2.5.1 Konsequenz des vermittelnden Ansatzes
Nach Empfang der Daten durch die Forscher stellt sich weiter die Frage, ob die für sie faktisch anonymen Daten an Dritte übertragen oder sogar zur freien Verfügung ins Internet gestellt werden dürfen. Praktisch relevant ist dies, wenn die Forscher Ergebnisse ihrer Forschung und damit zusammenhängend die Datengrundlage mit der Scientific Community teilen möchten.
97 Da die Daten unter den beschriebenen Voraussetzungen für die Forscher datenschutzrechtlich frei nutzbar sind, können sie diese Daten grundsätzlich auch frei von datenschutzrechtlicher Restriktion an Dritte weitergeben. Denkbar ist beispielsweise, dass eine Forschergruppe die aus ihrer Sicht faktisch anonymen Daten einem Pharmaunternehmen zur weitergehenden Nutzung zur Verfügung stellen möchte.
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Auf den ersten Blick ist die datenschutzrechtlich unbeschränkte Möglichkeit der Übertragung von der forschenden Stelle an das Pharmaunternehmen konsequente Folge des vermittelnden Ansatzes. Ein etwaiges Korrekturbedürfnis dieser Situation könnte mit dem Argument abgelehnt werden, dass zumindest das Pharmaunternehmen, das die Daten empfängt und über Zusatzwissen oder Zusatzmittel für eine mögliche Re-Identifizierung (etwa aufgrund der eigenen Zugriffsmöglichkeit auf einen Referenzdatenbestand oder der Nutzungsmöglichkeit leistungsstarker Rechenzentren) verfügt, datenschutzrechtlich verantwortlich ist und einer Rechtsgrundlage zum Erheben und Speichern der Daten bedarf.
99 Diese Annahme würde jedoch dem Gedanken des datenschutzrechtlichen Vorfeldschutzes bei der Identifizierbarkeit (s.o.) und der allgemeinen Risikoverantwortung der übertragenden Stelle widersprechen. Die übertragende Forschergruppe setzt mit der Übertragung der Daten an das Pharmaunternehmen eine Ursache für eine erhöhte Gefährdung durch Re-Identifizierung des Betroffenen. Zudem weist die Annahme Lücken bei der Drittlandübertragung auf, wenn der Empfänger nach Art. 3 DSGVO nicht unter die DSGVO fällt.
100 Deshalb ist die Situation der freien Übertragbarkeit der Daten durch die Forschergruppe korrekturbedürftig.
Von der Literatur wird teilweise eine Korrektur in Form der Zurechnung von Zusatzwissen bejaht, wenn eine Stelle die für sie faktisch anonymen Daten an eine andere Stelle überträgt, die über Zusatzwissen oder Zusatzmittel verfügt.
101 Hiernach bräuchte die Forschergruppe für die Übertragung von für sie faktisch anonymen Daten an das Pharmaunternehmen aufgrund des dort vorhandenen Referenzdatenbestands oder des Zugriffs auf leistungsstarke Rechenzentren und der damit einhergehenden Re-Identifizierungsmöglichkeit eine datenschutzrechtliche Rechtsgrundlage. Gleiches würde gelten, wenn die Forschergruppe die für sie faktisch anonymen Daten zur freien Verfügung ins Internet hochladen würde, da hierdurch die Wahrscheinlichkeit, dass irgendeine zugriffnehmende Stelle über Zusatzwissen für eine mögliche Re-Identifizierung verfügt, erheblich gesteigert würde. Obwohl das Datum für die übertragende Forschergruppe zunächst faktisch anonym ist, handelt es sich nun aufgrund des Wissens oder der Mittel der empfangenden Stelle rückwirkend um eine datenschutzrechtlich relevante Übermittlung.
102 Gestützt wird diese Fiktion auf EG 26 S. 3 DSGVO, der die Mittel anderer Personen mit einbezieht. Das Wissen Dritter müsse zumindest dann in die Bewertung des Personenbezugs eingestellt werden, wenn der Dritte mit den fraglichen Daten in Berührung komme, etwa indem sie ihm übermittelt oder sonst zur eigenen Verfügung gestellt würden.
103 Auch wenn der Zurechnung von Zusatzwissen in solchen Übertragungssituationen zuzustimmen ist, sind weitere Ergänzungen nötig:
Zunächst erscheint es unstimmig, von einer Rückwirkung des Personenbezugs ab dem Zeitpunkt des Datenempfangs zu sprechen. Eine Fiktion mit ex tunc-Wirkung ist zwar rechtlich denkbar, jedoch weder gesetzlich angedeutet noch zielführend für die nähere Bestimmung der Reichweite der Zurechnungswirkung. Stattdessen sollte von einer „Vorwirkung“ des Zusatzwissens des Dritten im Moment der Datenübermittlung gesprochen werden. Diese Vorwirkung bewirkt eine veränderte Sichtweise, die nicht den Empfang als auf die Übermittlung rückwirkendes Ereignis, sondern den Übermittlungszeitpunkt betont.
104 Im Zeitpunkt der Übertragung der für die Forschergruppe faktisch anonymen Daten muss sie sich daher die Frage stellen, ob das empfangende Pharmaunternehmen über etwaiges Zusatzwissen zur Re-Identifizierung des Betroffenen verfügt. Sofern sie diese Frage nach allgemeinem Ermessen wahrscheinlich bejahen muss, benötigt die Forschergruppe für die Übertragung eine datenschutzrechtlichen Rechtsgrundlage, obwohl die Daten für sie grundsätzlich faktisch anonym und daher datenschutzrechtlich frei verfügbar sind.
Diese Ergänzung beschränkt auch die oben beschriebene Zurechnungswirkung. Zunächst wird deutlich, dass es für die Beurteilung des beim Empfänger vorhandenen Zusatzwissens entscheidend auf den Übertragungszeitpunkt ankommt. Zusatzwissen oder Zusatzmittel, die der Empfänger erst nach der Übertragung des Datums erwirbt oder gar Folgeübermittlungen des Dritten an Vierte, sind nicht mehr von der Zurechnung umfasst.
105 Die Vorwirkung im Zeitpunkt der Übertragung verdeutlicht, dass die Zurechnung des Zusatzwissens auf den konkreten Übertragungsvorgang beschränkt bleibt. Sofern sich nichts an der faktischen Anonymität der Daten bei der Forschergruppe ändert, ist sie somit außerhalb der Übertragung an das besagte Pharmaunternehmen frei von datenschutzrechtlicher Bindung.
Schließlich konkretisiert der Gedanke der Vorwirkung den bei der Forschergruppe zu fordernden Grad der Kenntnis bezüglich des beim Pharmaunternehmen vorhandenen Zusatzwissens. Teilweise wurde hier vertreten, dass die übertragende Stelle stets und verdachtsunabhängig die gegenwärtigen und künftigen Re-Identifizierungsmöglichkeiten der empfangenden Stelle zu evaluieren habe.
106 Eine solche pauschale Prüfungspflicht stünde jedoch in der Nähe des für unverhältnismäßig erachteten objektiven Ansatzes in der Übertragungssituation.
107 Der Übertragende weiß in der Regel nicht, über welches Wissen der Datenempfänger verfügt oder künftig verfügen wird. Er müsste daher sicherheitshalber vom Vorhandensein von Zusatzwissen ausgehen.
Überzeugender ist daher, auf positive Kenntnis des Übertragenden oder zumindest die Erkennbarkeit des nach allgemeinem Ermessen wahrscheinlichen Zusatzwissens bei der empfangenden Stelle abzustellen.
108 Nur wenn die übertragende Forschergruppe im Übertragungszeitpunkt damit rechnen muss, dass dem Pharmaunternehmen nach allgemeinem Ermessen wahrscheinlich (EG 26 S. 3 DSGVO) Zusatzwissen für eine mögliche Re-Identifizierung zur Verfügung steht, ist der Forschergruppe dieses Wissen zuzurechnen. Mit solchem vorhandenen Zusatzwissen muss die Forschergruppe insbesondere dann rechnen, wenn sie die Daten frei zugänglich ins Internet stellt, da hier das Vorhandensein von Zusatzwissen bei irgendeiner zugreifenden Stelle nach allgemeinem Ermessen zu erwarten ist.
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