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Erschienen in: Heilberufe 11/2018

01.11.2018 | PflegeAlltag Zur Zeit gratis

Erholung für pflegende Angehörige

Auszeit von der Pflege: „Die Akkus sind wieder voll“

verfasst von: Annette Lübbers

Erschienen in: Heilberufe | Ausgabe 11/2018

Zusammenfassung

Häusliche Pflege ist ein Knochenjob. Im kleinen sauerländischen Städtchen Winterberg können sich pflegende Angehörige — zusammen mit ihren erkrankten Familienmitgliedern — erholen und sich wertvolle Tipps für den Alltag holen. Geleitet wird das „Landhaus Fernblick“ von einer gelernten Krankenschwester.
Gisela Eltges kann sich auf ihren Mann verlassen. Die ehemalige Besitzerin einer Boutique und der langjährige IT-Fachmann Klaus-Manfred Eltges sind schon sehr lange zusammen. Selbstverständlich ist die Treue ihres Mannes für die 71-Jährige nicht. Schließich leidet sie bereits seit 1993 an Multipler Sklerose, einer Krankheit, die sie 2005 in den Rollstuhl brachte. „Bei einer solchen Diagnose sind viele Männer ganz schnell weg. Wenn mein Mann damals nicht wirklich zu mir gestanden wäre, dann hätte ich ihn selbst verlassen. Eine Beziehung aus Mitleid — das konnte ich mir nicht vorstellen“, erzählt die resolute Frau. Ihr 76-Jähriger Ehemann winkt lächelnd ab: „Normalerweise kommen wir in unserem Alltag doch ganz prima zurecht.“ Gisela Elters nickt. „Das stimmt. Psychisch und physisch warst Du zuletzt aber schon angeschlagen. Den Tapetenwechsel hast Du wirklich gebraucht...“

Erholung in der Kureinrichtung

Und den hat das Ehepaar jetzt. Seit drei Wochen sind die beiden im Landhaus Fernblick im sauerländischen Winterberg. Direkt hinter dem 1952 als Mutter-Kind-Kurklinik geplanten Haus erstrecken sich Pferdeweiden und ausgedehnte Waldgebiete. Im Jahr 2000 wurde die Klinik geschlossen und von der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in ein barrierefreies Hotel umgebaut. Seit 2008 bietet das Haus pflegenden Angehörigen von chronisch Kranken — der Schwerpunkt liegt auf Menschen mit Demenzerkrankungen — eine dreiwöchige Auszeit. Während die pflegenden Angehörigen ihre Anwendungen bekommen oder Freizeitangebote wahrnehmen, betreuen die Angestellten der Einrichtung von 8.15 Uhr bis 16 Uhr die Erkrankten. Einzige Ausnahme: Die zu pflegenden Angehörigen dürfen bei ihrer Ankunft nicht bettlägerig sein. Isabell Hiob, Leiterin des Landhauses: „Wir sind in erster Linie eine Kureinrichtung für pflegende Menschen. Generell ist ein Pflegegrad vier oder fünf zwar kein Problem, aber die Aufgaben einer Klinik können wir natürlich nicht erfüllen.“

Erste Einrichtung mit Kassenvertrag

Das kleine, idyllisch gelegene Städtchen im Hochsauerland hat gerade einmal knapp 13.000 Einwohner und ist dennoch ein sehr bekannter Ferienort — gerade für passionierte Wintersportler. Denn die St.-Georg-Sprungschanze auf dem Herrloh und die Bobbahn in der Veltins-Eisarena ziehen im Winter viele Touristen an. Aber eigentlich ist hier das ganze Jahr über Saison. Die Hochheidelandschaft auf dem Kahlen Asten oder dem „Neuen Hagen“ bei Niedersfeld laden zum Wandern und die Altstadt zum Bummeln ein.
In Laufnähe zur Altstadt liegt das Landhaus Fernblick. Insgesamt ist Platz für 25 Kurpatienten und ihre Angehörigen. Dabei handelt es sich überwiegend um Eheleute, die einen erkrankten Partner oder eine erkrankte Partnerin pflegen. Zu den Gästen gehören aber auch Mütter, die erkrankte, erwachsene Kinder pflegen. Oder sogar Mütter, die sich zeitgleich sowohl um ein krankes „Kind“ und um einen pflegebedürftigen Ehemann kümmern. Der besonderen Situation der Gäste trägt das Haus auch in Bezug auf die angebotenen Zimmer Rechnung. Es gibt Zimmer mit Doppelbetten, Zimmer mit zwei einzelnen Betten und jeweils zwei Zimmer, die mit einer Schiebetür voneinander getrennt sind. Isabell Hiob unterstreicht: „Tatsächlich sind wir die erste Einrichtung dieser Art in Deutschland, die mit den Krankenkassen einen Versorgungsvertrag für eine dreiwöchige stationäre Vorsorgemaßnahme für Angehörige abgeschlossen hat, die bei Bedarf auf vier Wochen verlängert werden kann. Für die Angehörigen bedeutet das ein Rundum-Sorglos-Paket, das es so noch viel zu selten gibt.“

Erholung für pflegende Angehörige

Und dieses „Paket“ genießen Gisela und Klaus-Manfred Eltges nun jeden Tag. Am Morgen holt Isabell Hiob Gisela Eltges aus dem Bett und hilft bei der Morgentoilette und beim Anziehen. Ihr Mann geht derweil schwimmen, obwohl das hauseigene Bad um die Uhrzeit eigentlich noch gar nicht geöffnet hat. „Eine Angestellte hat mir einfach gezeigt, wo die Schlüssel hängen. Das ist auch nicht selbstverständlich“, meint der 76-Jährige. Nachdem Klaus-Manfred Eltges seine Bahnen gezogen hat, frühstücken die beiden gemeinsam. Anschließend steht für den IT-Fachmann ein umfassendes Programm auf der Tagesordnung: etwa Nordic-Walking und Gymnastik. Sogar an Qi Gong — eine chinesische Meditations-, Konzentrations- und Bewegungsform — hat er sich gewöhnt. „Ich mache eigentlich alles mit, auch wenn es — wie Qi Gong — richtig ungewohnt für mich ist. Sogar bei der Ernährungsberatung war ich. Mein Gesundheitsprogramm kann ich hier auch richtig genießen, weil ich weiß: Um meine Frau wird sich derweil gut gekümmert.“ Schließlich wissen Isabell Hiob und ihre Angestellten, dass Angehörige wie Klaus-Manfred Eltges sich nur dann wirklich entspannen können. „Deshalb betreuen wir die zu pflegenden Personen auch über einen relativ langen Zeitraum von 8.15 bis 16 Uhr. Dadurch stellen wir sicher, dass die pflegenden Angehörigen viel Zeit für sich haben und sich richtig erholen können.“ Das Angebot für die Begleitpersonen orientiert sich am Alltag: Spazierengehen, Biografiearbeit, kreatives Gestalten, leichte körperliche Übungen, gemeinsames Singen und Spielen, Back- und Kochzirkel und Veranstaltungsbesuche stehen auf dem Programm.

Seelisches und körperliches Wohlbefinden stärken

Am Anfang des Aufenthaltes findet generell eine ausführliche Eingangsuntersuchung durch einen der drei Winterberger Kurärzte statt. In einem langen Gespräch wird abgeklärt, welche Indikationen einer Behandlung bedürfen.
Im Regelfall sind das Probleme im Muskel- und Skelettbereich, Burnout oder psychosomatische Beschwerden wie Angst- oder Schlafstörungen sowie psychische und physische Erschöpfungszustände. Anhand der Ergebnisse wird dann ein ausführlicher Therapieplan erstellt: Physiotherapie, Fango und Massage, Qi Gong, Nordic Walking, Wassergymnastik, Schwimmen, Ergotherapie, aber auch Ernährungsberatung und Gesprächskreise stehen auf dem Plan.
Isabell Hiob erläutert: „Manche Menschen sind, wenn sie hierherkommen, schon sehr, sehr lange verheiratet und viele pflegen auch schon seit vielen Jahren. Da fällt es erst einmal schwer, den geliebten Menschen einfach mal gehen zu lassen und sich ganz auf sich selbst zu konzentrieren. Ich habe hier schon eine Frau erlebt, die zum ersten Mal seit vielen Jahren bei uns so etwas wie Urlaub machen sollte und dann weinend vor der Rezeption stand, weil sie sich von ihrem Mann nicht einmal stundenweise trennen wollte.“ In solchen Fällen ist das Personal unnachgiebig. Erst am Nachmittag dürfen beide wieder füreinander da sein und gemeinsam etwas unternehmen. „Manchmal müssen pflegende Angehörige auch erst lernen, dass nicht immer alles perfekt sein muss und dass es viele Möglichkeiten gibt, sich den Alltag zu erleichtern. Etwa durch die Beschäftigung einer Haushaltshilfe oder einer Putzfrau.“ Ziel des Aufenthalts ist es, das seelische und körperliche Wohlbefinden zu stärken, akute Beschwerden zu mindern, eine optimistische Lebenshaltung zu finden, Lösungsansätze zu kreieren und Stress besser bewältigen zu lernen.

Freiraum für den Angehörigen

Schließlich streikt nicht nur der Körper von pflegenden Angehörigen irgendwann, sondern auch die Psyche. Viele leiden, so Isabell Hiob, unter depressiven Episoden und meistens würden diese erst sehr spät erkannt und noch später behandelt. Sie kennt auch den Grund für diese „Systemschwäche“: „Tatsächlich erlebe ich hier im Regelfall starke Persönlichkeiten, die sehr lange sehr viel leisten können und auch schon sehr viel geleistet haben. Aber viele pflegende Angehörige überschreiten irgendwann den Zenit ihrer Leistungsfähigkeit und spüren das ohne Hilfe von außen erst spät, fast zu spät. Solche Menschen sollten am Ende der drei oder vier Wochen gelernt haben, mehr auf sich zu achten und auch mal fünfe gerade sein zu lassen.“
Ganz so weit haben es Gisela und Klaus-Manfred Eltges zum Glück nicht kommen lassen. Vielleicht auch deshalb, weil die MS-Patientin immer darauf geachtet hat, dass ihr Mann regelmäßig etwas für sich tut. Zuhause steht das Paar meist gegen 7.30 auf. Klaus-Manfred Eltges gibt seiner Frau die Tabletten, macht Frühstück und stellt vielleicht schon mal die Waschmaschine an. In dieser Zeit kommt der Pflegedienst. Die Helferin wäscht seine Frau und hilft beim Anziehen. Den Rest des Tages sind die beiden auf sich gestellt. Klaus-Manfred Eltges: „Normalerweise schauen wir schon, dass ich zwischen 16.30 und 20 Uhr frei habe. Dann treffe ich mich mit Freunden im Biergarten, gehe einkaufen oder in die Sauna. In dieser Zeit hat meine Frau zumeist Termine beim Ergo- oder Physiotherapeuten oder trifft sich ihrerseits mit Freundinnen.“ Und er fügt an: „Bis vor zehn Jahren habe ich ja noch alles gemacht. Meine Frau wollte nicht so gerne fremdbestimmt sein. Bis es dann einfach nicht mehr ging.“
Beide fühlen sich im Landhaus Fernblick wohl. „Ein paar Eingewöhnungsschwierigkeiten hatten wir aber schon. Mein Mann schlief die ersten Nächte schlecht. Wahrscheinlich weil er so verspannt war. Und mir war das Bett zu hart. Aber das wurde dann auch sofort ausgetauscht. So viel Aufmerksamkeit von Seiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, so viel Entgegenkommen, wann immer es ein Problem gibt: Das ist schon toll.“ Das sieht ihr Ehemann genauso: „Mit Verständnis kann man in diesem Haus immer rechnen. Eine super entspannte Atmosphäre. Hier ist niemand gestresst. Kein Vergleich mit dem Personal von Krankenhäusern.“ Seine Frau nickt: „Ich habe da auch schon ganz andere Erfahrungen gemacht. Nach dem Aufenthalt in einer Reha-Einrichtung war ich sogar deutlich schlechter dran als vorher.“

Glücklich im Job

Über so viel Lob freut sich Isabell Hiob natürlich sehr. Die gelernte Krankenschwester ist glücklich in ihrem Job. Nach 20 Jahren im Stationsbetrieb eines Krankenhauses und einigen Jahren in der familiären Pflege trat sie im Oktober 2015 ihren neuen Job als Leiterin des Landhauses an. „Im Krankenhaus hatte ich so oft ein schlechtes Gewissen, weil der Krankenhausalltag es mir einfach nicht erlaubte, die Patientinnen und Patienten so emphatisch und mitfühlend zu behandeln, wie ich es eigentlich von mir erwartete. Hier im Haus Fernblick habe ich auch schon viele Tränen vergossen. Aber das waren Freudentränen. In Situationen, in denen Patienten, die sehr bedrückt hier angekommen waren, gestärkt und optimistisch zurück in ihren Alltag fuhren. Solche gemeinsamen Glücksmomente sind doch eigentlich mit ein Grund dafür, warum Menschen wie ich diesen Beruf irgendwann einmal ergriffen haben.“ So viel Zufriedenheit scheint auszustrahlen — auf Angestellte und Gäste gleichermaßen. „Die Akkus sind jedenfalls wieder voll“, erklärt Gisela Eltges. „Zuhause streiten wir beide auch schon mal. Hier ist das noch gar nicht vorgekommen. So langsam wird es mir fast zu harmonisch.“ Klaus-Manfred Eltges lacht. „Das können wir — wenn Du das willst — auch ganz schnell ändern.“

Und so geht es:

Beratung und Antrag auf Kuraufenthalt bei der zuständigen Krankenkasse mit Hinweis auf die Leistungen der Pflegekasse. Möglich ist dies generell alle vier Jahre. Bei begründeten Indikationen auch alle zwei Jahre oder jährlich.
Kosten für die Begleitperson:
59,00 Euro für Unterkunft und Verpflegung (Refinanzierung eventuell über § 45 SGB XI).
77,50 Euro für die Tagesbetreuung (Refinanzierung eventuell über § 39 SGB XI Verhinderungspflege oder § 42 SGB XI Kurzzeitpflege).

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Metadaten
Titel
Erholung für pflegende Angehörige
Auszeit von der Pflege: „Die Akkus sind wieder voll“
verfasst von
Annette Lübbers
Publikationsdatum
01.11.2018
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Heilberufe / Ausgabe 11/2018
Print ISSN: 0017-9604
Elektronische ISSN: 1867-1535
DOI
https://doi.org/10.1007/s00058-018-3755-5

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