Interview Dr. med. habil. Matthias Gründling leitet das Qualitätsmanagementprojekt Sepsisdialog und die Arbeitsgruppe Klinische Sepsisforschung an der Universitätsmedizin Greifswald. Der Intensivmediziner plädiert für eine deutschlandweite Qualitätsinitiative, um Vorbeugung, Diagnose und Therapie dieser Gesundheitsgefahr zu verbessern.
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Herr Dr. Gründling, bei einer Sepsis - auch Blutvergiftung genannt - ist zügiges, zielgerichtetes Handeln oberstes Gebot. Wie schätzen Sie die Situation in Deutschlands Kliniken ein?
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Gründling: Wir haben auf jeden Fall Nachholbedarf. In Deutschland sterben jährlich zwischen 70.000 und 90.000 Menschen an einer Sepsis - deutlich mehr als an Herzinfarkt oder Schlaganfall. Und obwohl es sich um einen medizinischen Notfall handelt, ist bei Sepsis alles anders. Sepsis-Überlebende berichten, dass die Erkrankung zu spät erkannt wurde, dass keiner die Sepsis "auf dem Zettel hatte", dass Diagnostik und Therapie nur schleppend in Gang kamen und dass eine strukturierte Rehabilitation fast nicht existiert. Und die Häufigkeit der Sepsis nimmt zu. Dabei ist sie zu verhindern, denn gegen die zugrundeliegenden Infektionen gibt es Medikamente.
Was macht die Sache so schwierig?
Gründling: Das sind verschiedene Faktoren. In der Bevölkerung sind die Möglichkeiten der Prophylaxe, die Frühwarnzeichen, der Notfallcharakter und das Ausmaß der Sepsis weitgehend unbekannt. Auch unter medizinischen Fachkräften aller Berufsgruppen bestehen erhebliche Wissensdefizite. In der Ausbildung ist das Thema nach wie vor weit unterrepräsentiert. Die Weltgesundheitsorganisation hat 2017 die Sepsis als eine globale Bedrohung erkannt und die Verbesserung von Prävention, Diagnose und Management der Sepsis in einer Resolution gefordert. Doch in Deutschland besteht bisher kein gemeinsames Vorgehen von Bundesregierung, Kostenträgern, Leistungserbringern und Selbstverwaltung, diese Herausforderung anzunehmen. Zudem beginnt die Sepsis unspezifisch, es fehlen sichere, einfach zu bestimmende Laborwerte und die Behandlungskonzepte sind sehr individuell.
Wo könnte man ansetzen?
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Gründling: Voraussetzung für positive Veränderungen ist eine politisch gewollte, von den Kostenträgern finanzierte und von den Leistungserbringern mit Eigeninitiative und Ideen umgesetzte deutschlandweite Qualitätsinitiative. Verschiedene medizinische Organisationen unter Schirmherrschaft des Aktionsbündnisses Patientensicherheit haben sich auf die Fahnen geschrieben, gemeinsam gegen Sepsis vorzugehen. Ziel ist eine umfassende Aufklärung der Bevölkerung, eine strukturierte, standardisierte und sektorenübergreifende Ausbildung in allen medizinischen Berufen sowie die Einführung eines verbindlichen Qualitätsmanagements mit einfach zu erhebenden und standardisierten Qualitätsparametern. Die Beteiligten eines solchen Projektes sollten Synergien mit bestehenden Strukturen des Qualitätsmanagements und der Infektiologie sowie Hygiene sinnvoll nutzen.
Stichwort Hygiene. Welche Rolle spielt sie?
Gründling: Die Einhaltung von Hygienestandards ist ganz entscheidend. Neben spezifischen Maßnahmen zur Infektionsprävention sind die strikte Händehygiene und ein standardisiertes Vorgehen beim Umgang mit multiresistenten Erregern (Screening von Risikopatienten und in Risikobereichen, Isolation) wichtig. Entsprechend den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) sollten besonders gefährdete Patientengruppen wie Schwangere, Patienten mit chronischen Erkrankungen oder Funktionsunfähigkeit der Milz, geimpft werden. So empfiehlt die STIKO etwa die Pneumokokken- und Grippe-Impfung für über 60-Jährige. Dennoch: Die Sepsis lässt sich nicht ausschließlich durch bessere Hygiene in den Griff bekommen. Auch liegen der Erkrankung nur in 30 bis 50% der Fälle im Krankenhaus zugezogene Infektionen zugrunde. Zudem ist Sepsis nicht typischerweise auf multiresistente Erreger zurückzuführen. Allerdings sind Infektionen mit multiresistenten Erregern oft schwieriger zu behandeln. Es ist also ebenso falsch wie weit verbreitet, die Blutvergiftung hauptsächlich mit schlechter Hygiene und multiresistenten Erregern in Zusammenhang zu bringen.
Welche Ansätze gibt es denn noch?
Gründling: Die Symptome der Sepsis sind häufig sehr unspezifisch. Ärzte stellen in der klinischen Praxis deshalb oft primär andere Diagnosen, wie Austrocknung, Schlaganfall oder unklare Bewusstlosigkeit. Eine späte Diagnose der Sepsis verzögert jedoch eine auf die Ursachen gerichtete Therapie und führt zu einer Zunahme der Sterblichkeit. Ein systematisches Screening würde helfen, Sepsispatienten frühzeitig zu identifizieren. Eine Vielzahl von Studien belegt den Nutzen von Screening-Tools. Um eine Sepsis zu erkennen, werden Patienten auf bestimmte Vitalparameter, Organversagen und das Vorhandensein einer Infektion bzw. einen Infektionsverdacht gescreent. Neuere Studien zeigen, dass nicht sicher ist, welche Kombination von Parametern sich am besten eignet, um einer Sepsis auf die Spur zu kommen. Nach aktueller Datenlage ist keine Screening-Methode eindeutig zu favorisieren. Somit ist es aus klinisch-praktischen Erwägungen bedeutsamer, überhaupt systematisch nach Sepsispatienten zu suchen. Ein pragmatischer Ansatz wäre, dass zwei der folgenden Kriterien erfüllt sein müssen, um dann weiter nach einer Infektion zu suchen: Bewusstseinsstörung oder neu aufgetretene Verwirrtheit, Fieber von 38 Grad Celsius oder mehr bzw. eine Körpertemperatur von 36 Grad Celsius oder darunter, Atemfrequenz größer oder gleich 20 pro Minute, Leukozytose oder Leukopenie oder mindestens 10% oder mehr unreife Neutrophile Granulozyten, eine Herzfrequenz größer oder gleich 90 pro Minute, ein systolischer Blutdruck kleiner oder gleich 100 mmHg oder eine periphere Sauerstoffsättigung unter 95%. Ein kritisch kranker Patient mit unspezifischen Sepsis-Zeichen und beginnendem Organversagen sollte solange als potenzieller Sepsis-Patient gelten, bis das Gegenteil bewiesen ist.
Was passiert beim Sepsis-Verdacht?
Gründling: Die Diagnostik muss schnellstmöglich eingeleitet werden. Dazu zählen Anamnese, klinische Untersuchung, Bildgebung, Laborchemie und Erregerdiagnostik. Weil die Erkrankung sehr schnell fortschreitet, müssen Diagnostik und Therapie oft parallel laufen. Beim Verdacht auf eine Sepsis sind Blutkulturen anzulegen. In der Praxis haben sich Abnahme-Kits - vorbereitete Fläschchen - bewährt, da sie auf einfache Weise sicherstellen, dass genügend Kulturen angelegt werden. Um Kontaminationen zu vermeiden, sollte die Entnahme nach sorgfältiger Hautdesinfektion und unter sterilen Bedingungen erfolgen. Es ist nicht belegt, dass die zeitlich versetzte Abnahme von Blutkulturen bei Sepsisverdacht und/oder die Verwendung mehrerer Punktionsstellen Vorteile haben. Um Zeit zu sparen, ist es vielmehr sinnvoll, alle Sets über eine venöse Punktion abzunehmen - und zwar bevor die Behandlung der Infektion beginnt, um den Erreger auch nachweisen zu können.
Bei der Therapie ist Eile geboten …
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Gründling: Wegen des lebensbedrohlichen Charakters der Sepsis ist es notwendig, die Therapie ohne Zeitverzug zu beginnen. Es ist empfehlenswert, sich auf einige wenige, aber wesentliche Aspekte nach dem Prinzip "weniger ist mehr" zu konzentrieren. Die Surviving Sepsis Campaign (SSC), eine internationale Experten-Initiative, hat dafür die Sepsis-Bundles - verschiedene Bündel von Behandlungsmaßnahmen - entwickelt. In der aktuellen Version fordert die SCC folgende fünf Maßnahmen innerhalb der ersten Stunde nach Diagnosestellung: Laktat-Messung (um zu klären, ob ein Sauerstoffmangel an den Organen besteht); Abnahme von Blutkulturen vor der Gabe von Antibiotika; Gabe von Breitspektrum-Antibiotika; schnelle intravenöse Gabe von Flüssigkeit, wenn medizinisch erforderlich; Vasopressorgabe (blutdruckhebende oder -stützende Substanz), wenn der Patient trotz Flüssigkeitsgabe einen zu niedrigen Blutdruck hat. Zusätzlich zur schnellen Behandlung der Infektion muss, sofern möglich, der Entzündungsherd operativ oder durch Interventionen wie Punktion, Drainage oder Endoskopie ohne Verzögerungen saniert werden. Da eine Sepsis Organversagen nach sich ziehen kann, werden die Patienten fast immer auf einer Intensivstation behandelt.
An der Universitätsmedizin Greifswald läuft seit elf Jahren das Qualitätsmanagement-Projekt "Sepsisdialog". Mit welchem Erfolg?
Gründling: Der "Sepsisdialog" hat die 90-Tage-Sterblichkeit bei schwerer Sepsis/septischem Schock von 61% im Jahr 2008 auf 45% im Jahr 2013 reduziert. Aktuelle Daten des Deutschen Qualitätsbündnisses Sepsis zeigen, dass die Krankenhaussterblichkeit bei Sepsis in Greifswald 2016/2017 bei gleicher Erkrankungsschwere der Patienten mit 32% rund 10% niedriger liegt als in den anderen Kliniken des Bündnisses. Der Vorstand der Universitätsmedizin Greifswald hat die Einführung des Sepsisdialogs mit den Direktoren der betreffenden Einrichtungen und Kliniken abgestimmt. Darauf folgte die Gründung eines "Change Management Teams" aus Intensivmedizinern, Pflegekräften der Intensivstation, Mitarbeitern der Hygiene und der Mikrobiologie sowie mit einer vom Klinikum finanzierten Sepsisschwester.
Was verbirgt sich genau hinter dem "Sepsisdialog"?
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Gründling: Zu den Schwerpunkten gehören ein Schulungsprogramm für Pflegekräfte und Ärzte, die Bereitstellung von Kitteltaschenkarten zur Diagnosestellung und Primärtherapie, Information auf der Website www.sepsisdialog.de und die Erfassung von Qualitätsparametern wie der Zeit bis zum Beginn der Infektions-Behandlung, die Anzahl der angenommenen Blutkulturen und die Krankenhaussterblichkeit. Inhalte der evidenzbasierten Weiterbildungen sind Epidemiologie, Pathophysiologie, Definition, Erkennen, Diagnostik, Prävention und Therapie. Die Sepsisschwester ist für die Organisation der Schulungen, Erstellung von Materialien, Erfassung der Qualitätsparameter und deren Rückkopplung verantwortlich und hat damit eine zentrale Stellung. Aktueller Schwerpunkt der Arbeit ist die Einführung einer 24 Stunden an sieben Tagen verfügbaren mikrobiologischen Blutkultur-Schnelldiagnostik, die die Patientensicherheit weiter verbessern soll. Der "Sepsisdialog" gilt dank der Erfolge in Deutschland als Best practice-Beispiel für Qualitätsmanagement bei Sepsis und hat auch international Anerkennung gefunden: Im Jahr 2017 gewann er den "Global Sepsis Award" der Global Sepsis Alliance. Neuste Initiative ist die im vergangene Sommer gegründete SepsisAkademie. Das Online-Schulungsangebot, zudem wir uns bedingt durch die CORONA-Pandemie entschieden haben, findet einmal im Monat statt und ist offen für alle Teilnehmer. Deutsche und internationale Sepsisexperten handeln die wichtigsten Themen rund um das Erkennen, die Prävention, die Diagnostik, die Therapie und die Nachsorge ab. Im Januar wurden mit einer virtuellen Podiumsdiskussion in einem Livestream vier Sepsisüberlebende in die Diskussion einbezogen.
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