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26.02.2024 | Geburtshilfe | Interview | Online-Artikel

Interview

Professionelle Hilfe bei Trisomie 21

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Tatjana Scheel

Für viele Eltern ist die Diagnose „Down-Syndrom“ ein Schock. Die Kinder- und Jugendärztin Dr. Tatjana Scheel aus der Trisomie-21-Sprechstunde am kbo Kinderzentrum München erklärt, wie die betroffenen Familien aktiv unterstützt werden können.

© T. ScheelDr. Tatjana Scheel, Kinder- und Jugendärztin am kbo Kinderzentrum München, © T. Scheel

Durch fortgeschrittene Methoden der Pränataldiagnostik lassen sich Chromosomenanomalien sehr früh feststellen. Was stehen Sie zu diesen vorgeburtlichen Untersuchungen?

Die Frage der pränatalen Diagnostik, insbesondere im Kontext von Methoden wie dem NIPT, berühren sehr sensible ethische und moralische Aspekte. Im Kinderzentrum betonen wir, dass Vielfalt ein wesentlicher Bestandteil unserer Gesellschaft ist und jeder Mensch, unabhängig von genetischen Unterschieden, ein lebenswertes Leben führen kann. Menschen mit Down-Syndrom und ihre Angehörigen sind wertvolle Mitglieder unserer Gesellschaft. Die Vielfalt, die sie repräsentieren, bereichert unsere Welt und vergegenwärtigt uns, dass die Würde und der Wert jedes einzelnen Menschen von höchster Bedeutung ist.

Die Entscheidung, pränatale Tests durchzuführen, ist eine persönliche Wahl, die individuellen Überzeugungen und Umständen unterliegt. Grundsätzlich sollte jede Schwangere diese freiwillig treffen und nicht dazu gedrängt werden. Man sollte auch wissen, welche Diagnose welcher Test „sucht“ und dass es auch andere seltene Erkrankungen gibt, die nicht erfasst werden. Die Schwangere sollte den Test nicht mit der Einstellung machen lassen, „wird schon gut gehen“, sondern mit einem Plan, was sie macht, wenn er positiv ist. Und: Es kann falsch positive und falsch negative Ergebnisse geben. In dieser Diskussion gilt es Respekt und Empathie zu wahren und zu verstehen, dass Menschen unterschiedliche Entscheidungen treffen, basierend auf ihren eigenen Überzeugungen, Bedürfnissen und Lebensumständen.

Was erleben Eltern von außen, wenn sie sich bei bekannter Diagnose gegen eine Abtreibung und für ein Kind mit Trisomie 21 entscheiden?

Manche Eltern hören Sätze wie „Das muss doch heutzutage nicht mehr sein“. Damit muss man umgehen können. Andererseits erleben wir die Eltern, die sich dafür entschieden haben, als sehr stark. Sie haben sich meist gut mit der Diagnose beschäftigt und sind sich bewusst, dass ihr Kind besonders sein wird. Die Eltern akzeptieren die Diagnose viel besser, wenn sie sich in der Schwangerschaft für das Kind entscheiden haben.

Wie ist es möglich, die Diagnose „Trisomie 21“ den Eltern einfühlsam zu vermitteln?

Die Situation, in der den Eltern die Diagnose vermittelt wurde, brennt sich allen Eltern ein. Es ist ein entscheidender Moment im Leben und prognostisch entscheidend für die Eltern-Kind-Beziehung.

Das Gespräch darüber sollte definitiv nicht zwischen Tür und Angel stattfinden, sondern an einem ruhigen, ungestörten Ort mit beiden Eltern. Es muss ausreichend Zeit vorhanden sein, um Emotionen zuzulassen und Informationen zu übermitteln. Die Diagnose ist für Eltern ein Schock. Das sollten professionelle Helfer akzeptieren und aushalten. Es gilt auch, nicht zu früh trösten und keine Prognosen in dieser Situation zu geben.

Kann schon in der Schwangerschaft etwas getan werden, um die Prognose von Kindern mit Trisomie 21 zu verbessern?

Wichtig ist, dass sich die Schwangere mit der Entscheidung, die sie getroffen hat, wohlfühlt und die Schwangerschaft gut verläuft. Die Vorsorgeuntersuchungen sollten regelmäßig durchgeführt werden. Zur Geburt sollte man in eine Klinik gehen; von Hausgeburten oder Geburtszentren raten wir ab.

Was kommt nach der Geburt auf die Familien zu und wie können Hebammen die besonderen Bedürfnisse dieser Kinder im Wochenbett berücksichtigen?

Wie bei jedem anderen Kind auch, ist die erste Bindung das Wichtigste. Kinder mit Trisomie 21 haben keine anderen Bedürfnisse als andere Kinder. Ein Organ-Screening wird allerdings anstehen. Sollte ein Herzfehler vorliegen oder eine andere Fehlbildung, muss das Kind natürlich perinatal versorgt oder auch operiert werden. Dann sollte in einem spezialisierten Zentrum entbunden werden.

Was gilt für die Stillberatung und bei der Beikosteinführung?

Grundsätzlich gibt es keine Unterschiede. Bei den meisten Säuglingen funktioniert beides gut und ohne Probleme. Sollte das Kind sehr hypoton sein und eine Saugschwäche haben, können spezialisierte Physiotherapeuten oder Logopäden hinzugezogen werden. Ein besonderes Hilfsangebot ist das Castillo Morales®-Konzept.

Wie können die Entwicklung von Motorik, Sprache und neuropsychologischen Fähigkeiten gezielt ab dem Säuglingsalter gefördert werden?

Gefördert werden sollte, wenn das Kind Rückstände zeigt. Es geht also nicht darum, um der Förderung oder der Diagnose willen zu fördern. In unserer Sprechstunde sehen wir den aktuellen Entwicklungsstand des Kindes und fördern dann entsprechend der Rückstände. Ein Kind, das zum Beispiel mit vier Jahren motorisch aktiv ist und nicht sprechen kann, wird frustriert sein und eventuell mit Verhaltensauffälligkeiten reagieren, also braucht es Logopädie. Eines, das mit vier Jahren nicht läuft und Zwei-Wort-Sätze spricht, ist frustriert, weil es Gleichaltrigen nicht „hinterherkommt“. Es braucht also Physiotherapie. Die Kinder haben im Verlauf sicher eine unterdurchschnittliche Intelligenz. Das sollte bei aller Förderung klar sein.

Wir erleben durch die sozialen Medien immer wieder Eltern, die meinen, etwas zu verpassen. Auch ein Kind mit Trisomie 21 darf und muss Zeit zum Spielen haben. Ob Eltern Co-Therapeuten sein sollen, wollen oder müssen, ist in den verschiedenen Therapieformen sehr unterschiedlich. Eltern dürfen das für sich entscheiden.

Wo und in welcher Form können Eltern Unterstützung finden?

In den Sprechstunden für Kinder mit Trisomie 21 in Deutschland können der Entwicklungsstand und die Empfehlungen für Förderungen festgestellt werden. Es reicht, das Kind im Alter von drei Monaten das erste Mal zu untersuchen. In München sehen wir die Kinder dann circa halbjährlich oder jährlich, im Jugendalter etwa alle zwei Jahre. Informationen zu Sprechstunden und weiteres Material gibt es über das Deutsche Down-Syndrom Infocenter.

Die Eltern sollten auch über ihre sozialrechtlichen Möglichkeiten aufgeklärt werden. Ob sie dann zum Beispiel einen Behindertenausweis beantragen oder nicht, ist ihre Sache. Eltern haben in Deutschland keine finanziellen Nachteile, wenn sie die üblichen Förderungen in Anspruch nehmen und speziell fördernde Kindergärten und Schulplätze.

Was sollten Hebammen, die mit betroffenen Familien arbeiten, unbedingt wissen?

Wenn die Diagnose nicht bekannt ist und Sie sie vermuten, lassen Sie der Mutter Zeit. Wenn das Kind stabil ist, ist die erste Bindung wichtiger als die Diagnose. Versuchen Sie, die Mutter selbst auf die Idee kommen zu lassen, dass da etwas „besonders“ ist. Bis dahin hat es das Baby geschafft, seine Mutter an sich zu binden, und sie ist stark genug für weitere Schritte. Die meisten Säuglinge mit Trisomie 21 sind sehr pflegeleicht. Sie schlafen meist gut, sind ausgeglichen und fröhlich. Die meisten entwickeln sich im ersten Lebenshalbjahr fast normal. Die möglichen körperlichen Auffälligkeiten (Sehen, Hören, Herz, Schild­drüse) müssen allerdings auch beachtet werden. Das bedeutet anfangs viele Arztbesuche, die aber auch wichtig sind. Die Diagnose ist der „Abschied vom gesunden Wunschkind“. Das darf betrauert werden. Die meisten Eltern schaffen das nach ein paar Wochen sehr gut. Manche haben gar kein Problem, manche verarbeiten es zu zweit oder mit der weiteren Familie, manche brauchen andere Eltern und weitere psychotherapeutische Begleitung.

Das Interview führte Lea Stief

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