bezeichnungen und allgemeingültige Testmethoden für textur-modifizierte Speisen und Getränke zu etablieren (Cichero et al. 2017, Kraemer et al. 2019). Die Grundstruktur der IDDSI ermöglicht erstmals interdisziplinär konsentierte und evidenzbasierte Prüftechniken sowie Einteilungsmöglichkeiten von texturmodifizierten Speise- und Getränkestufen für Patient*innen mit OD im inner- und außerklinischen Setting (Abb. 1).
Damit bietet IDDSI für alle Beteiligten am Dysphagiemanagement die Möglichkeit einer einheitlichen Sprache. Als höchstes Ziel für die Entwicklung dieses Projekts steht die Patient*innensicherheit. Die Standardisierung der Speise- bzw. Flüssigkeitsstufen wird auf einer gemeinsamen 8-stufigen Skala (0-7) mit lizenzierten Definitionen, Zahl- und Farbkodierungen sowie peer-kontrollierten Übersetzungen international gewährleistet. Durch einfache und nachvollziehbare Testungen zur Feststellung der Konsistenzen (z.B. IDDSI-Fließtest, Löffel-Kipptest oder Gabel-Drucktest) ermöglicht IDDSI, Speisenkonsistenzen standardisiert und evidenzbasiert in der klinischen Routine zu testen und herzustellen. Die Evidenzbasierung betrifft dabei vorrangig die oralmotorischen und schluckphysiologischen Grundlagen, da IDDSI Aspekte wie Fließgeschwindigkeit, Zungendruck, Boluskohäsion und -adhäsion oder Partikelgröße berücksichtigt und als Parameter für die Zuordnung zu den IDDSI-Stufen heranzieht. Neben zahlreichen Ressourcen sind auch Hilfestellungen für eine erfolgreiche Implementierung bereits vorhanden (Sollereder 2021).

IDDSI als Chance für die Pflege

Pflegepersonen sind die größte Berufsgruppe innerhalb des Gesundheitswesens und befinden sich in der wichtigen Position, klinisch relevante Verhaltensänderungen bei Klient*innen und Patient*innen auszulösen und damit eine Veränderung ihrer Gesundheitsversorgung herbeizuführen (Grady & Gough 2014). Die Aktivitäten des täglichen Lebens mit allen dazugehörigen Ressourcen, Defiziten und Problemen gehören zu den Hauptaufgaben von Pflegenden und beinhalten damit auch den Ernährungszustand von Patient*innen. Das Ess- und Trinkverhalten wird im Rahmen der Anamnese mittels verschiedenster Instrumente erhoben. Dadurch können Pflegeprobleme abgeleitet und Pflegediagnosen erstellt werden, die eine Maßnahmenplanung nach sich ziehen. In vielen Bereichen zählt ein interdisziplinärer Austausch zu den Strategien einer ausführlichen Anamnese, um einen holistischen Blick auf die Situation der Patient*innen zu erhalten. Dies trifft besonders auf Bereiche zu, in denen Patient*innen mit OD versorgt werden. Aus der Literatur geht hervor, dass Pflegende in der Lage sind, Patient*innen und deren Familienangehörigen den Behandlungsplan in angepasster Sprache zu vermitteln. Sie nehmen damit erheblichen Einfluss auf das Dysphagiemanagement (Lutz et al. 2011). In der Kommunikation mit Patient*innen und deren Angehörigen sowie im interdisziplinären Austausch wird empfohlen, IDDSI als Standard für Konsistenzbezeichnungen zu verwenden, um eine nachvollziehbare Patient*innenbeobachtung und Evaluation zu gewährleisten.

Herausforderungen für Betroffene und Pflegende

Zusätzlich zur Versorgung bereits bestehender Pflegeprobleme sind Pflegepersonen maßgeblich für die Verhütung und Prävention von gesundheitlichen Schäden verantwortlich. Neben beispielsweise Sturz- oder Thrombosepräventionen ist im Dysphagiemanagement besonders die Aspirationspneumonieprophylaxe hervorzuheben. Um diese adäquat durchzuführen, benötigt es Kompetenzen für eine genaue Anpassung der Ernährung. Es ist wichtig, die Fließgeschwindigkeiten von Flüssigkeiten zu reduzieren, um einer Aspirationspneumonie vorzubeugen. Die negativen Auswirkungen von Andickungsmitteln sind dabei bekannt: Zu stark angedickte Flüssigkeiten führen am Eingang der Atemwege zu Rückständen (Newman et al. 2016). Die Bioverfügbarkeit von Medikamenten ist bei der Einnahme von Flüssigkeiten mit steigender Andickung problematisch und die orale Sensibilität sowie Geschmackswahrnehmung leidet. Dies führt zu Compliance-Hindernissen und letztlich zu einer Reduzierung der Flüssigkeitsaufnahme. Daher ist eine evidenzbasierte, zuverlässige und vergleichbare Bestimmung der Fließgeschwindigkeit unumgänglich. Die Benutzung der IDDSI-Prüftechniken stellt dies jedoch sicher.
Bei einer Entlassung aus dem Krankenhaus finden Patient*innen und deren Angehörige eine gänzlich veränderte Lebenssituation vor. Die Fähigkeit zu essen und zu trinken ist stark mit der Lebensqualität verbunden und Menschen mit Dysphagie sind einem hohen Risiko ausgesetzt, eine Reihe erheblicher physiologischer, sozialer und psychosozialer Probleme zu erleiden (D.A. 2007). Zu den Folgen einer OD gehören Angstzustände während der Mahlzeiten, die zu einer verminderten oder veränderten Nahrungsaufnahme führen und in Gewichtsabnahme, Depression, Frustration sowie sozialer Isolation münden können (Keller et al. 2012). Betroffene mit Dysphagie beschreiben negative Gefühle im Übergang von normaler hin zu texturveränderter Nahrung (Ullrich & Crichton, 2015). Als Folge ändern sie die Art und Weise der Nahrungsaufnahme und aus Angst vor Peinlichkeiten werden soziale Situationen und Familienroutinen vermieden. Die Wahrnehmung von Lebensmitteln, einschließlich der Wertschätzung und des Genusses von Essen, verändert sich und führt zu einem verringerten psychischen Wohlbefinden (Lang et al. 2013, Nund et al. 2015, Ottosson et al. 2013).
Auch Familienmitglieder und Freunde sind negativ von der Erkrankung betroffen, da sie häufig als informelle Pflegekräfte in den Pflegeprozess eingebunden werden. Unabhängig von der Ätiologie der Dysphagie kann die Pflege von Personen mit Dysphagie zu einer außerordentlichen körperlichen und emotionalen Belastung führen (Bassi et al. 2020, Miller et al. 2006). Eine klare Kommunikation und eine professionelle sowie fundierte Empfehlung bezüglich des Dyspagiemanagements gibt den Betroffenen jedoch ein Gefühl von Sicherheit. IDDSI kann die Entlassung aus dem Krankenhaus und die häusliche Versorgung qualitativ unterstützen, indem Pflegende befähigt werden, die Techniken für eine adäquate Versorgung zu Hause an Patient*innen sowie deren Angehörige weiterzugeben.
Die Literaturliste finden Sie online auf springerpflege.de und im eMag der PflegeZeitschrift

Fazit

IDDSI ist eine Möglichkeit, um einheitliche Bezeichnungen und allgemeingültige Testmethoden für texturmodifizierte Speisen und Getränke zu etablieren.
IDDSI ermöglicht interdisziplinär konsentierte und evidenzbasierte Prüftechniken für Patient*innen mit OD im inner- und außerklinischen Setting.
Die Anwendung von IDDSI und deren standardisierter Terminologie sowie den evidenzbasierten Prüftechniken durch Pflegepersonen aller Ausbildungsstufen wird empfohlen. Dies gilt für alle Bereiche, in denen Pflegepersonen mit Menschen arbeiten, die an einer Dysphagie leiden.

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Metadaten
Titel
Brei ist nicht gleich Brei
verfasst von
Simon Sollereder
Christoph Palli
Sandra Mack
Publikationsdatum
01.10.2022
Verlag
Springer Medizin
Schlagwort
Schluckstörungen
Erschienen in
Pflegezeitschrift / Ausgabe 11/2022
Print ISSN: 0945-1129
Elektronische ISSN: 2520-1816
DOI
https://doi.org/10.1007/s41906-022-1956-7

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