Die rettungsdienstliche Struktur in Deutschland stellt eine Versorgung auf sehr hohem Niveau sicher. Dennoch ist es notwendig, die vorhandenen Strukturen zu überdenken und für die Zukunft zu härten. Nicht nur vor dem Hintergrund stetig steigender Einsatzzahlen, sondern auch wegen der Herausforderungen der Personalgewinnung und der Alterung der Bevölkerung sollten Reformen im Rettungsdienst dringend angegangen werden. Hier kann der Rettungsdienst viel von der Mathematik und gerade vom Bereich „operations research“ lernen. Dieser Fachbereich beschäftigt sich explizit mit der Verbesserung von logistischen Herausforderungen, die der Rettungsdienst ohne Frage ist. In der vorliegenden Arbeit berichten die Autorinnen und Autoren über die ersten Ergebnisse zweier Workshops zum Thema „Logistik in der präklinischen Versorgung“ und möchten damit die Diskussion im Rettungsdienst auf breiter Basis anregen sowie Verbesserungspotenziale und Herausforderungen für die verschiedenen Akteure in der präklinischen Behandlung herausarbeiten, aber auch erste Ideen zu Lösungsansätzen liefern.
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Begünstigt durch eine Fördermaßnahme der Stiftung BINZ organisierte das Institut für Rettungs- und Notfallmedizin des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein in Kiel im September 2022 den ersten Expertenworkshop und im Juni 2023 den zweiten Workshop „Logistik in der präklinischen Notfallversorgung“. Ziel des Förderprojekts ist, in einer multidisziplinären Gruppe (Abb. 1), bestehend aus verantwortlichem ärztlichem und nichtärztlichem Rettungsdienstpersonal, Vertretern der Leitstellen, Vertretern der Verwaltung sowie Experten aus dem Bereich „operations research“/Logistik, Ideen zu einer alternativen Organisationsstruktur bzw. Ablauforganisation des Rettungsdiensts zu entwickeln, zu diskutieren und Kernforderungen an die unterschiedlichen Stakeholder zu formulieren. Immer im Blick waren hierbei bereits bestehende Erfahrungen aus der Logistik und die Fragestellungen, ob und wenn ja wie diese im Rettungsdienst nutzbar gemacht werden können. Zunächst müssen dazu bestehende Strukturen überdacht und neue Ansätze zu einer flächendeckenden, zeitgerechten rettungsdienstlichen Versorgung und deren Kinetik entwickelt werden.
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Was ist der Ist-Zustand?
Die rettungsdienstlichen Strukturen in Deutschland erlauben und gewährleisten eine notfallmedizinische Versorgung auf sehr hohem Niveau. Gerade mit einem notarztgestützten System und mit einer qualitativ hochwertigen Ausbildung im nichtärztlichen Bereich wird gewährleistet, dass innerhalb kürzester Zeit kompetente Hilfe durch Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter sowie durch Notärztinnen und Notärzte vor Ort ist und eine leitliniengerechte Therapie der Patientinnen und Patienten beginnt. In den letzten Jahren ist jedoch sowohl subjektiv als auch objektiv eine Steigerung der Einsatzzahlen [19] sowie, zumindest durch das rettungsdienstliche Personal, gefühlt eine Abnahme der Fallschwere zu beobachten [20].
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Trotz sinkender Einsatzzahlen während der SARS-CoV-2-Pandemie im Rettungsdienst [9] war die Arbeitsbelastung in den Leitstellen in dieser Zeit erhöht (Quelle: Umfrage in BOS-Leitstelle aktuell). Daraus lässt sich die zunehmend präsente neue Rolle der kommunalen Leitstellen als beratendes und wegweisendes Element in der Daseinsvorsorge und Gefahrenabwehr sowie als Navigator im Gesundheitswesen ablesen, in der nicht aus jedem Hilfeersuchen auch ein Einsatz des Rettungsdiensts folgt [6].
Die für eine überproportionale Fallzunahme identifizierten Einsatzanlässe werden medial häufig als „Bagatelleinsätze“ bezeichnet, was dem offenbar zugrunde liegenden Bewertungsschema aufseiten der oder des Hilfesuchenden allerdings mehrheitlich nicht gerecht wird. In der Wahrnehmung der Betroffenen besteht eine nicht mit den eigenen Ressourcen einzuordnende oder gar zu bewältigende Situation. Eine weniger diskriminierende Bezeichnung für diese Fallkategorie wäre „Non-Notfälle“ bzw. „Nichtnotfälle“ oder „Akutfälle“. Die Hintergründe und Erklärungsansätze dafür, den Notruf zu wählen, sind strukturell vielfältig und gehen weit über rein demografische Effekte hinaus [12,14]. Die Frequent-caller- bzw. Frequent-user-Thematik erfasst z. B. mittlerweile nicht mehr nur urbane Rettungsdienstbereiche und zeigt auf, welche blinden Flecken in unserem Gesundheits- und Sozialsystem aktuell bestehen [1, 2]. Der Rettungsdienst ist in seiner verlässlichen Organisationsform und der flächendeckenden Verfügbarkeit die Alternative zu eigentlich fachlich ausreichenden, jedoch nicht immer zuverlässig aktivierbaren Hilfsressourcen und zu fehlenden Sozialstrukturen [2, 12].
Derzeitige Lösungsansätze
Lösungsansätze sind vorhanden und würden inhaltlich, wie auch bezüglich der bedarfsgerechten Reaktionszeiten, voraussichtlich zu einer Verbesserung bzw. Entspannung der Situation beitragen. Beispielweise zu nennen wären hier teilweise bereits praxiserprobte Systeme wie der Gemeindenotfallsanitäter [18], das präklinische „case management“ [1], psychiatrische bzw. Sozialambulanzen [13] und Vernetzungsprojekte wie z. B. das SaN-Projekt in Hessen [21]. Auch der Vorstoß, mehr in Prävention im Sinne einer Basisgesundheitskompetenz und Notfalledukation zu investieren, kann als ein langfristig wirksamer Baustein zur Entlastung des Gesundheitssystems angesehen werden [1]. Eine aktuelle Studie aus Berlin mit Einsatzdaten aus den Jahren 2018–2021 identifiziert ein jüngeres Patientenalter sowie das weibliche Geschlecht als erhöhenden Einflussfaktor auf die Wahrscheinlichkeit eines Notrufs mit geringerer medizinischer Dringlichkeit, was das Potenzial für Aufklärungsprogramme im Sinne einer Prävention zusätzlich stützen würde [4].
Die vorgenannten Faktoren weisen überdeutlich darauf hin, mit welchen Engpässen die Ressourcen des Rettungsdiensts in Deutschland belastet sind. Da der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Rettungsdienst in den letzten zehn Jahren um 71 % gestiegen [22], das System selbst also gewachsen ist, ist davon auszugehen, dass eine Verbesserung der Gesamtsituation nur mit zusätzlichen strukturellen und Prozessveränderungen zu erreichen ist. Eine bloße Erweiterung bestehender Rettungsmittelvorhaltungen klassischer Art – in aller Regel also RTW, NEF und KTW – scheint nicht hinreichend geeignet, um das bestehende Versorgungsvakuum im Gesundheitssystem aufzulösen. Neben geeigneten Modellen zur Optimierung des Rettungsdiensts durch bedarfsgerechte Abstufungen der Hilfsfristen [8] sind es differenzierte, schnittstellen- und ebenenübergreifende Handlungsoptionen „über Sektorengrenzen hinweg“, die einen Lösungsansatz für die zukünftige Notfallversorgung darstellen könnten [17].
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Für die kommunalen Leitstellen kommt dabei neben ihrer Rolle in der Gefahrenabwehr viel mehr als bisher die Aufgabe als beratendes, dienstleistungsorientiertes und aktivierendes Element in der Kommunikation mit einem Menschen in einer für ihn aktuell nicht einzuordnenden bzw. aufzulösenden Situation hinzu. Durch verschiedene Einsatz- und Hilfsmittel sowie Dienstleistungen sowie eine verlässliche, digitale intersektorale Vernetzung – z. B. mit der Rufnummer 116117 der vertragsärztlichen Notfallversorgung – wird der Einsatz eines Rettungswagens oder eines Notarztes letztendlich zu einer möglichen Option unter vielen [6].
Logistik – „operations research“ und Rettungsdienst
In den Fachgremien wird immer häufiger der Vergleich zur Material- und Militärlogistik gezogen, die schon seit Jahrhunderten durch Prozessoptimierungen Verbesserungen in ihrer Effizienz und Effektivität anstrebt. Ziel muss es sein, dass die Ergebnisse der standardisierten Notrufabfrage in einer integrierten Leitstelle, bezogen auf einen rettungsdienstlichen Einsatzprozess, die notwendigen Parameter bereitstellen, um den bedarfsgerechten und taktisch sinnvollen Einsatz der richtigen Kräfte zur richtigen Zeit am richtigen Ort sicherstellen zu können. Sie stehen damit bereits in Analogie zu den Grundelementen der Distributionslogistik. Die zusätzlich erhobenen geografischen Komponenten der Erstabfrage sind zugleich auch der Ausgangspunkt für die Dienstleistungsmodellierung von optimalen Folgeprozessen [15]. Aufbauend auf einer präzisen Geokoordinate des Einsatzorts kann der Prozess der Einsatzdisposition mit der Suche nach einem geeigneten Einsatzmittel und dessen Navigation zum Ereignisort digital erfolgen. Auch im weiteren Einsatzverlauf kann die Geokoordinate z. B. durch die parallele Suche nach geeigneten Ersthelfenden in der Nähe des Einsatzorts oder bei der digitalen Suche nach einer geeigneten medizinischen Behandlungseinrichtung sowie der schnellstmöglichen bzw. optimalen Route dorthin helfen [3].
Bei der Anwendung von Grundsätzen der Distributionslogistik wird oft auf Laschs 7R-Regel verwiesen: „Der logistische Auftrag besteht darin, die richtige Menge der richtigen Objekte als Gegenstände der Logistik, am richtigen Ort, in der richtigen Qualität, zum richtigen Zeitpunkt, zu den richtigen Kosten zur Verfügung zu stellen“ [7]. Um eine hochwertige rettungsdienstliche Versorgung in der Zukunft weiterhin gewährleisten zu können, müssen nach Ansicht der Autoren eingefahrene Strukturen wissenschaftlich fundiert überdacht und auf den Prüfstand gestellt werden.
Geokoordinaten, digitale Pfade und Prozesse sind punktuell bereits heute Grundlage für die Einsatzplanung, die Prozessoptimierung und Bedarfsbemessung unter zunehmender Nutzung von mathematischen Modellen [16]. Der Raumbezug ist durch die Anzahl der Rettungswagen und ihrer Stützpunkte in einer bestimmten Region in der Notfallrettung, aber auch im Krankentransport immer gegeben [10]. Seit einigen Jahren bestehen als Grundlage für digitale Modellierung auch intensive Bemühungen, das lineare Modell der Rettungskette unter dem Begriff „digitale Rettungskette“ in eine moderne, mehrdimensionale digitale Struktur zu überführen [11, 23].
Um eine Reform und damit eine Verbesserung der rettungsdienstlichen Versorgung in der Praxis zu erreichen, müssen dringend Veränderungen und Anpassungen in der Politik, der rettungsdienstlichen Logistik und der Medizin erfolgen. Hierzu muss die präklinische Patientenversorgung ganzheitlich betrachtet werden und eine Planung über die Sektorengrenzen hinaus erfolgen. Zur Verbesserung der medizinischen Versorgung müssen Versorgungs- und Prozessdaten systematisch analysiert und sowohl zu Zwecken des Qualitätsmanagements als auch für die Wissenschaft und Forschung nutzbar gemacht werden. Hierzu sind Datenschutzhürden zielorientiert zu überwinden.
Darüber hinaus müssen Daten nicht nur zugänglich gemacht werden, sondern auch einem einheitlichen Standard entsprechen. Dies bezieht sich zum einen auf technische Standards zum Datenaustausch zwischen verschiedenen Programmen und Datenbanken, zum anderen auch auf die Vereinheitlichung und, wo bereits definiert und vorhanden, die Nutzung einheitlicher Datensatzdefinitionen. Als Beispiele aus diesem Bereich können unter anderem die nicht vorhandenen Schnittstellen zwischen der elektronischen Rettungsdienstdokumentation und den Klinikinformationssystemen, aber auch die nicht vereinheitlichten Datensatzdefinitionen bei den verschiedenen Anbietern von Softwarelösungen für Leitstellen genannt werden. Beide Beispiele erhöhen das Risiko für einen Datenverlust, für Übertragungsfehler und lassen eine wirkliche Analyse und Verbesserung von rettungsdienstlichen Prozessen nicht zu.
Damit einher geht eine Neukonzipierung der rettungsdienstlichen Logistik unter Einbeziehung von Expertinnen und Experten aus dem Bereich der Mathematik und Logistik. Als ein Querschnittsbereich aus den medizinisch bzw. präklinisch begründeten Erfordernissen und bestehenden Erkenntnissen der Logistik heraus ist ganz klar die klassische Hilfsfrist zu nennen, die in ihrer aktuellen Ausprägung in der Betrachtung der Autoren die wirkliche Situation nur unzureichend abbildet und auch nur vermeintlich zu einer einheitlichen und gerechten Planung der rettungsdienstlichen bzw. notfallmedizinischen Versorgung führt. Ein Fokus auf die Maximierung der Anzahl an Patienten, die innerhalb einer Hilfsfrist erreicht werden, führt zu einer verstärkten Konzentration von Rettungsmitteln in dicht bevölkerten, städtischen Gebieten [5]. Selbst eine große Überschreitung der Hilfsfrist in Gebieten mit geringem Einsatzaufkommen fällt bei einer auf eine Hilfsfrist ausgerichteten Planung nicht ins Gewicht. Eine Erreichungsgrad von beispielsweise 95 % wird unabhängig davon erreicht, ob die Hilfsfrist bei den restlichen 5 % der Einsätze immer um 5 oder immer um 45 min überschritten wird. Allein die im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland bestehenden unterschiedlichen Definitionen und Vorgaben zu Hilfsfristen werfen logisch nicht zu beantwortende Fragen auf, während ihr tatsächlicher Erreichungsgrad immer weiter sinkt. Hier sollte vielmehr über die Einführung von dringlichkeitsbasierten Notfallkategorien und damit korrespondierenden differenzierten Hilfsfristen nachgedacht werden, die einerseits dem Anspruch an Hilfsfristen als Planungsmaßstab gerecht werden und andererseits als Qualitätsindikatoren dienen können.
Erste Lösungsansätze der Workshopteilnehmenden
Eine Lösungsmöglichkeit der Expertengruppe auf dem Weg zu einem Perspektivwechsel bestand darin, die bereits erwähnte 7R-Regel für den Rettungsdienst zu adaptieren (Tab. 1).
Tab. 1
Vorschlag zur Anpassung der 7R-Regel an die Belange des Rettungsdienstes
Laschs 7R-Regel der Logistik
Adaptierte 7R-Regel für den Rettungsdienst
Die richtige Menge …
Dem richtigen Patienten …
der richtigen Objekte …
die richtige Versorgung …
am richtigen Ort …
am richtigen Ort …
in der richtigen Qualität …
in der richtigen Anzahl …
zum richtigen Zeitpunkt …
zum richtigen Zeitpunkt …
zu den richtigen Kosten …
zu den richtigen Kosten …
mit den richtigen Informationen …
mit den richtigen Informationen …
… zur Verfügung zu stellen
… zur Verfügung zu stellen
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Im Detail ist das Ziel der „adaptierten 7R-Regel für den Rettungsdienst“, dem richtigen Patienten mithilfe der folgenden Prozessschritte die beste mögliche Versorgung zukommen zu lassen:
Der Prozess der präklinischen Versorgung beginnt in aller Regel durch einen Notruf 112 in einer integrierten Leitstelle oder heute vielfach auch bereits über digitale Meldewege (eCall, Notruf-Apps etc.). In der Leitstelle gilt es zunächst, den Patienten strukturiert in den richtigen Versorgungspfad zu leiten, sodass nur die „richtigen“ Patienten durch den Rettungsdienst versorgt werden. Nichtnotfallpatienten müssen bereits in der Leitstelle an die für ihr Anliegen zuständigen Stellen verwiesen werden oder mit den dafür vorgesehenen Leistungen versorgt werden.
Die Leitstelle ist durch eine verbindlich anzuwendende, standardisierte Notrufabfrage sowie gute Einsatzvorplanung dafür verantwortlich, dass dem Patienten das „richtige“ Rettungsmittel oder die bedarfsgerecht alternativ notwendige Hilfeleistung zur Versorgung mit der richtigen Dringlichkeit zur Verfügung gestellt wird. Weder eine Über- noch eine Unterbeschickung erreicht hierbei das Ziel der Effizienz. Die für das gemeldete Ereignis erforderlichen präklinischen medizinischen Erfordernisse sollten daher möglichst passgenau zur Verfügung gestellt werden.
Bereits im Rahmen der Notrufabfrage muss zudem dafür Sorge getragen werden, dass durch Inanspruchnahme aller aktuell verfügbaren technischen Hilfsmittel („advanced mobile location“, eCall, „next generation 112“, Verarbeitung von GPS-Daten z. B. aus Smartwatches) der „richtige“ Notfallort ermittelt, verifiziert und eindeutig (also digital automatisiert) an die Rettungskräfte übermittelt wird.
Die „richtige“ Anzahl an Rettungsmitteln bestimmt sich in vielen Ländergesetzen durch die Planungsgröße der sogenannten „Hilfsfrist“. Den Leitstellen kommt dabei zumeist die Aufgabe zu, dass jeder Punkt im Schutzbereich innerhalb der gesetzlich definierten Hilfsfrist erreicht wird und bei Bedarf durch Gebietsabdeckungen oder Hinzuziehung zusätzlicher Kräfte für eine Risikoabdeckung gesorgt wird. Hierbei können Gebietsabdeckungen durch bestehendes Personal (im Dienst befindliche Fahrzeuge oder Fahrzeugverlegungen) oder auch durch dienstfreies Personal im Rahmen von zusätzlichen Wachbesetzungen erfolgen.
Die genannte „Hilfsfrist“ gilt derzeit in den meisten Ländergesetzen ohne Unterscheidung des im Notruf gemeldeten Notfallgeschehens und von dessen Dringlichkeit zur Intervention und steht damit immer wieder im Fokus der Diskussionen. Muss jedes Notfallgeschehen mit gleicher Zeitvorgabe beschickt werden oder können notfallmedizinisch akzeptable Abstufungen zwischen den Meldebildern dafür sorgen, dass das Ziel des „richtigen“ Zeitpunkts besser erreicht wird? Diese Fragestellung ist ausdrücklich nicht nur betriebswirtschaftlich, sondern auch ethisch zu betrachten: Im Gegensatz zur Material- und Militärlogistik steht beim Rettungsdienst das Menschenleben im direkten Fokus und das „supply chain management“ – die strategische Koordinierung und Optimierung der Geschäftsprozesse – muss aus diesem Grund differenzierter betrachtet werden. Dies schließt im Bereich der hochprioritären Einsatzszenarien, wie z. B. dem vermuteten Herz-Kreislauf-Stillstand, unbedingt auch die planmäßige Vorhaltung und Berücksichtigung von Ersthelfersystemen (App-Rettern) oder First Respondern anderer Akteure in der Gefahrenabwehr mit ein. Darüber hinaus stellt die Zeitspanne vom Notfallereignis bis zur qualifizierten Behandlung im klinischen Setting ein bisher zu wenig betrachtetes Qualitätsmerkmal mit ggf. großem Impact dar (z. B. bei Notfallsituationen mit fehlender Interventionsmöglichkeit vor Ort). Um den „richtigen“ Zeitpunkt für jedes bzw. die meisten Krankheitsbilder und Verletzungen im Rettungsdienst definieren zu können, müssen für diese Zustände die richtigen Outcomeparameter definiert und der Zusammenhang zwischen Outcome und Zeit bis zur medizinischen Intervention, gerade im rettungsdienstlichen Setting, weiter erforscht werden
Für die Anschaffung und den Betrieb von Rettungswagen können pro Jahr Beträge von mehreren Millionen Euro veranschlagt werden. Ohne Frage sind sämtliche Überlegungen zur Optimierung rettungsdienstlicher Strukturen auch mit der Frage nach den „richtigen“ Kosten und damit der Wirtschaftlichkeit des Systems verbunden. Diese Betrachtungen stehen zwar nicht im Fokus der Arbeitsgruppe, jedoch ist den Mitgliedern der Arbeitsgruppe bewusst, dass zur Finanzierung sämtlicher Vorschläge die Sozialversicherungsträger mit eingebunden werden müssen und das Wirtschaftlichkeitsgebot des SGB V zu berücksichtigen ist.
Auf der politischen Ebene müssen eine Evaluation und klare Auftragsdefinition des Rettungsdiensts erfolgen, auf deren Basis eine sinnvolle, gedankenoffene Weiterentwicklung erfolgen kann. Zusätzlich zur logistischen Optimierung der rettungsdienstlichen Strukturen muss darüber hinaus an einer besseren Verzahnung und Zusammenarbeit des ambulanten Sektors, gerade im Bereich der hausärztlichen Versorgung, des Rettungsdiensts und der Notaufnahmen gearbeitet werden. Dies ist durch den Gemeinsamen Bundesausschuss und die Regierungskommission zur Krankenhausreform bereits angestoßen, muss aber seitens des Rettungsdiensts dringend fachlich und kritisch begleitet werden.
Erste Ergebnisse der Arbeitsgruppe
Die Kernaussagen und Kernforderungen der Arbeitsgruppe können als Ergebnis beider bisher durchgeführten Workshops wie folgt zusammengefasst werden (Abb. 2):
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Forderungen an die Politik (Kreise und kreisfreie Städte, zuständige Landesbehörden, Bundesgesundheitsministerium):
Vernetzung aller Systeme und darin tätigen Akteure
Ausräumen von Datenschutzbedenken durch sinnvolle Adaptation des europäischen Rechts, um ein umfassendes Qualitätsmanagement und Forschung zu ermöglichen
Bundesländerübergreifende Adaptation und Neudefinition der Hilfsfrist mit dringlichkeitsbezogenen Kategorien
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Forderungen an die Medizin (Krankenhäuser, Rettungsdienste, medizinische Fachgesellschaften, Interessenverbände und Standesvertretungen):
Bundesländerübergreifende Definition dringlichkeitsbezogener Kategorien als Grundlage für politische Entscheidungen zur Neudefinition einer gestaffelten und indikationsbezogenen Hilfsfrist
Sicherstellung der sofortigen Versorgung der zeitkritischen Notfälle durch den Rettungsdienst und der nicht kritischen Patienten durch den ambulanten Sektor
Schaffung einer qualitativ hochwertigen Datenbasis für Planung, Qualitätsmanagement und Wissenschaft
Forderungen an die Logistik (Hochschulen und Institute)
Bereitstellung wissenschaftlich fundierter Methoden, Modelle und Ressourcen, adaptiert an notfallmedizinische Belange
Vorschläge zur Diversifizierung
Schaffung eines aufgabenspezifischen Ressourceneinsatzes
Der Rettungsdienst und die gesamte notfallmedizinische Versorgung stehen derzeit vor einer großen Herausforderung. Diese sollte nach Ansicht der Autoren genutzt werden, um mit einem sinnvollen Blick über den Tellerrand hinaus und ohne Vorbehalte Ideen und Konzepte zu entwickeln, um den Rettungsdienst auf seinem hohen Niveau zu erhalten, dieses in Zukunft noch angemessen zu steigern und darüber hinaus einen attraktiven Arbeitsplatz für die verschiedenen Berufsgruppen in einem interprofessionellen Team zu gestalten.
Danksagung
Die Autoren bedanken sich ausdrücklich bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Workshops. Dies sind namentlich: Stephan Bandlow, Janina Bathe, Michael Corzillius, Florian Dax, Jan-Thorsten Gräsner, Leonie Hannappel, Holger Herlinghaus, Andreas Hitzges, Arne Krüger, Frank Naujoks, Stefan Nickel, Andrea Popa, Hanna-Joy Renner, Astrid Rumler, Kathrin Schaller, Albert Schiele, Daniel Schmitz, Sven Watzinger, Jan Wnent und Benno Wolcke. Ein besonderer Dank gilt der Stiftung BINZ für die großzügige Unterstützung des LiNo-Projekts (http://www.stiftung-binz.de).
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Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
J. Wnent, S. Bandlow, H.-J. Renner, J.-T. Gräsner, L. Hannappel, S. Watzinger, S. Nickel und F. Dax geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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