Hintergrund und Zielsetzung/Fragestellung
In der ersten Pandemiewelle im Frühjahr 2020 sind in den stationären Langzeitpflegeeinrichtungen überproportional viele Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen an COVID-19 erkrankt [
24] und hatten den höchsten Anteil im Ausbruchsgeschehen [
4]. Das Risiko von Bewohner*innen, an oder mit dem Virus zu versterben, war im Vergleich zu in der eigenen Häuslichkeit lebenden Gleichaltrigen deutlich erhöht [
19,
21]. Gründe hierfür liegen zum einen in der höheren Komorbidität der in diesen Einrichtungen Lebenden, zum anderen aber auch in den durch räumliche und körperliche Nähe geprägten Lebensumständen [
13,
21].
Dem Gesundheitsschutz stehen weitere Werte – soziale Teilhabe und Lebensqualität der Bewohner*innen – gegenüber. Eine Übersichtsarbeit zu psychosozialen Auswirkungen der Pandemie und Maßnahmen des Infektionsschutzes zeigt Einsamkeit, Trauer, Depressivität, aber auch Angst der Bewohner*innen als Folge von Kontakt- und Besuchsrestriktionen [
2]. In den einbezogenen Studien wird auf die von Angehörigen berichtete Zunahme von Einsamkeit und reduzierter Lebensqualität verwiesen und die Angst von Mitarbeiter*innen vor Infektionen beschrieben. Aus geriatrischer Perspektive wird auf die Gefahr auch relativ kurzer Phasen intensiver sozialer Isolation für den Gesundheitszustand älterer Menschen hingewiesen [
23]. Daraus ergibt sich die Forderung nach Infektionsschutzmaßnahmen, die so kurz wie möglich gehalten und deren Verhältnismäßigkeit stetig hinterfragt werden soll [
23]. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit wird auch aus pflegewissenschaftlicher Perspektive betont, und dabei werden die Leitungspersonen vor Ort in der Verantwortung gesehen [
5].
Leitungspersonen mussten pandemiebedingt teilweise täglich neue eigene Entscheidungen treffen sowie Vorgaben von übergeordneten Stellen interpretieren und umsetzen. Dabei mussten in der Kommunikation alle maßgeblichen Personengruppen berücksichtigt werden. In dieser Arbeit wird eine Entscheidung als Wahl einer Handlungsalternative definiert [
12]. Bisher wurde jedoch nicht beschrieben, welche Entscheidungen im Umgang mit der COVID-19-Pandemie von Leitungspersonen stationärer Langzeitpflegeeinrichtungen zu treffen waren, und welche Konsequenzen sich daraus ergaben. Diese Lücke zu schließen, ist Ziel dieser Analyse.
Studiendesign und Untersuchungsmethoden
Für die Studie wurde ein qualitatives multizentrisches Querschnittdesign mit semistrukturierten Telefoninterviews gewählt und in einem Verbund aus 10 Hochschulen in Deutschland und ihrer kooperierenden Einrichtungen bundesweit durchgeführt. Ein positives Votum der Ethikkommission der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg lag vor (Nummer 2019-006 vom 25.05.2020).
Eingeschlossen wurden Leitungspersonen der administrativen Ebene bzw. der Wohnbereichsebene, um zum einen die Organisation und zum anderen die direkte Pflege und Versorgung berücksichtigen zu können. Der Kontakt zu den Teilnehmer*innen wurde über die kooperierenden Einrichtungen hergestellt. Für die Einrichtungs- und Pflegedienstleitungen sowie Wohnbereichsleitungen wurden separate Interview-Leitfäden verwendet (Zusatzmaterial online). Einrichtungscharakteristika und Merkmale der Studienteilnehmer*innen (Zusatzmaterial online) wurden separat erfasst. Die Interviews wurden in den Monaten Juni und Juli 2020 durchgeführt und digital aufgezeichnet.
Die Transkription erfolgte nach einheitlichen Transkriptionsregeln [
6]. Die Daten wurden mittels Framework Analysis [
20] unter Verwendung von MAXQDA 18 analysiert. Die Auswertungsmethode ermöglicht es, vorab festgelegte Themen, aber auch neue im Datenmaterial identifizierte Themen zu berücksichtigen [
17]. Die Framework Analysis erfolgt in 5 Schritten: (1) „familiarization“ (vertraut machen), (2) „identifying a thematic framework“ (identifizieren wichtiger und wiederkehrender Themen), (3) „indexing“ (indexieren) (4) „charting“ (strukturierte Darstellung) und (5) „mapping and interpretation“ (Analyse) [
7]. Für den 5. Analyseschritt (Mapping and interpretation) wurde das umfangreiche Datenmaterial 2 inhaltlichen Schwerpunkten zugeordnet und in „peer debriefings“ reflektiert. Der hier vorgestellte Schwerpunkt bezieht sich auf „Entscheidungen in der Pandemie“.
Diskussion
Leitungspersonen standen während der ersten Welle der COVID-19-Pandemie unter dem besonderen Druck, nahezu täglich Entscheidungen bezüglich des Infektionsschutzes treffen zu müssen und kreative Lösungen im Rahmen begrenzter und teilweise unklarer Handlungsalternativen zu finden. Diese Entscheidungen bezogen sich in unserer Befragung insbesondere auf Fragen zur sozialen Teilhabe innerhalb der Einrichtungen, auf die Umsetzung von Quarantäne bzw. Isolation und das Anpassen des Personaleinsatzes. Mit diesen Hauptthemen wird die Dialektik von Teilhabe und Gesundheitsschutz angesprochen sowie auf die Organisationsebene fokussiert. Ähnliche Herausforderungen für die Leitungsebene in Pflegeheimen wurden auch aus anderen Ländern berichtet [
16]. Leitungspersonen mussten weitreichende Entscheidungen treffen, um Forderungen und Vorgaben erfüllen zu können. Die nur teilweise absehbaren Konsequenzen ihrer Entscheidungen mussten gegenüber Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen und weiteren Beteiligten vertreten werden und trafen dabei auf z. T. konkurrierende Interessen. Eine Befragung von Leitungspersonen der stationären Langzeitpflege identifizierte den Umgang mit dem Infektionsrisiko als Kernthema der Herausforderungen, Belastungen und Bewältigungsstrategien der COVID-19-Pandemie [
11]. Die in der vorliegenden Studie ermittelten Schwerpunkte der pandemiebedingten Entscheidungsprozesse unterstreichen dies. Gleichzeitig wurden dem Infektionsschutz zuwiderlaufende, aber für die Langzeitpflege bedeutsame Themen deutlich, wie die soziale Teilhabe der Bewohner*innen und eine personenzentrierte Werteorientierung insbesondere für Menschen mit Demenz. Dabei steht die Förderung von Selbstbestimmung und Lebensqualität auch unter Pandemiebedingungen im Fokus [
5] und nimmt für Pflegeheimbewohner*innen mit depressiver Symptomatik einen hervorgehobene Stellung ein [
22]. Die nach der ersten Welle erarbeitete Leitlinie zur Förderung sozialer Teilhabe und Lebensqualität in der stationären Altenpflege kann von Leitungspersonen als Entscheidungshilfe genutzt werden, um im weiteren Pandemieverlauf sicherer entscheiden zu können, z. B. hinsichtlich des Einschätzens individueller Risiken, des Zugangs zu bedarfsgerechten Angeboten der Gesundheitsversorgung oder der internen bzw. externen Kommunikation [
5]. Ein weiteres bedeutsames Thema waren Entscheidungen im Zusammenhang mit palliativen Situationen. Leitungspersonen konnten diesbezügliche Entscheidungen nicht auf situationsgerechte Empfehlungen oder Richtlinien stützen, da diese kaum bzw. nicht verfügbar waren, wie aus Analysen internationaler Literatur hervorgeht [
3,
9]. Die Versorgung Sterbender unter den Bedingungen der Kontakteinschränkungen wurde z. B. auch in den Niederlanden von den Pflegenden als problematisch und deutlich optimierbar beschrieben [
14].
Bei der Umsetzung von Quarantäne und Isolation fielen notwendige Umnutzungen von Räumlichkeiten auf, um Kontakte reduzieren zu können. Einrichtungen, die nach dem sog. Hausgemeinschaftsmodell arbeiten, d. h. pro Wohnbereich ca. 12 Plätze vorhalten, scheinen im Vorteil zu sein, um trotz notwendiger Kontaktbeschränkung soziales Leben zu ermöglichen. Entsprechende Empfehlungen zu kleineren Wohnbereichen liegen vor, wie zum Konzept der Green Houses, die stärker auf den Alltag des Individuums eingehen als auf das Funktionieren einer Institution [
1].
Für die Zukunft äußerten die Interviewten Befürchtungen bezüglich des Personaleinsatzes, u. a. dass erfahrene Mitarbeiter*innen als Reaktion auf die Pandemiekrise den Pflegeberuf verlassen könnten, eine Befürchtung, die sich mittlerweile national und international bestätigt hat [
8,
18]. Gebraucht würden klarere Information und Anordnungen zur Umsetzung von Maßnahmen der Infektionsprävention und -kontrolle, z. B. durch bundesweit einheitliche Vorgaben; ein Wunsch, der nach wie vor nicht erfüllt ist. Bezüglich der Informationspolitik werden auch die Gesundheitsämter in der Pflicht gesehen. Die Verteilung von Schutzmaterialien sollte zentral gesteuert werden. Auf die Bedeutung einheitlicher Vorgaben und Richtlinien für Altenpflegeeinrichtungen wird auch in der internationalen Literatur verwiesen [
15], als unverzichtbare Basis für einrichtungsspezifische Vorgaben der Infektionsprävention bzw. -kontrolle [
10]. Für Einrichtungen ist zu fragen, wer für welche Entscheidungen Verantwortung übernehmen kann. So wird empfohlen, Pflegefachpersonen mehr Verantwortung zu übertragen, aber dafür auch entsprechend zu qualifizieren [
10]. Es kann dabei nicht um simples Delegieren von Entscheidungen von einer zur anderen Ebene gehen, vielmehr ist einrichtungsübergreifend mit den Verantwortlichen der Gesundheitspolitik die Pandemie dahingehend auszuwerten, wer in Krisenzeiten welche Entscheidungen treffen sollte und welche Unterstützung dabei erforderlich ist.
Stärken und Limitationen
Die Studie wurde als Multizenterstudie durchgeführt, mit dem Vorteil einer breiten Datenbasis aus einer Vielzahl von Pflegeeinrichtungen. Die Datenanalyse anhand der Framework Analysis ermöglichte die Identifikation von Themen zu Entscheidungsprozessen. Nicht Gegenstand dieser Analyse waren Entscheidungsprozesse, die neben den pandemiebezogenen Entscheidungen von den Leitungspersonen im Rahmen ihrer Routineaufgaben wahrgenommen wurden. Die Analyse ist in der Tiefe der Thematik Entscheidungsprozesse limitiert, da diese nicht originärer Bestandteil der Interview-Leitfäden waren. Eine weitere Limitation der Studie ist die Begrenztheit auf die erste Welle der COVID-19-Pandemie. Eine Fortsetzung der Studie zu den Erfahrungen aus den weiteren Pandemiewellen könnte die Thematik Umgang mit Entscheidungsprozessen explizit aufgreifen und an die hier vorgestellten Erkenntnisse anknüpfen. Die notwendigen Ressourcen müssten bereitgestellt werden, um nicht, wie in der vorliegenden Studie, komplett auf Eigenmittel der Projektpartner angewiesen zu sein.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Alle beschriebenen Maßnahmen wurden mit Zustimmung der zuständigen Ethikkommission, im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt. Für die Studie lag ein positives Votum der Ethikkommission der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg vor (Nummer 2019-006 vom 25.05.2020). Von allen beteiligten Patienten liegt eine Einverständniserklärung vor.
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