15.3.1 Finanzierungsoptionen einer zukünftigen Sicherungslücke
Eine stark wachsende Sicherungslücke lässt sich zumindest in den Daten der Sozialhilfe bislang noch nicht erkennen. Trotz hoher und gestiegener Eigenanteile ist die Inanspruchnahme nicht merklich gestiegen: Mit 8,4 % sank der Anteil der Empfänger von Hilfe zur Pflege (HzP)
an allen Pflegebedürftigen zum Jahresende 2017 auf den niedrigsten Wert seit Ende der 1990er Jahre. Die Anzahl der HzP-Empfänger hat sich im Jahr 2018 zwar nach mehrjährigem Rückgang wieder erhöht, dies gilt aber auch für die Gesamtzahl der Sozialhilfeempfänger. Der HzP-Anteil an allen Sozialhilfe
-Empfängern war mit 10,6 % der niedrigste seit dem Jahr 2005, ebenso der Anteil der Netto-Ausgaben für Hilfe zur Pflege an den gesamten Sozialhilfeausgaben mit 11,2 %. Rentensteigerungen und höhere Vermögen der privaten Haushalte (vgl. Abschn.
15.2.4) haben hierzu beigetragen. Der Anteil der Bevölkerung im Alter ab 65 Jahre, der von Armut im Sinne einer erheblichen materiellen Deprivation betroffen ist, lag zuletzt (2018) mit 2,4 % unter dem der 18- bis unter 65-jährigen (3,4 %) (Statistisches Bundesamt
2019).
Zukünftig werden aber die alterungsbedingte Zunahme der Zahl Pflegebedürftiger sowie steigende Qualitätsansprüche an die Pflege den finanziellen Druck erhöhen. Auch die zunehmende Rationierung von Pflege, sichtbar an den Wartelisten bei Pflegeheimen und ambulanten Pflegediensten, macht es erforderlich, dass mehr finanzielle Mittel in den Ausbau der (personellen) Infrastruktur fließen, beispielsweise in Form von steigenden Arbeitsentgelten als Maßnahme gegen den Fachkräftemangel. Eine zusätzliche Absicherung gegen die finanziellen Folgen von Pflegebedürftigkeit gilt allgemein als notwendig, um zu verhindern, dass die bereits hohen Eigenanteile weiter ungebremst ansteigen. Über die Form besteht jedoch keine Einigkeit.
Zum einen wird gefordert, die gegenwärtige Pflegeversicherung zu einer Vollversicherung
auszubauen, d. h. eine Erhöhung der Leistungen, sodass zumindest die unmittelbar pflegebedingten Kosten entweder vollständig gedeckt werden oder wenigstens die Eigenanteile
eine feste Obergrenze erhalten. Zum anderen wird empfohlen, Sicherungslücken stattdessen durch ergänzende kapitalgedeckte Vorsorgeformen zu schließen, weil mit der im Umlageverfahren
organisierten SPV die finanziellen Folgen der demographischen Alterung nicht mehr bewältigt werden könnten, ohne jüngere Generationen übermäßig zu belasten („Generationengerechtigkeit
“).
11 Letzteres kann sowohl auf freiwilliger privater Basis als auch obligatorisch und/oder kollektiv organisiert werden.
Die erstgenannte Option – eine Ausdehnung des Pflichtversicherungssystems – wirft grundlegende, vor allem verteilungspolitische Fragen auf. Ihre Finanzierung durch Beiträge wirkt in der sozialen Pflegeversicherung (SPV) unter Verteilungsgesichtspunkten regressiv, d. h. sie belastet Mitglieder mit geringerer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit relativ stärker. Ursächlich hierfür ist, dass es (im Unterschied etwa zur Einkommensteuer) keine Freibeträge
12, dafür aber eine Beitragsbemessungsgrenze gibt; zudem unterliegen für versicherungspflichtige Mitglieder nur erwerbsbezogene Einkommen der Beitragspflicht
, nicht aber Kapital- oder Vermögenseinkommen. Für den Bezug von Sach- und Geldleistungen der Pflegeversicherung gemäß SGB XI spielt es hingegen keine Rolle, ob Pflegebedürftige über (hohe) Einkommen oder Vermögen verfügen.
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Die private Ersparnis- und Vermögensbildung
kann wegen der relativ hohen Altersabhängigkeit gerade für das Pflegerisiko eine wichtige Finanzierungsoption sein. Leistungen der Pflegeversicherung verringern die Notwendigkeit, im Alter bei Pflegebedürftigkeit vorhandene Ersparnisse und Vermögen zur Finanzierung von Pflegeaufwand einzusetzen. Ersparnisse und Vermögen werden somit geschont, was in letzter Konsequenz den Erben der hiervon begünstigten Pflegebedürftigen zugutekommt.
14 Dass dieser „Erbenschutz
“ mit einer überproportionalen Belastung geringer Einkommen durch Sozialversicherungsbeiträge einhergeht, ist verteilungspolitisch fragwürdig. Der Ausbau der Pflegeversicherung zu einer Voll(kosten)versicherung oder durch Deckelung der Eigenanteile würde – bleibt sie wie bisher beitragsfinanziert – den Effekt des Erbenschutzes verstärken. Gleichzeitig würden bisherige steuerfinanzierte Sozialhilfezahlungen durch beitragsfinanzierte Pflegeversicherungsleistungen ersetzt, sodass – aufgrund des Lohnbezugs und der Beitragsbemessungsgrenze (s. o.) – auch hierdurch hohe Einkommen weniger stark zur Finanzierung herangezogen würden (vgl. auch Kochskämper et al.
2019).
Gefordert wird daher, den Ausbau der SPV zumindest teilweise aus dem allgemeinen Steueraufkommen zu finanzieren, etwa in Form eines Bundeszuschusses wie in der GKV. Eine Steuerfinanzierung geht jedoch prinzipiell mit Bedarfsprüfungen beim Leistungsbezug oder zumindest einer eigenständigen Prüfung des effizienten Mitteleinsatzes (durch den Bundesrechnungshof) einher. Die nur begrenzt zweckgebundenen Geldleistungen in der ambulanten Pflege sind damit nur schwer vereinbar. Die Umstellung auf das Sachleistungsprinzip läge bei einer Pflegevollversicherung nahe.
Daneben gibt es begründbare Zweifel an der „Demographiefestigkeit
“ des Umlageverfahrens, das die Finanzierungsgrundlage der SPV bildet. Mit dem seit dem Jahr 2015 im Aufbau befindlichen Pflege-Vorsorgefonds werden zwar jährlich 0,1 Prozentpunkte der beitragspflichtigen Einnahmen der SPV (aktuell ca. 1,4 Mrd. EUR) angelegt, um ab Mitte der 2030er Jahre demographiebedingte Beitragssteigerungen abzumildern. Diese Maßnahme wird aber im Hinblick sowohl auf ihren finanziellen Umfang als auch auf die zeitliche Begrenzung als völlig unzureichend kritisiert, um nachhaltige Stabilisierungswirkungen zu erzielen (Breyer
2016).
15 Angesichts der großen Unsicherheiten, die in längerer Frist bezüglich der Entwicklung der (lohnbezogenen) Beitragsgrundlagen, aber auch der Anlagemöglichkeiten für Finanzkapital (Zins- und Vermögenspreisentwicklung) bestehen, liegt es nahe, einen Mix der Finanzierungsarten zu wählen, um systemische Risiken zu streuen. Dies spricht in der aktuellen Situation für einen Ausbau kapitalbasierter Vorsorge. Aber dies muss nicht zwangsläufig privat bzw. freiwillig geschehen.
Private Pflegezusatzversicherungen
stellen zwar eine naheliegende Option dar, einen hohen Verbreitungsgrad hat diese Form der kapitalgedeckten Ergänzungsvorsorge bislang aber nicht erreicht (vgl. Abschn.
15.2). Der Branchenverband empfiehlt daher eine staatliche Förderung durch steuerliche Vergünstigungen oder Zuschüsse (PKV-Verband
2019), andere fordern – analog zur Diskussion über „Riester-Renten“ –, die private Pflegezusatzversicherung obligatorisch zu machen (Breyer
2016). Allerdings erscheint es fragwürdig, die bislang verhaltene Nachfrage nach privaten Pflegezusatzversicherungen primär auf eine fehlende Vorsorgebereitschaft in der Bevölkerung zurückzuführen (vgl. Abschn.
15.2). Als Alternative lässt sich daher auch begründen, in kollektiver Form zusätzlich kapitalbasiert vorzusorgen, beispielsweise durch Ausbau des Pflege-Vorsorgefonds (vgl. Ehrentraut et al.
2019).
15.3.2 Zusätzliche Potenziale ergänzender privater Vorsorge
Angesichts der absehbaren Herausforderungen, die Finanzierung der Langzeitpflege zukünftig zu sichern, sollten aber auch zusätzliche Potenziale ergänzender privater (kapitalbasierter) Vorsorge erschlossen werden. Dabei wäre es aufgrund der bisherigen Erfahrungen sinnvoll, jenseits der „klassischen“ Pflegezusatzversicherungen weitere Ansätze in den Blick zu nehmen.
So gibt es erste Ansätze, neben der Altersvorsorge auch das Pflegerisiko
betrieblich abzusichern.
16 Betriebliche Gruppenversicherungen
können im Vergleich zu individuell abgeschlossenen Pflegezusatzversicherungen günstigere Konditionen für Versicherungsnehmer anbieten (i. d. R. Verzicht auf Gesundheitsprüfung, geringere Beiträge), gleichzeitig ergeben sich aber zusätzliche Gestaltungsfragen (z. B. Übertragbarkeit bei Arbeitgeberwechsel, Fortführung nach Ende der Erwerbstätigkeit).
Ein anderer Ansatz ist die Weiterentwicklung des Leistungsspektrums von Pflegezusatzversicherungen. Ausgangspunkt ist die inhärente Unsicherheit, inwieweit die ex ante vereinbarten monatlichen Geldzahlungen der „klassischen“ Pflegezusatzversicherungen die (ex ante individuell unbekannte) finanzielle Lücke bei Pflegebedürftigkeit verringern können. Pflegekostenversicherungen
bieten in dieser Hinsicht mehr Sicherheit, i. d. R. beziehen sie sich aber nur auf Pflegeleistungen durch professionelle Dienste und schützen nicht vor steigenden Eigenanteilen in der obligatorischen Pflegeversicherung, da sie ihre Leistungen häufig an deren Leistungen koppeln. Ein aktueller Vorschlag für eine kapitalgedeckte Eigenanteilsversicherung (Kochskämper et al.
2019) sieht zwar eine vollständige Abdeckung von Eigenanteilen
vor, setzt aber eine Fixierung des relativen Kostenanteils der obligatorischen Pflegeversicherung voraus und bleibt ebenfalls auf Sachleistungen beschränkt. Außerdem beruhen die Modellkalkulationen auf der Annahme einer Versicherungspflicht.
Eine Weiterentwicklung des Leistungsspektrums ist auch mit Blick auf den Absicherungsbedarf der privaten Haushalte möglich, der über reine Geldleistungen hinausgeht. Hierzu zählt etwa, dass in einem – u. U. plötzlich eintretenden – Pflegefall kurzfristig spezifische Dienstleistungen wie z. B. Pflegeberatung, Zugang zu/Organisation von Pflegeleistungen etc. verfügbar sind. Private Versicherungsunternehmen können solche Leistungen als sog. Assistance-Leistungen
anbieten (z. B. Vermittlung eines Pflegeheimplatzes, eines ambulanten Pflegedienstes) und mittlerweile ist „Pflege-Assistance“ Bestandteil der Angebote von Pflegezusatzversicherungen bei zahlreichen Versicherungsunternehmen.
17 Haushaltsbefragungen zeigen ein innerhalb weniger Jahre deutlich gesteigertes und mittlerweile hohes Interesse an Pflege-Assistance-Leistungen.
18 Bislang liegen aber nur wenige Erfahrungswerte vor. In den öffentlichen Darstellungen von Pflegezusatzversicherungen liegt der Fokus nach wie vor auf dem Verhältnis von Prämie zu Tages-/Monatsgeld (vgl. Finanztest 02/2020). Assistance-Leistungen könnten angesichts des Nachfragepotenzials zu einem wesentlichen Leistungsbestandteil von Pflegezusatzversicherungen aufgewertet werden und so die ergänzende private Pflegevorsorge fördern.
Schließlich ist gerade für das stark altersabhängige Pflegerisiko die individuelle Ersparnis- und Vermögensbildung eine wesentliche Vorsorgeform, wie sie auch für die allgemeine private Altersvorsorge genutzt wird. Mit Blick auf die zukünftigen gesellschaftlichen Herausforderungen durch Pflegebedürftigkeit erscheint es unumgänglich, Teile der wachsenden privaten Sparguthaben und Vermögenswerte für Pflegefinanzierung einzusetzen, anstatt diese für Erbschaften zu schützen. Dies erscheint auch deshalb konsequent, weil andererseits Familienangehörige (als potenzielle Erben) zukünftig weniger zum Unterhalt Pflegebedürftiger herangezogen werden sollen (mit Inkrafttreten des Angehörigen-Entlastungsgesetzes zum Jahresbeginn 2020). Die im Vergleich zu den Einkommen deutlich weniger gleiche Verteilung von Geld- und Sachvermögen legt nahe, dass sich dieser Vorsorgeansatz nur auf Teile der Bevölkerung beziehen kann. Würde man aber auf die Nutzung dieser Form privater Vorsorge für die Pflegefinanzierung weitergehend verzichten, würde das solidarische Finanzierungssystem in nicht nachhaltiger Weise überdehnt und leistete überdies einer Zunahme der Vermögensungleichheit Vorschub.
Das subsidiäre Sicherungssystem der Sozialhilfe stellt in sehr konsequenter und effektiver Weise sicher, dass private Vermögen zur Pflegefinanzierung verwendet werden, bevor staatliche Mittel eingesetzt werden. Allerdings wird der Sozialhilfebezug in der politischen Diskussion stigmatisiert und im Zusammenhang mit Pflegebedürftigen als unzumutbar angesehen. Daher soll abschließend kurz auf mögliche alternative Ansätze eingegangen werden, mit denen Entsparen und Vermögensabbau zum Zweck der Pflegefinanzierung in zumutbarer Weise erreicht werden kann.
Eine spezielle Form betrifft die Nutzung von Immobilienvermögen zur Finanzierung individueller Pflegeaufwendungen. In mehreren OECD-Ländern gibt es Erfahrungen mit der Umwandlung von Immobilienbesitz in Geldleistungen für Pflege, teilweise unter den Bezeichnungen Umkehrhypotheken
(
reverse mortgage) oder Immobilienrenten
(vgl. Colombo et al.
2011). Hierbei kann es sich sowohl um Angebote von Unternehmen der Finanzindustrie (Kreditinstitute, Versicherungen) als auch um öffentliche Programme (z. B. „Nursing Home Loan“ in Irland) handeln. Eine wesentliche Zielgruppe sind Immobilienbesitzer mit geringen bzw. mittleren Einkommen (
asset rich but cash poor).
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Bei einem Teil der Angebote ist die Monetarisierung des Immobilienwertes an die Beibehaltung des Wohnrechts bis zum Lebensende gekoppelt, bietet also den Schutz davor, sein Haus verkaufen zu müssen, um Pflegeleistungen zu bezahlen. Die damit verbundene Finanzdienstleistung umfasst Vorauszahlungen (Kredit) auf den späteren Erlös aus der Veräußerung der Immobilie. Dieser Veräußerungserlös wird nach dem Tod des Immobilienbesitzers für die (verzinste) Rückzahlung des Kredits verwendet. Wesentliche Risikokomponenten sind das Langlebigkeitsrisiko der Immobilienbesitzer sowie die Wertentwicklung der Immobilie.
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Als Nachteile dieser Form von Pflegefinanzierung gelten vor allem komplizierte und teilweise teure Verträge. In Deutschland hat es bislang nur vereinzelte Angebote gegeben, in der öffentlichen Wahrnehmung überwiegt bislang eine negative (anekdotische) Berichterstattung. Eine wesentliche Ursache hierfür dürfte ein fehlender Regulierungsrahmen für diese neuartigen Angebote sein, z. B. in Form von staatlichen Garantien bei Insolvenz oder Musterverträgen.
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Im Rahmen eines öffentlichen Programms
20 können sich in Irland Pflegebedürftige bei der Zahlung der Kosten für Heimpflege unterstützen lassen, indem die staatliche Gesundheitsbehörde zinslose Darlehen gewährt, die später (auch nach dem Tod des Pflegebedürftigen) durch Veräußerungen von Vermögenswerten (u. a. Immobilieneigentum) zurückgezahlt werden. Schätzungsweise 10 % aller Pflegebedürftigen, die im Rahmen des „Fair Deal Scheme“ staatliche Unterstützungsleistungen erhalten, nutzen diese Form der Vermögensverwertung (vgl. Department of Health
2015).
Eine weitere, weniger spezifische Form, privates Geld- und Sachvermögen systematisch zur Pflegefinanzierung heranzuziehen, wäre eine vermögensabhängige Gestaltung von Eigenanteilen in der obligatorischen Pflegeversicherung. Hierbei ließe sich auf der Praxis der Vermögensprüfung im Rahmen der Grundsicherung (inkl. Regelungen zu Schonvermögen und Freibeträgen) aufbauen.
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Schließlich könnte ein Bundessteuerzuschuss an die SPV, mit dem eine Deckelung der Eigenanteile als Leistungsausweitung finanziert würde, einen indirekten Ansatz liefern, um privates Vermögen stärker in die Pflegefinanzierung einzubeziehen. Dies wäre z. B. dann der Fall, wenn die Höhe eines solchen Bundeszuschusses einem zusätzlichen Aufkommen der Erbschaftsteuer entspräche.
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