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2020 | OriginalPaper | Buchkapitel

4. Exkurs: Migration und Krankheit im Spiegel des Judentums

verfasst von : Wolfgang Straßer

Erschienen in: Interkulturelle Kommunikation in der Medizin

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

Zusammenfassung

Flucht- und Migrationsbewegungen bringen Menschen nach Europa, die aus ihren bisherigen kulturellen wie sozialen Lebenszusammenhängen und religiösen Verwurzelungen herausgerissen und „in eine völlig neue soziokulturelle Lebenskonstellation hineingeworfen“ werden. Im Kontext einer in der jüdischen Glaubensgemeinschaft lebendigen Erinnerungskultur werden Schlüsseltexte der hebräischen Bibel zu wesentlichen Bewältigungsbausteinen, indem sie zum einen äußerliche Katastrophenerfahrungen (physische Gewalt, Zerstörung; soziale Ausgrenzung) wie innere Katastrophenphänome (psychische Not, Krankheit; Fremdheit) in einem sprachlich-religiösen Sinnhorizont reflektieren. Der Mensch erfährt seine Krankheitsphänomene nicht nur als Bedrohung seiner psychosomatischen Integrität, sondern gleichermaßen als soziale Isolation und religiöse Entfremdung und damit als Zerstörung seiner ganzen bisherigen Lebenswelt.
Fußnoten
1
Beispielsweise Arbeitssklaverei in Ägypten und Exodus; Zerstörung, Deportation und Exil in Babylon; Unterdrückung und Ausbeutung im Imperium Romanum; Diaspora und Verfolgung im christlichen Europa.
 
2
Der Begriff „Monotheismus“ steht für die Betonung der Einzigkeit Gottes und die religiöse Bindung an diesen einen Gott (2. Mose 20,2–6). Ethisch ist dieser Monotheismus vor allem im unbedingten Gebot der Gottes- und Nächstenliebe (3. Mose 19,18; 5. Mose 6,5), dem Respekt vor der Würde des Mitmenschen und der Beachtung der sozialen Rechte (2. Mose 23,1–19).
 
3
„Wie Unversehrtheit und Gesundheit zur Leibsphäre gehören, so Integrität und Lebendigkeit zur Sozialsphäre“ (konstellativer Personenbegriff. In: Janowski, B., (2013) Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn, S 36 ff., S 44
 
4
Zur offenen Diskussion, inwieweit aus der spätantiken griechischen Philosophie das Konzept des Leib-Seele-Dualismus in die Anthropologie des rabbinischen Judentums mit eingeflossen ist (oder nicht), s. Morgenstern, M., Der ganze Mensch der Tora, Anmerkungen zur Anthropologie des rabbinischen Judentums. In: Janowski, B. (Hrsg.), Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte, (Akademie-Verlag), Berlin 2012, S. 241 ff.
 
5
Dies geht soweit, dass zahlreiche Funktionen der Körperteile (Ohr, Nase, Hand, Gesicht, Auge, Kopf, Fuß u. a.) in ihrer Kommunikations- und Handlungsfähigkeit als Stellvertreterausdrücker der Person fungieren.
 
6
Zum anthropologischen Bedeutungsspektrum des Herzens als gottgeleitete (5. Mose 6,4–9 als Schlüsseltext) „Mitte der Person“ s. differenziert Janowski, B., Das Herz – ein Beziehungsorgan. Zum Personverständnis des Alten Testaments. in: ders., Das hörende Herz. Beiträge zur Theologie und Anthropologie des Alten Testaments 6, (Vandenhoeck&Ruprecht Verlag), Göttingen 2018, S. 39 ff.
 
7
Zu den Klageliedern des Einzelnen gehören die Psalmen 3–7;11;13;16;17;22–23;26–28;31;35–36;38;40–43;54;57;59;61;62;64;69;71;86;88;92;102;109;120;130;140–143. Danklieder des Einzelnen sind Psalm 9;30;32;63;116;118;138; zur typischen Struktur der Klage- und Danklieder s. Gerstenberger, E.S., Arbeitsbuch Psalmen, (Kohlhammer-Verlag), Stuttgart 2015, S. 26.30 f. 32 f.
 
8
Janowski spricht hier vom „Dialogcharakter“, der die anthropologischen Texte der hebräischen Bibel insgesamt auszeichnet.
 
9
Zum Begriff und Verständnis der jüdischen Tora, s. Nachama, A.,/Homolka, W./Bomhoff, H., Basiswissen Judentum (Herder-Verlag) Freiburg 2015, S. 47 ff.
 
10
Dahinter steht das religiöse Paradigma, dass Heilung von Gott kommt: „Ich, der Ewige, bin dein Arzt“ (2. Mose 15,26); vgl. auch Psalm 30,3; dazu gehört in der jüdischen Gebetstradition, Gott als Heiler aufzurufen, so z. B. im zentralen Achtzehngebet („Amida“) s. Ahren, Y., Jüdische Gebete um Gesundheit von Seele und Körper. In: Probst, S. M. (Hrsg.), Die Begleitung Kranker und Sterbender im Judentum. Bikkur Cholim, jüdische Seelsorge und das jüdische Verständnis von Medizin und Pflege. Heintrick & Hentrich Verlag, Berlin, S. 18 f.
 
11
Gerade dieser Faktor der nicht monokausalen Sicht des Leides macht die entsprechenden Psalmentexte übertrag- und verwendbar; vgl. dazu auch Schoeps, H. J., Ein weites Feld, Haude & Spener, Berlin (1980), S. 131.
 
12
s. Nachama, A./Homolka, W./Bomhoff, H., Basiswissen Judentum (Herder-Verlag) Freiburg 2015, S. 59; anders als in der christlichen Verwendung werden die Psalmen im Judentum nicht als Gebetstexte verwendet (dies gilt nur für rituell vorgeschriebene Texte), sondern ‚gesprochen‘ (dankenswerter Hinweis von Prof. Dr. Matthias Morgenstern).
 
13
s. Anm. 10, S. 20.
 
14
Ahren, Y., Anm.10, S. 27 spricht hier davon, dass jeder Arzt als Schaliach Gottes angesehen wird, „der eine heilige Arbeit verrichtet.“
 
Literatur
Zurück zum Zitat Ahren Y (2017) Jüdische Gebete um Gesundheit von Seele und Körper. In: Probst SM (Hsrg) Die Begleitung Kranker und Sterbender im Judentum. Bikkur Cholim, jüdische Seelsorge und das jüdische Verständnis von Medizin und Pflege. Heintrick & Hentrich Verlag, Berlin, S 17 Ahren Y (2017) Jüdische Gebete um Gesundheit von Seele und Körper. In: Probst SM (Hsrg) Die Begleitung Kranker und Sterbender im Judentum. Bikkur Cholim, jüdische Seelsorge und das jüdische Verständnis von Medizin und Pflege. Heintrick & Hentrich Verlag, Berlin, S 17
Zurück zum Zitat Albertz R (1992a) Artikel Mensch II. In: Müller G (Hrsg) Theologische Realenzyklopädie, Bd. XXII. De Gruyter, Berlin, S 464–474 Albertz R (1992a) Artikel Mensch II. In: Müller G (Hrsg) Theologische Realenzyklopädie, Bd. XXII. De Gruyter, Berlin, S 464–474
Zurück zum Zitat Albertz R (1992b) Artikel Mensch II, TRE XXII, S 465 f. Albertz R (1992b) Artikel Mensch II, TRE XXII, S 465 f.
Zurück zum Zitat Di Vito RA (2012) Alttestamentliche Anthropologie und die Konstruktion personaler Identität. In: Janowski B (Hrsg), Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte. Akademie-Verlag, Berlin, S 133 (zur persönlichen, ökonomischen und rechtlichen Einbettung des hebräischen Individuums s. insg. S 133–138) Di Vito RA (2012) Alttestamentliche Anthropologie und die Konstruktion personaler Identität. In: Janowski B (Hrsg), Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte. Akademie-Verlag, Berlin, S 133 (zur persönlichen, ökonomischen und rechtlichen Einbettung des hebräischen Individuums s. insg. S 133–138)
Zurück zum Zitat Gerstenberger ES (2015) Arbeitsbuch Psalmen. Kohlhammer, Stuttgart Gerstenberger ES (2015) Arbeitsbuch Psalmen. Kohlhammer, Stuttgart
Zurück zum Zitat Gmainer-Pranzl F (2018) Migration als locus theologicus. Überlegungen und Anstöße aus interkulturell-theologischer Perspektive. In: von Bendemann R, Tiwald M (Hrsg), Migrationsprozesse im ältesten Christentum (Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament Bd 218); Kohlhammer, Stuttgart, S 279–297 Gmainer-Pranzl F (2018) Migration als locus theologicus. Überlegungen und Anstöße aus interkulturell-theologischer Perspektive. In: von Bendemann R, Tiwald M (Hrsg), Migrationsprozesse im ältesten Christentum (Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament Bd 218); Kohlhammer, Stuttgart, S 279–297
Zurück zum Zitat Janowski B (2002) Artikel Mensch IV. Altes Testament, In: Betz HD et al (Hrsg), Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), Bd 5. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen, S 1057 Janowski B (2002) Artikel Mensch IV. Altes Testament, In: Betz HD et al (Hrsg), Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), Bd 5. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen, S 1057
Zurück zum Zitat Janowski B (2008) Der ganze Mensch im Alten Israel. In: Janowski B (Hrsg), Die Welt als Schöpfung. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 4. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn, S 112; dies geht soweit, dass zahlreiche Funktionen der Körperteile (Ohr, Nase, Hand, Gesicht, Auge, Kopf, Fuß u. a.) in ihrer Kommunikations- und Handlungsfähigkeit als Stellvertreterausdrücker der Person fungieren und bestimmte, s. dazu: Anm. 4, S 36, 55 Janowski B (2008) Der ganze Mensch im Alten Israel. In: Janowski B (Hrsg), Die Welt als Schöpfung. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 4. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn, S 112; dies geht soweit, dass zahlreiche Funktionen der Körperteile (Ohr, Nase, Hand, Gesicht, Auge, Kopf, Fuß u. a.) in ihrer Kommunikations- und Handlungsfähigkeit als Stellvertreterausdrücker der Person fungieren und bestimmte, s. dazu: Anm. 4, S 36, 55
Zurück zum Zitat Janowski B (2009) „Heile mich, denn ich habe an dir gesündigt“ (Psalm 41,5): Zum Konzept von Krankheit und Heilung im Alten Testament. In: Thomas G, Karle I (Hrsg), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch. Kohlhammer, Stuttgart, S 49 Janowski B (2009) „Heile mich, denn ich habe an dir gesündigt“ (Psalm 41,5): Zum Konzept von Krankheit und Heilung im Alten Testament. In: Thomas G, Karle I (Hrsg), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch. Kohlhammer, Stuttgart, S 49
Zurück zum Zitat Janowski B (2013) Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn, S 36 ff., S 44 [„Wie Unversehrtheit und Gesundheit zur Leibsphäre gehören, so Integrität und Lebendigkeit zur Sozialsphäre“ (konstellativer Personenbegriff)] Janowski B (2013) Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn, S 36 ff., S 44 [„Wie Unversehrtheit und Gesundheit zur Leibsphäre gehören, so Integrität und Lebendigkeit zur Sozialsphäre“ (konstellativer Personenbegriff)]
Zurück zum Zitat Janowski B (2016) Wie spricht das Alte Testament von „Personaler Identität“? Ein Antwortversuch. In: Bons E, Finsterbusch K (Hsrg), Konstruktionen individueller und kollektiver Identität (!) Biblisch-theologische Studien 161. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn, S 34 Janowski B (2016) Wie spricht das Alte Testament von „Personaler Identität“? Ein Antwortversuch. In: Bons E, Finsterbusch K (Hsrg), Konstruktionen individueller und kollektiver Identität (!) Biblisch-theologische Studien 161. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn, S 34
Zurück zum Zitat Morgenstern M (2012) Der ganze Mensch der Tora, Anmerkungen zur Anthropologie des rabbinischen Judentums. In: Janowski B (Hrsg), Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte. Akademie-Verlag, Berlin, S 235–264 Morgenstern M (2012) Der ganze Mensch der Tora, Anmerkungen zur Anthropologie des rabbinischen Judentums. In: Janowski B (Hrsg), Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte. Akademie-Verlag, Berlin, S 235–264
Zurück zum Zitat Nachama A et al. (2015) Basiswissen Judentum. Herder-Verlag, Freiburg Nachama A et al. (2015) Basiswissen Judentum. Herder-Verlag, Freiburg
Zurück zum Zitat Otto E (2005) Magie – Dämonen – göttliche Kräfte. Krankheit und Heilung im Alten Orient und im Alten Testament. In: Ritter WH, Wolf B (Hrsg), Heilung – Energie – Geist. Heilung zwischen Wissenschaft, Religion und Geschäft, Ritter. Verlag Vandenhoeck & Rupprecht, Göttingen, S 208–225 Otto E (2005) Magie – Dämonen – göttliche Kräfte. Krankheit und Heilung im Alten Orient und im Alten Testament. In: Ritter WH, Wolf B (Hrsg), Heilung – Energie – Geist. Heilung zwischen Wissenschaft, Religion und Geschäft, Ritter. Verlag Vandenhoeck & Rupprecht, Göttingen, S 208–225
Zurück zum Zitat Polak R (2018) Flucht und Migration als „Zeichen der Zeit“: Eine Provokation für die Kirche(n) Europas. In: Katholisches Bibelwerk (Hsrg), Bibel und Kirche, Bd 4. Katholisches Bibelwerk, Stuttgart, S 191–198 Polak R (2018) Flucht und Migration als „Zeichen der Zeit“: Eine Provokation für die Kirche(n) Europas. In: Katholisches Bibelwerk (Hsrg), Bibel und Kirche, Bd 4. Katholisches Bibelwerk, Stuttgart, S 191–198
Zurück zum Zitat Schoeps HJ (1980) Ein weites Feld. Haude & Spener, Berlin Schoeps HJ (1980) Ein weites Feld. Haude & Spener, Berlin
Zurück zum Zitat Wiesenhütter E (1979) Sinne-Hand-Handlung. In: Wichmann H (Hsrg), Der Mensch ohne Hand oder die Zerstörung der menschlichen Ganzheit. Ein Symposion. dtv, München, S 43 Wiesenhütter E (1979) Sinne-Hand-Handlung. In: Wichmann H (Hsrg), Der Mensch ohne Hand oder die Zerstörung der menschlichen Ganzheit. Ein Symposion. dtv, München, S 43
Zurück zum Zitat Wolff HW (2002) Anthropologie des Alten Testaments, München Wolff HW (2002) Anthropologie des Alten Testaments, München
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Titel
Exkurs: Migration und Krankheit im Spiegel des Judentums
verfasst von
Wolfgang Straßer
Copyright-Jahr
2020
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-59012-6_4