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Erschienen in: Heilberufe 4/2023

01.04.2023 | Dekubitusvorsorge | Pflege Kolleg Zur Zeit gratis

Hilfsmittelgestützte Versorgung von Dekubitus

verfasst von: Dipl. Ing. Norbert Kamps

Erschienen in: Heilberufe | Ausgabe 4/2023

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Zusatzmaterial online: Zu diesem Beitrag sind unter https://​doi.​org/​10.​1007/​s00058-023-3056-5 für autorisierte Leser zusätzliche Dateien abrufbar.
Die richtige Wahl treffen Keine Frage, die Versorgung bei Dekubitus ist für viele Pflegekräfte eine Herausforderung, ist sie doch stets sehr individuell und aufwändig. Geeignete Hilfsmittel können dabei eine große Hilfe sein und prophylaktische Maßnahmen wie regelmäßiges Positionieren erleichtern.
Zahlreiche Liegehilfen, Sitz- oder Positionierungskissen sind am Markt verfügbar und eine Übersicht zu erhalten, ist kaum möglich. So gibt es nicht "das beste" oder das "stets für alle Fälle" geeignete Produkt, eine individuelle Auswahl muss getroffen werden. Und selbstverständlich soll das Hilfsmittel "Up-To-Date", d.h. innovativ sein.

Was macht ein innovatives Hilfsmittel aus?

Schaut man sich die Produkte genauer an, fällt auf, dass sie - wie schon seit vielen Jahren - immer den gleichen Wirkprinzipien folgen, Druckverteilung durch Weichlagerung oder auch Wechsellagerung. Gerade letzteres wird dabei in der Form der Wechseldruckmatratze gern als eine All-Round-Lösung angesehen, nicht sonderlich innovativ aber hoffentlich wirksam. Innovativ werden diese Produkte durch Kleinigkeiten, die sich z.B. in Materialauswahl, Art und Weise der Umsetzung oder auch in arbeitserleichternden technischen Details ausdrücken. Doch die große Innovation, welche die gesamte Versorgung revolutioniert, die findet sich leider nicht. Letztendlich ist es immer dasselbe, wir verteilen Druck und bewegen den Menschen - so müssen wir auf Details schauen und den Umstieg vom passiven "Lagern" zum fördernden Ansatz der Positionsunterstützung schaffen. Weg vom "Drehen und Wenden" nach Schema F hin zur individuellen Unterstützung und Förderung der Pflegebedürftigen.
Dekubitushilfsmittel wirken stets auf physikalischem Wege, sie verteilen Druck, sie beeinflussen die auf die Haut einwirkenden Reib- und Scherkräfte und regulieren die Hautfeuchte sowie Temperatur. Innovative Materialien und Konstruktionen beeinflussen diese Vorgänge. Und besonders innovative Ansätze greifen auf, was am besten vor Dekubitus schützt: Bewegung!
Doch Vorsicht vor falschen Innovationen. Obgleich das Dekubitusgeschehen sowohl physikalisch als auch physiologisch exakt beschreibbar ist, werden gerade in der Hilfsmittelversorgung mit wildesten Versprechungen und zum Teil absurden sowie wissenschaftlich in keiner Weise zu haltenden Aussagen, unrealistische Erwartungen geweckt, die schon an Wunder in Prophylaxe und Therapie grenzen.

Individuelle Ursachenbekämpfung

Ein Dekubitus entwickelt sich, wenn Druck über betroffenen Hautarealen längerfristig den Blutdruck in den kleinsten Blutgefäßen überschreitet. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn ein Pflegebedürftiger längere Zeit unbeweglich sitzt bzw. liegt. Unter Umständen kann bereits das Eigengewicht eines Körperteils, z.B. eines Beins, ausreichen einen Schaden zu erzeugen, wenn es nicht bewegt wird. Lange Zeit galt hier die Weich-, Superweich-, gar Null-Druck-Lagerung (eine physikalische Unmöglichkeit) als Innovation. Doch viel innovativer ist es, den Menschen wieder zur Bewegung anzuregen, ihn dabei zu fördern und ihn nicht in nur in Weichlagerungsmaterialien zu "versenken". Um vermeintliche von echten Innovationen zu unterscheiden, müssen daher eingehende Kenntnisse über die Arbeits- und Wirkweisen der Produkte und damit der zugrundliegenden physikalischen Vorgänge (Abb. 1) vorliegen. Arbeitsweisen für das Wirkprinzip der Druckumverteilung sind
  • Positionierung bzw. Positionsunterstützung des Pflegebedürftigen,
  • Einsinken des Pflegebedürftigen (Weichlagerung),
und für das Wirkprinzip der vorübergehenden Druckentlastung
  • Anhaltende Bewegung des Patienten, aktive Bewegungsunterstützung,
  • Temporäre Entlastung gefährdeter Stellen,
  • Vollständige lokale Entlastung.
Ergänzt werden diese Arbeitsweisen noch durch Maßnahmen zum
  • Management des Mikroklimas,
  • Management der Reib- und Scherkräfte.
Diese letzten Faktoren sind zwar nicht ursächlich für den Dekubitus, aber wichtige Begleitfaktoren. Hilfsmittel zur Dekubitusprophylaxe verfügen daher meist auch über Eigenschaften, die neben dem Druckmanagement, d.h. der Vermeidung von Druckbelastungen, auch die letztgenannten Faktoren durch ihre Arbeitsweise berücksichtigen. Die geschickte, möglichst individuelle Kombination der Wirkweisen sind dabei dann die echten Innovationen.

Innovation im Detail

Das Material der Sitz- und Liegeflächen beeinflusst durch Eigenschaften wie Härte oder Elastizität die Intensität der einwirkenden Kräfte. Ein Mensch mit einem definierten Körpergewicht muss auf einer harten Liegefläche höheren Druck aushalten als auf einer weichen Unterlage, in der er einsinkt, wodurch sich die Auflagefläche vergrößert.
Die Eigenbewegung der Pflegebedürftigen wird erheblich durch die genutzten Sitz- oder Liegeflächen beeinflusst. So muss z.B. zum eigenständigen Positionswechsel auf einer weichen Matratze wesentlich mehr Kraft aufgewandt werden als auf einer härteren Liegefläche. Dies führt zu einem Dilemma, das es individuell zu lösen gilt. Lieber Weichlagern und weniger Bewegung in Kauf nehmen oder doch härter und mehr Bewegung ermöglichen? Die Antwort lautet: Kommt drauf an! Moderne oder innovative Anti-Dekubituskissen und -matratzen sind daher oftmals mit bewegungsfördernden Elementen ausgestattet.
Doch jede Bewegung auf einer Sitz- oder Liegeoberfläche verursacht zwangsläufig an der Schnittstelle zwischen Haut und Oberfläche Scher- und Reibkräfte. So bei der Positionierung durch die Pflegekraft, aber auch, wenn die Pflegebedürftigen sich selbst noch bewegen. In Studien wurde ein Zusammenhang festgestellt, dass insgesamt weniger Pflegebedürftige, die auf Laken bzw. Bezügen aus Synthesefasern lagen, einen Dekubitus entwickelten als bei der Verwendung von Bettlaken aus Baumwolle. Einerseits wurde vermutet, dass die Reibung vermindert wurde, andererseits wurden auch Auswirkungen auf das Mikroklima (siehe unten) diskutiert. Da sehr glatte Oberflächen zugleich die Eigenbewegung erschweren, gilt es das individuelle Maß zu finden. Bei innovativen Produkten wird dies durch eine mögliche Auswahl von Materialien und Konstruktion berücksichtigt. Auch durch konstruktive Maßnahmen können Hilfsmittel Einfluss auf die wirkenden Scherkräfte nehmen. Die Oberflächengestaltung beeinflusst nicht nur die Reibung - so werden häufig glatte Materialien für Bezüge verwendet - sondern auch die Unterstützung von Weichteilgewebe. Bei geringer Unterstützung würde das Gewebe der Schwerkraft folgend nach unten drängen, etwa eine Fettschürze bei adipösen Menschen und so am starren Knochen "zerren".

Was hat es mit dem Mikroklima auf sich?

Obwohl das Mikroklima selbst keinen Einfluss auf Druck-, Scher- oder Reibkräfte nimmt, wirkt es aber auf die Haut und beeinflusst deren Integrität sowie Widerstandsfähigkeit. Allgemein wird davon ausgegangen, dass bei hoher Umgebungsluftfeuchte (Luftfeuchte zwischen Unterlage und Haut) die Verdunstung der Transpiration verlangsamt sein kann, so dass sich Schweiß auf der Haut ansammelt, sie feucht bleibt und gegebenenfalls mazeriert. Dies ist besonders relevant für das Dekubitusrisiko, da Feuchtigkeit auf der Hautoberfläche den Widerstand der Haut reduzieren und den Reibungskoeffizienten der Haut erhöhen kann und damit die Haut anfälliger für Druck, Scherbeanspruchung und Reibung macht. Je feuchter und wärmer die Haut ist, desto mehr weicht sie auf. In der Folge wird sie anfälliger für einwirkende Kräfte. Umgekehrt wird stark ausgetrocknete Haut spröde und bricht leicht auf.
Positiv beeinflussen lässt sich das Klima durch geeignete, atmungsaktive Hilfsmittel, insbesondere Bezüge für Sitzkissen und Matratzen aus modernen Materialien wie Abstandsgewirken. Diese ermöglichen durch ihre Konstruktion einen kontinuierlichen Luftaustausch und führen somit auch Feuchtigkeit von der Haut. Einen sehr starken Einfluss haben Luftbewegungen bei aktiven belüfteten Hilfsmitteln, sogenannten Low-Air-Loss-Systemen. Hier wird ein kontinuierlicher Luftstrom erzeugt, der über einen Membran-Bezug das Hautklima einstellbar reguliert.

Innovative Produkte unterstützen den Pflegeprozess

Wenn der Pflegebedürftige in seiner Position im Bett oder im Stuhl oder anderen Sitzgelegenheiten unterstützt wird, handelt es sich im o. g. Sinne um einen aus seiner Sicht passiven Vorgang, der umgangssprachlich auch als Lagerung bezeichnet wird. Hier wird jemand "in eine bestimmte Position gelegt". "Lagern" bedeutet im Wortsinn aber auch, etwas so aufzubewahren (beispielsweise Kartoffeln im Keller), dass man es später gebrauchen kann. Je nachdem wie das Wort "Lagern" also verwendet wird, gewinnt es eine andere Bedeutung. Es ist daher besser anstelle von "Lagern" oder "Lagerung" von "Positionierung" oder "Positionsunterstützung" zu sprechen.
Zudem wird aus "Unterstützung" ein weiterer wesentlicher Aspekt der Maßnahme deutlich. Der Pflegebedürftige soll nicht rein passiv in eine Position gebracht werden, sondern vielmehr ist auch der Weg bis zu dieser Körperhaltung bzw. Endposition und was auf diesem Weg erfolgen kann, zu berücksichtigen. Damit handelt es sich aber um einen Prozess, bei dem der Pflegebedürftige eine Körperhaltung einnimmt, die zur Gesunderhaltung dient. Innovative Produkte unterstützen diesen Prozess und zwangsläufig heißt dies auch, dass nicht einzelne Eigenschaften und Funktionen eines Produkts eine Innovation ausmachen, sondern, wie dargelegt, die geschickte und auf den Patienten abgestimmte Kombination von Arbeitsweisen (Abb. 2, e-only).
Die verschiedenen Arbeitsweisen gehen oftmals fließend ineinander über und ergänzen sich. Es gibt kein Hilfsmittel, das nur einer Arbeitsweise folgt. So ist beispielsweise eine vollständige Entlastung der Ferse praktisch stets auch mit einer Positionierung einhergehend und letztere wiederum mit einer Weichlagerung (dem Einsinken).

Und was ist jetzt wirklich neu?

Die jeweiligen Arbeitsweisen lassen sich auf verschiedenen Wegen realisieren. Diese Wege könne als Technologie bezeichnet werden. Das Wirkprinzip "Druckumverteilung" kann beispielsweise durch die Arbeitsweise "Einsinken des Patienten" erreicht werden. Die dazugehörige Technologie wäre z.B. eine sehr weiche Schaumstoffmatratze, in die der Patient einsinkt und so die Oberfläche der Liegefläche vergrößert wird. Eine weitere Technologie - die der gleichen Arbeitsweise folgt - wäre eine luftgefüllte Matratze. Jetzt einen besonders weichen Schaumstoff zu entwickeln, wäre zwar eine Veränderung einer Technologie, aber nicht sehr innovativ. Jedoch über Luftzufuhr den Schaumstoff anpassbar zu gestalten, dies gar noch über eine integrierte Sensorik davon abhängig zu machen, ob der Nutzer auf dem Produkt liegt oder sitzt oder ob Bewegung ausgeübt wurden, wäre innovativ. Diese Hybridsysteme sind am Markt so oder in ähnlicher Form erhältlich, doch muss man sie auch verstehen und erkennen. Denn oberflächlich und auf den ersten Blick betrachtet, sind es ja auch wieder nur einfache Weichlagerungsmatratzen.

Technik kann nur unterstützen

Gerade diese Einfachheit macht die Innovation aus. Die Produkte verbessern den Pflegeprozess, greifen aber nicht ein, drängen sich nicht in den Vordergrund. Es ist keine Technik um der Technik willen. Mag das Produkt aber noch so innovativ sein, eins darf nicht vergessen werden: Pflege ist kein automatisierter Prozess, sondern ein individueller und die Technik kann diesen Prozess nicht ersetzen, sondern nur unterstützen. Schafft sie dies unauffällig ohne viel Bedienungsaufwand, etwa indem Positionierungsintervalle verlängert und Dokumentationsaufgaben übernommen werden, ist das Produkt innovativ. Da somit eine Vielzahl von Umsetzungstechnologien in einem Produkt zur Kombination kommen können und auch unterschiedlichste Schwerpunkte wählbar sind, erklärt sich auch, warum in einer schier verwirrenden Vielfalt so viele unterschiedliche Produktarten und Hilfsmittel am Markt angeboten werden. Es sind Kissen, Sitzhilfen, Matratzenauflagen und -ersatz und gegebenenfalls sogar ganze Bettsysteme. Und jedes für sich mag auch innovativ sein. Es gibt daher unzählige Einteilungen nach Material, nach Höhe der Druckentlastung, nach technischen Eigenschaften oder ganz profan nach Preisen (diese Aufzählung ist längst nicht erschöpfend). Alle diese Einteilungen haben einen Haken: Sie helfen im pflegerischen Alltag nicht weiter und erlauben keine indikationsgerechte, individuelle Auswahl. Es gibt keine einfachen "Kochrezepte" oder Checklisten zur Auswahl von Produkten. Lassen Sie sich dadurch nicht verunsichern. Versuchen Sie die einzelnen Produkte und ihre jeweilige Wirkweise zu verstehen. Mit ein wenig Übung lassen sich dann schnell sinnvolle, innovative Produkte von weniger guten unterscheiden. Es sind die kleinen Dinge, die ein innovatives Dekubitushilfsmittel ausmachen, nicht die vollmundig angekündigten Neuheiten, denn letztendlich wird immer nur Druck verteilt.

Pflege einfach machen

Dekubitushilfsmittel wirken stets auf physikalischem Wege, sie verteilen Druck, sie beeinflussen die auf die Haut einwirkenden Reib- und Scherkräfte und regulieren die Hautfeuchte sowie Temperatur.
Innovative Materialien und Konstruktionen beeinflussen diese Vorgänge. Und besonders innovative Ansätze greifen auf, was am besten vor Dekubitus schützt: Bewegung!
Es sind die kleinen Dinge, die ein innovatives Dekubitushilfsmittel ausmachen, nicht die vollmundig angekündigten Neuheiten, denn letztendlich wird immer nur Druck verteilt.

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Metadaten
Titel
Hilfsmittelgestützte Versorgung von Dekubitus
verfasst von
Dipl. Ing. Norbert Kamps
Publikationsdatum
01.04.2023
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Heilberufe / Ausgabe 4/2023
Print ISSN: 0017-9604
Elektronische ISSN: 1867-1535
DOI
https://doi.org/10.1007/s00058-023-3056-5

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