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Open Access 2019 | OriginalPaper | Buchkapitel

13. Digitalisierung der Versorgungsforschung – Versorgungsforschung zur Digitalisierung

verfasst von : Philipp Storz-Pfennig

Erschienen in: Krankenhaus-Report 2019

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

Zusammenfassung

Von Versorgungsforschung wird gegenwärtig viel erwartet, wenn altbekannte Probleme der Kooperation und Koordinierung und Versorgungsmängel aller Art immer wieder erneut angegangen werden. Für die Digitalisierung gilt dies mindestens alles auch. Fällt diese so eingreifend und umfassend wie vielfach erwartet auch in der Praxis der Gesundheitsversorgung aus, so ist zumindest eine kritische Untersuchung durch Versorgungsforschung nötig. Naheliegend ist auch, die durch Digitalisierung gewonnenen Daten zu Versorgungsforschungszwecken zu nutzen. Wissenschaftliche Daten gelten als besonders wertvolles Gut im Vergleich zu Daten, die zu administrativen, kommerziellen und anderen an praktischen Prozessen orientierten Zwecken erhoben werden. Dieser Wert droht durch das Verschwinden der Unterscheidung von wissenschaftlicher Analyse und alltäglicher Datennutzung zu Analyse- und Entscheidungsfindungszwecken verloren zu gehen, besonders wenn letztere nicht ihrerseits wissenschaftlich begründet werden kann. Die Digitalisierung kann sich als sehr nützlich erweisen – gerade auch, um noch immer bestehende unberechtigte Erwartungen an Medizin und Versorgung zu erkennen und zu diskutieren. Sie kann jedoch ebenso diesen Problembestand noch vergrößern, wenn „Daten“ an die Stelle wissenschaftlicher Ergebnisse treten und damit sowohl digitalen als auch konventionellen Interventionen und Prozessen Wirkungen zugeschrieben werden, die sie nicht wirklich besitzen.
Zusammenfassung
Von Versorgungsforschung wird gegenwärtig viel erwartet, wenn altbekannte Probleme der Kooperation und Koordinierung und Versorgungsmängel aller Art immer wieder erneut angegangen werden. Für die Digitalisierung gilt dies mindestens alles auch. Fällt diese so eingreifend und umfassend wie vielfach erwartet auch in der Praxis der Gesundheitsversorgung aus, so ist zumindest eine kritische Untersuchung durch Versorgungsforschung nötig. Naheliegend ist auch, die durch Digitalisierung gewonnenen Daten zu Versorgungsforschungszwecken zu nutzen. Wissenschaftliche Daten gelten als besonders wertvolles Gut im Vergleich zu Daten, die zu administrativen, kommerziellen und anderen an praktischen Prozessen orientierten Zwecken erhoben werden. Dieser Wert droht durch das Verschwinden der Unterscheidung von wissenschaftlicher Analyse und alltäglicher Datennutzung zu Analyse- und Entscheidungsfindungszwecken verloren zu gehen, besonders wenn letztere nicht ihrerseits wissenschaftlich begründet werden kann. Die Digitalisierung kann sich als sehr nützlich erweisen – gerade auch, um noch immer bestehende unberechtigte Erwartungen an Medizin und Versorgung zu erkennen und zu diskutieren. Sie kann jedoch ebenso diesen Problembestand noch vergrößern, wenn „Daten“ an die Stelle wissenschaftlicher Ergebnisse treten und damit sowohl digitalen als auch konventionellen Interventionen und Prozessen Wirkungen zugeschrieben werden, die sie nicht wirklich besitzen.
A lot is currently expected from health services research (in Germany), as well-known problems of cooperation, coordination and diverse health care deficiencies are addressed over and again. At the very least, this also holds true for digitalisation. If the latter turns out to be as „transformative“ and „disruptive“ as widely expected in health care among other fields, a judicious approach from health services research is necessary. It seems obvious to use new data obtained through digitalisation for health services research. Scientific data are considered to be particular valuable, compared to data collected for administrative, commercial or other practical purposes. This value is threatened if the distinction between scientific data and data generated by everyday processes for analysis and decision-making purposes is lost, in particular if the latter are not firmly rooted in science. Digitalisation may prove to be very useful to recognize and discuss persisting unjustified expectations of medicine and health care. However, it may also contribute to this problem if „data“ supplant scientific knowledge and if this results in ascribing effects to conventional as well as digital interventions and processes that they do not truly possess.

13.1 Einleitung

Der Versorgungsforschung wird gegenwärtig viel zugetraut, wenn altbekannte Probleme der Steuerung, der Koordinierung und Nutzerorientierung, Versorgungsmängel, Probleme und Defizite aller Art immer wieder erneut angegangen werden (Storz-Pfennig 2017). In Deutschland ist aktuell somit eine erhebliche Konjunktur der Versorgungsforschung zu beobachten, von der man sich vermehrt Versorgungsgestaltendes erhofft, nicht zuletzt durch die Förderung im Innovationsfonds. „Digitalisierter“ Versorgung wird dies wohl – mehr oder weniger glaubhaft – mindestens alles auch zugetraut. Digitalisierung beeindruckt jedenfalls schon dadurch, dass sie offenbar überall zugleich im Gesundheitswesen und sowieso im „Rest der Welt“ als fulminante Erscheinung projiziert wird, von der man sich alles Mögliche erwarten und von der man alles Mögliche befürchten kann. Versorgungsforschung und Digitalisierung in Zusammenhang zu sehen ist naheliegend (Vollmar et al. 2017). Wenn die „Digitalisierungen“ so eingreifend und umfassend („transformativ“, „disruptiv“) wie vielfach erwartet auch in der Praxis der Gesundheitsversorgung ausfällt, so ist zumindest eine kritische Untersuchung dieser Praxis, unter anderem mit Mitteln der Versorgungsforschung, ziemlich dringend angezeigt. Auch liegt es nicht fern, die Digitalisierung zu (Versorgungs-)forschungszwecken zu nutzen. Forschung und Wissenschaft sind immer schon – sofern sie sich als empirische verstehen – auf „Daten“, Erhebungen, Beobachtungen und Messungen aus gewesen. Zugleich gilt die wissenschaftliche Datenerhebung in Bezug auf Relevanz, Validität und andere Qualitätsmerkmale („Wahrheit“) als besonders herausgehobenes Gut, insbesondere auch im Vergleich zur Erhebung von Daten zu administrativen, kommerziellen und anderen, an praktischen Prozessen orientierten Zwecken. Außerdem ist die wissenschaftliche Begründung, was immer man darunter versteht, in der „modernen Medizin“ die Legitimitätsgrundlage schlechthin – weit über das hinaus, was in anderen Handlungsbereichen erwartet wird. Die Frage ist dann, was geschieht, wenn – vielleicht nicht ganz ernsthaft, aber dafür deutlich – die Überlegung angestellt wird, ob Wissenschaft überhaupt noch nötig sein wird, weil wir ja die Daten haben (Anderson 2008), die nicht mehr altmodisch in kleinteiliger Sorgfalt handgemacht werden müssten (Meyer-Schönberger 2015), oder ob Wissenschaft eine womöglich theoriefreie „Data Science“ werden könnte (zur Erwägung in Bezug auf Versorgungsforschung: Vollmar et al. 2017). Diese Art (Nicht-)Wissenschaft könnte dann zukünftig zugleich in Versorgungsentscheidungen immer präsent sein (z. B. Bruns et al. 2017; Gehring und Eulenfeld 2018). Zunächst ist es aber notwendig, sich darüber klar zu werden, welche Formen der Digitalisierung heute abzusehen sind (Abschn. 13.2), wo Versorgungsforschung sich heute schon befindet und welche möglicherweise divergierenden Fluchtlinien erkennbar sind (Abschn. 13.3). Abschließend wird versucht, Schlussfolgerungen für die Versorgungsforschung – und zumindest indirekt damit für die Versorgung – zu ziehen (Abschn. 13.5).

13.2 Anwendungskontexte der Digitalisierung in der Versorgung

Offenbar ist mit „Digitalisierung“ und „Algorithmisierung“ bezeichnet, dass Lebensbereiche und Anwendungsfelder für die Nutzung digitaler Technologien erschlossen werden, die bisher ohne solche auskamen. Die inzwischen offenkundigen gewaltigen Möglichkeiten der Erfassung oder Erhebung von Daten und deren Verarbeitung, der Kommunikation und des Austauschs durch Mensch und Maschinen in der aktuellen Digitalisierung implizieren, dass Digitalisierung zum Teil als „zweite Welle“ einer „Computerisierung“ betrachtet werden kann. Denn seit Jahrzehnten werden ja bereits Daten, Informations- und Kommunikationstechnologien genutzt und verwendet, auch im Gesundheitswesen. Digitalisierung kann dann u. a. damit betraut sein, die Probleme zu bearbeiten, die die „erste Welle“ der Computerisierung geschaffen hat. Man kann dies aus Arztsicht auch so auffassen: Die Digitalisierung dient u. a. dazu, die „Datenflut“ oder auch die „Dokumentationsflut“ einzudämmen (Verghese 2018) und aus den vielen und schnellen Daten wertvolles Wissen zu schaffen. Es spricht auch Vieles dafür, dass dies vor allem mit Hilfe der Anwendung „künstlicher Intelligenz“ – des aufregendsten Aspekts der neuen Digitalisierungswelle – versucht werden könnte. Solche weitreichenden Fragen können hier allerdings nicht umfassend registriert und diskutiert werden, sind aber als Kontext und Horizont wichtig. Es existieren nicht wenige Versuche, Begriffe, Konzepte, Anwendungen und Ebenen der Thematisierung, um bei der Diskussion der Digitalisierung im Gesundheitswesen zu bestimmen, worüber dann tatsächlich diskutiert wird und welche Beteiligten und Perspektiven bedacht werden. In Tab. 13.1 sind die für die vorliegende Darstellung bedeutenden Anwendungskontexte herausgegriffen und stichwortartig skizziert.
Tab. 13.1
Ausgewählte Anwendungskontexte der Digitalisierung im Gesundheitswesen
Beteiligte und Handlungskontexte
Konventionelle Medien und Verfahren
„Digitalisierung“ (Beispiele)
Orientierung über Gesundheit und Krankheit
Zeitschriften/Zeitungen, Bücher, Fernsehen, Bekannte/Freunde/Verwandte
Apps zu Beratung, zur (Selbst-)Diagnose, Gesundheitsinformationen, Online-Gesundheitsinformationen
Bewertungsportale; Apps und Webseiten zu Terminen, Online-Kontakte, Video-Sprechstunden, Telemonitoring, Zugang zu Versorgungsdaten, Steuerung von Implantaten
Selbstmessungen, „algorithmische“ Entscheidungshilfen, Empfehlungssysteme, prädiktive Modellierungen, „individualisierte Medizin“
Apps zu Übungen, Therapien, Patienten-Tagebücher, patientenberichtete Outcomes
Forschungsdatenbanken, elektronische, integrierte Patienten-Akten (einrichtungsspezifisch, einrichtungs- und sektorenübergreifend), Telekonsile, Aus-, Fort- und Weiterbildung
Versicherte/Patienten und Patientinnen im Kontakt mit dem Versorgungssystem
Arztbesuche, Krankenhausaufenthalte, Telefonate, Patiententagebücher, medizinische Dokumente in Papierform, Röntgenbilder
Entscheidungen zu und Anwendung von diagnostischen und therapeutischen Verfahren
Diagnose- und Behandlungstechnologie (Bildgebung, Labor, Arzneimittel, invasive Verfahren u. a.), Entscheidungsfindung aufgrund medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse und ärztlicher Erfahrung und Empfehlung nach Information und mit Zustimmung der Patienten/Patientinnen
Behandlungsdaten, Kooperation, Koordinierung, zwischen Einrichtungen
Arztbriefe, Telefonate, Austausch von Dokumenten, ggf. auf Datenträgern
Krankenhaus-Report 2019
Diese sicher nicht erschöpfende Darstellung ist zunächst aus der Perspektive des kranken oder gesunden Individuums und seiner Positionen im Gesundheitswesen heraus gewählt und gedacht. Während die patientenbezogene Kooperation zwischen Versorgungseinrichtungen in die Darstellung aufgenommen wurde, sind weder die Organisationsprozesse von Einrichtungen (z. B. von Krankenhäusern, Trägern, Krankenkassen, Kassenärztlichen Vereinigungen, Herstellern) noch die übergreifenden administrativen Organisations- und Abrechnungsprozesse im Gesundheitswesen an dieser Stelle verzeichnet. Diese sind sicherlich ebenfalls unter Digitalisierungsaspekten analysierbar und bedeutend, aber zunächst weniger direkt im Hinblick auf spezifische Aspekte der Medizin und Gesundheitsversorgung sowie im Hinblick auf (versorgungsepidemiologische) Versorgungsforschung greifbar.
Bei der Orientierung über Gesundheit und Krankheit sowohl im Sinne genereller Einstellungen, Vorstellungen von gesunder Lebensweise und Präventionen als auch im Sinne des Handelns bei konkreten Problemen, Symptomen oder Einschränkungen kann man natürlich auf einen Fundus von digital leichter verfügbaren medizinischen Kenntnissen zurückgreifen. Zudem können mit Hilfe von erfasster Symptomatik, „Tracking“ und generell „Quantified Self“-artigen Praktiken zusätzliche Daten gesammelt werden, die hier Einfluss ausüben könnten. Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, ob und in welcher Weise das professionelle Gesundheitssystem zukünftig Folgen der Anwendung von Selbstdiagnose-Apps o. ä. spüren wird (vgl. z. B. Kuhn et al. 2018). Das Leitbild des informierten (gar „souveränen“) Patienten wird hier sicher deutlich.
Bei der Suche nach Kontakten zum Versorgungssystem und Versorgungseinrichtungen, insbesondere auch in komplexeren Situationen und bei chronischen Erkrankungen in wiederholter und dauerhafter Form, kann es offenbar zunächst um die Nutzung von heute in allen möglichen anderen Bereichen bereits genutzten Techniken (Web, E-Mail, Messenger-Dienste, soziale Medien etc.) gehen. Der Einfluss von Plattformen und Informationsmedien, die Qualitäts- und andere Transparenz in Bezug auf „Anbieter“ von Gesundheitsleistungen (nicht zuletzt Krankenhäuser) bieten, ist bis jetzt im Vergleich mit deren Einfluss etwa auf Konsumgütermärkten recht begrenzt. Bei solchen Systemen handelt es sich um eine Spielart der Digitalisierung, die bisher wenig „disruptives“ Potenzial zu erkennen gibt und auch technologisch eher konventionell bleibt (Krankenhaus-Suchmaschinen). Ob zukünftig dynamisierte Empfehlungssysteme oder „Social-Media“-Phänomene zu erkennbaren Änderungen führen, ist recht unklar. Es macht sicher auch einen Unterschied, ob akut Kontakt zum Versorgungssystem gesucht wird, ob es um die Wahl geeigneter Versorgungseinrichtungen oder um eine kontinuierliche Betreuung besonders bei chronisch Erkrankten geht.
Für das letztlich erzielte Versorgungsergebnis noch bedeutender sollten die Informationen zu bestimmten Erkrankungen, Behandlungen und Therapien einschließlich der Entscheidung für bestimmte diagnostische Verfahren sein. Hier ist u. a. zu unterscheiden zwischen orientierenden Informationen über Nutzen und Schaden, Verfügbarkeit und Ratsamkeit von Behandlungen einerseits und andererseits Verfahren, mit deren Hilfe dieser Nutzen und Schaden erst bestimmt werden soll. Der erstgenannte Aspekt kann wesentlich „Dr. Google“, der vielleicht besser ist als sein Ruf – jedenfalls wenn man Zufriedenheit zum Maßstab nimmt (Bertelsmann-Stiftung 2018a) – oder seinen App-Nachfolgern zugeordnet werden (Kuhn et al. 2018). Ein wichtiges Element der bisher so vermissten „Health Literacy“ ist hier sicherlich ein kritisches Verständnis, das es zu fördern gilt. Geht es speziell um das Verständnis des Wissensstandes über bestimmte Therapien, kann dies durch Entscheidungshilfen geschehen. Ambitioniert versucht wird dies z. B. in dem Projekt „Vollimplementierung von Shared Decision Making im Krankenhaus“, das durch den Innovationsfonds gefördert wird, oder durch das neue Zweitmeinungsverfahren (G-BA 2018). Zumindest nach weithin bekundeter Einsicht basieren solche Hilfen unabhängig von dem Medium, in dem sie verfügbar sind, auf Ergebnissen klinischer Studien im Rahmen einer evidenzbasierten Medizin. Etwas ganz anderes ist es allerdings, wenn diese Basis selbst nicht mehr als im „hergebrachten“ Sinne wissenschaftlich verstanden wird, sondern z. B. als eine durch „Big Data“ informierte Analyse über das Empfehlenswerte. Hier wird dann berechtigt eine grundsätzliche Sorge geäußert, ja protestiert (z. B. Antes 2016). Gerade die Unterscheidung von medizinisch-technischen (diagnostischen) Verfahren und „Empfehlungssystemen“ könnte unter dem Eindruck der Digitalisierung zukünftig schwerer fallen. Jedenfalls insofern, als in einer so digitalisierten Zukunft die Unterschiede z. B. eines „Befundes“ von einer Interpretation dieses Befundes nicht mehr klar erkennbar sein könnten oder diese Grenzen ganz anders gezogen werden, gerade wenn „künstliche Intelligenzen“ bei der Interpretation hilfreich zur Seite stehen. Ob so etwas funktioniert, erscheint (ein wenig ironisch) mit Hilfe sehr konventioneller wissenschaftlicher Methoden feststellbar (z. B. Bejnordi 2017). Etwa bei der Bewertung von Pathologieergebnissen und Bildgebung ist dies in der Praxis der Zukunft durchaus denkbar. Weitere häufig diskutierte Anwendungsfelder sind Tumorgenomanalysen oder die Nutzung insbesondere engmaschiger Vitaldatenerhebungen vor allem in der Intensivmedizin mit dem Ziel, den Eintritt von Krisen und Komplikationen vorherzusehen, um entsprechend präventiv oder schneller reaktiv handeln zu können.
Der Verfügbarkeit von Behandlungsdaten und einer digitalisierten Kooperation und Koordinierung zwischen Einrichtungen und Patienten werden bekanntlich schon seit geraumer Zeit besonders unter den Stichworten elektronische Gesundheitskarte und Telematik-Infrastruktur erhebliche Anstrengungen gewidmet. Parallel dazu hat sich eine informelle, alltägliche oder projektbezogene Nutzung der neueren Technologien und Anwendungen entwickelt. Die Digitalisierung im einfachen Sinne (z. B. die Verwendung von Krankenhausinformationssystemen) hat stattgefunden. Neben den grundlegenden, eher administrativen Funktionen sollen die neuen Infrastrukturen zukünftig auch viele der bereits genannten Aspekte wie Orientierung und Information zu Versorgungssystemkontakten, zum Management und zur Behandlung stützen und ermöglichen. Selbst bei großen Krankenhäusern wie Universitätskliniken müsste jedoch die vertikale Integration der verfügbaren Informationen (z. B. Fallinformationen, Labor- und Bildgebungsdaten etc.) erst einmal grundsätzlich hergestellt werden. Während die Infrastruktur zunächst primär (inter-)professionelle Prozesse betrifft, ist aktuell und sicher auch vor dem Hintergrund der einschlägigen ubiquitären Digitalisierungstechnologien der Aspekt der Patienten- als Datensouveränität diskursiv sehr weit in den Vordergrund gerückt. Und es werden Zugänge und Daten weit jenseits des ursprünglich für die elektronische Gesundheitskarte Gedachten ins Spiel gebracht (Sozialdaten, Behandlungsdaten, durch den Patienten selbst gesammelte Daten etc.) Dabei wird es als wichtig betrachtet, dass die Patientinnen und Patienten all die sie betreffenden Daten in nahtlos nutzbarer Form buchstäblich (Telefon, Tablet) in den Händen halten und damit eine angemessene, zentrale Rolle in dem sie betreffenden Gesundheits- und Krankheitsgeschehen spielen können.
Welche Fragen all dies für die Versorgungsforschung aufwirft oder aufwerfen könnte, soll hier nicht im Einzelnen aufgezählt werden. Sicherlich kann man in Zukunft in Bezug auf die genannten Aspekte versuchen festzustellen, ob sich etwa die Wahrnehmung von Gesundheit und Krankheit und das Inanspruchnahmeverhalten unter dem Einfluss von digitalisierten Informationen ändert. Es kann versucht werden herauszufinden, in welchen Erkrankungsgebieten welche Form von Therapieentscheidungen mit „digitaler“ Unterstützung entwickelt und ggf. angewandt werden und welche Einstellungen und Ergebnisse daraus resultieren. Auch ist aktuell noch schwer abschätzbar, wer zukünftig bestimmte Aufgaben und Verantwortlichkeiten über die heute konventionell und normativ abgegrenzten Bereiche hinaus übernimmt. Insbesondere muss z. B. die Frage der Abgrenzung eines ärztlichen Handlungsfeldes gegenüber den „medizinischen Laien“ und überhaupt die Frage der menschlichen Entscheidungsfähigkeit gegenüber technischen Empfehlungen wahrscheinlich sehr viel intensiver diskutiert werden – unter auch ärztlich-berufspolitisch bereits erkennbar werdenden Aspekten. Krankenhäuser und die dort Tätigen sind hier mindestens in dreierlei Hinsicht betroffen: Erstens führt die Orientierung und Kontaktaufnahme nicht immer am Krankenhaus vorbei, wie schon die Diskussion zur Notfallversorgung zeigt. Zweitens ist die Teilhabe an sektorenübergreifend orientierten Behandlungswegen, auch durch die Digitalisierung bestärkt, ebenfalls ein relevanter Aspekt. Drittens – und unter Technologieaspekten wohl auch am Bedeutendsten – wird die Erprobung von durch Digitalisierung gestützten Therapieentscheidungen und Behandlungen vermutlich zunächst eher im Krankenhaus stattfinden. Schon normativ geprägte Erwartungen besonderer Expertise, organisatorische Voraussetzungen in Krankenhäusern sowie die Nähe zur jeweils aktuellen bio-medizinischen Wissenschaft lassen dies erwarten. Dementsprechend setzen auch aktuelle Initiativen (Medizininformatik-Initiative, Gehring et al. 2018) zunächst bei den (Universitäts-)kliniken an.

13.3 Versorgungsforschung zwischen Analyse und Versorgungsgestaltung

Die Versorgungsforschung, zunächst einmal unabhängig von ihrer kaum abschließbaren Definition (z. B. im Sinne aller Forschungen zu Versorgungsstrukturen und Versorgungsprozessen, wie sie tatsächlich und alltäglich ablaufen, verstanden, einschließlich bio-medizinischer, psychologischer, sozial- und organisations-, wirtschafts- und politikwissenschaftlicher Aspekte, Verfahren und Methoden) ist gegenwärtig prominent. Die aktuellen Erwartungen an Versorgungsforschung können mit den Erwartungen an andere Leitvorstellungen wie „Qualitätssicherung/-management“, „Disease Management“, „Gesundheitsberichterstattung“ oder sogar „Evidenzbasierte Medizin“ vergleichend im Hinblick auf Versorgungsgestaltungsversuche betrachtet werden – jedenfalls über ihre primär wissenschaftliche, nüchterne Definition hinaus und, wenn man so will, unter Missachtung der Unterscheidung von Praxisformen (z. B. „Disease Management“) und wissenschaftlichen Disziplinien.
Man kann in der aktuellen deutschen Versorgungsforschung auch einen „Innovationsbias“ erkennen: etwa in der teilweise schon definitorisch fixierten Neigung, in der Einführung von Innovationen („letzte Meile“) die wesentliche Aufgabe zu sehen (Storz-Pfennig 2017), sowie in der Selbstsicht von Versorgungsforschern als „Translations-Enthusiasten“ (Hoffmann 2018). Man will dabei vielleicht dem als vergleichsweise reibungslos erlebten Innovationsgeschehen bei den bio-medizinischen Basistechnologien (Arzneimittel und Medizinprodukte) nachstreben. Nun könnte man der Auffassung sein, es sei doch nachgerade selbstverständlich, dass Verbesserungen nur durch „Innovationen“ (und deren Implementation, Translation) erreichbar seien. Tatsächlich ist es letztlich auf allgemeiner Ebene tautologisch, dass die Verbesserung eines mangelhaften Zustandes nur durch dessen Veränderung gelingen kann. Das ist hier selbstverständlich nicht der bedeutende Punkt. Es geht vielmehr darum, dass Veränderungen nicht immer bedeuten müssen, dass neue „Veränderungsleistungen“ als Innovationen benötigt werden. Ein aktuell besonders instruktives Beispiel bietet die „Zweitmeinung“ (nach § 27b SGB V), die als zusätzliche Leistung schon von Gesetzes wegen als Korrektur einer angenommenen Überversorgung an anderer Stelle wirken soll. Man könnte auch der Meinung sein, einer Zweitmeinung bedürfte es gar nicht (jedenfalls nicht zu diesem Zweck), wenn es gelänge, die „Mengenproblematik“ anderweitig zu lösen: durch Unterlassen fragwürdiger Eingriffe. In der Geschichte der Gesundheitsreformen finden sich bestimmt weitere, auch weniger offensichtliche Beispiele für Innovationen, die deshalb in Frage stehen, weil mit ihnen Probleme gelöst werden sollen, die zu Beginn vielleicht ebenfalls Innovationen genannt worden sind. Wenn nun Digitalisierung nahezu allgegenwärtig ist oder wird oder werden soll, ist es vielleicht gut, sich dies in Erinnerung zu rufen.
Die Anmerkungen in Bezug auf eine Überbetonung des Innovativen in Gestalt benennbarer und berechenbarer Produkte und Leistungen sollten allerdings nicht verdecken, dass es durchaus das versorgungsforscherische Bekenntnis zu erkenntnissicheren wissenschaftlichen Grundlagen gibt (Glaeske et al. 2009), beispielsweise auch in Bezug auf die Förderung mit Mitteln des Innovationsfonds durch den dort angesiedelten Expertenbeirat (Blettner et al. o. J.). Zudem existiert auch eine kritische Versorgungsforschung und Versorgungsaufklärung, die unmittelbar die Analyse der Alltagsversorgung unternimmt, ob mit oder ohne Innovationen. Auch diese oft versorgungsepidemiologisch wesentlich begründeten (allerdings ggf. um andere Zugänge und Methoden, wie z. B. Befragungen ergänzten) Forschungsansätze sind durchaus noch – und erneut – präsent. Nicht zuletzt Bände wie der vorliegende und andere Formen von Versorgungsforschung (oder Gesundheitsforschung oder Gesundheitssystemforschung oder Versorgungsanalyse), die auch von Krankenkassen und deren Organisationen betrieben oder gefördert wurden, zählen dazu. Ferner sicherlich auch Arbeiten einer Reihe universitärer Zentren und Stiftungen (erkennbar in den letzten Jahren z. B. die Bertelsmann-Stiftung, insbesondere mit kritischen Analysen zu regionalen und Praxisvariationen). Häufig sind Analysen solcher Art nur eingeschränkt nutzbar, vor allem, wenn kritische Sachverhalte aufgedeckt werden. Denn sind Interessen der „Betroffenen“ berührt, stößt meist ein eher allgemeines Bekenntnis zur Aussagekraft bestimmter Daten und Analysen schnell an Grenzen: Es werden dann ggf. Erklärungsmuster bemüht, die sich gerade der Prüfung von deren Stichhaltigkeit mit den verwendeten Daten entziehen. Geradezu mustergültig ist dies an einem aktuellen Beispiel nachzuzeichnen: Eine Publikation der Bertelsmann-Stiftung (2018b), die weder überraschend noch einmalig eine Zunahme und erhebliche regionale Variation bei der Implantation von Knie-Endoprothesen verzeichnet und kritisch bewertet, wird mit einer öffentlichen Mitteilung (Deutsche Krankenhausgesellschaft 2018) beantwortet, die alle einschlägigen Register zieht: Nicht „Statistiken“ würden Patienten helfen, sondern Krankenhäuser. Entscheidend sei die individuelle Situation des Patienten, die Entscheidung würde intensiv zwischen Patienten und Ärzten besprochen, Wünsche nach Mobilität und Schmerzfreiheit nähmen in der Gesellschaft weiter zu, es bestünde immer die Möglichkeit von Zweitmeinungen (s. o.) und schließlich: Analysen auf der „Makroebene“ seien nicht hilfreich, nur der Blick in die Krankenakte helfe weiter. Es kommt hier weniger darauf an, wie ein auch in der (Fach-)öffentlichkeit ausgetragener, ja oft gut eingeübter Abtausch funktioniert. Bemerkenswert ist vielmehr, dass eine Rechtfertigung bestehender Praxis auf lauter zunächst nicht prüfbare Faktoren gründet. Denn es ist ja gar nicht klar, ob die Entscheidungsfindung immer von so hoher Qualität ist, ob eine Zweitmeinung immer zu Verfügung steht (oder überhaupt zu Verbesserungen führte), ob der Wunsch nach Mobilität und Schmerzfreiheit weiter zunimmt (oder ob eine solche Zunahme hier überhaupt relevant wäre). Schließlich ist es der Verweis auf die unbekannte „Krankenakte“, der hier das ausschlaggebende Stichwort liefert. Denn solche „Krankenakten“, d. h. detaillierte klinische und prozessbezogene Informationen, könnten ja die Erkenntnis zur Sinnhaftigkeit eines Eingriffs durchaus ermöglichen. Hier ist dann auch der Bezug zur Digitalisierung, die erst einmal die Voraussetzung für die Nutzung von detaillierteren klinischen Daten schaffen muss, gegeben. Doch wie detailliert oder umfassend Daten auch immer wären – im Zweifelsfall werden sich wohl immer weitere Überlegungen und Argumente finden, die auch ohne „Krankenakte“ oder andere zuverlässig rekonstruierbare Dokumente oder Wahrnehmungen, die digitalisiert werden könnten, auskommen. Dies hat auch beruhigende Aspekte, wenn Entscheidungen zwar erklärt werden, aber nicht lückenlos („mechanistisch“) bestimmbar sind. Die Wünsche in Bezug auf die „individualisierte Medizin“ haben damit viel zu tun, denn solche Bezeichnungen, die wesentlich den Kern der „statistischen“ Stratifizierung aufgrund genetischer Merkmale verdecken (Windeler 2012), funktionieren ja auch deshalb, weil damit eine Zuwendung anklingt, die sich eben nicht auf eine lediglich biologische Verfassung beschränken lässt.
Schließlich ist es von besonderem Interesse, eine weitere Perspektive der Innovationsorientierung zu berücksichtigen: Die „Wissen generierende Versorgung“ (Bruns et al. 2017). Diese Bezeichnung, einem Papier der Deutschen Krebsgesellschaft entlehnt, ist – perspektivisch wohl wichtig – relativ unabhängig von den einzelnen Forderungen, die in dem Papier formuliert werden. Sie signalisiert, was in den hier verschiedentlich zitieren Projekten im Rahmen der Medizininformatik-Initiative, die durch das BMBF mit 150 Millionen Euro bis 2025 gefördert werden (Gehring und Eulenfeld 2018), nach Wahrnehmung des Verfassers den Zielhorizont bildet: eine wesentliche Veränderung in der bisherigen zumindest konzeptionell wohlgeordneten Schichtung von Gesundheitsforschung und Versorgung. Die Versorgung oder Versorgungsforschung im oben genannten Sinne bezeichnet dabei die „letzte Meile“ eines Weges, der über Forschungs- und Entwicklungsphasen von Grundlagenforschung über klinische Forschung und dann vielleicht zu Versorgungsforschung führt. Von einzelnen Formulierungen solcher Schichtungen und auch von der Frage der angemessenen Verwirklichung dieses Grundkonzeptes abgesehen, war bisher klar: Zunächst soll geforscht werden, erst dann sollen die Ergebnisse in der Versorgung angewandt werden. Dies steht jedoch offenbar jetzt zur Disposition, wenn dieses Wissen nicht mehr vorher im Rahmen von Forschungsstudien gewonnen wird, sondern unmittelbar in der Versorgung. Daran hat Digitalisierung auf mindestens zwei unterschiedliche Weisen Anteil. Zum einen wird von einer neuen „Systemmedizin“ ausgegangen, die auch der Medizininformatik-Initiative u. a. zugrunde gelegt werden soll und generell darauf abzielt, die biologischen Prozesse so gut nachzuvollziehen, dass Effekte unmittelbar abgeleitet werden können. Hier wird im Grunde die Rekonstruktion der Gewissheit der naturwissenschaftlichen Erfolge des 19. Jahrhunderts angestrebt. Solche Ansätze sind ohne bioinformatische Rechentechniken und -modelle gar nicht denkbar. Zum anderen könnten entsprechend integrierte Formen elektronischer Patientenakten geschaffen werden, die noch erheblich über das hinausgehen, was gegenwärtig hierunter in Bezug auf Diskussionen zur Telematik im Vordergrund steht (z. B. die Einbeziehung von Genom-Analysen, Labor- und Bildgebungsdaten; Ganslandt et al. 2018), und solche Formen „Wissen generierender Versorgung“ erst ermöglichten. Denn die erweiterte Realisierung solcher Datenbestände sukzessive auch über die Hochschulmedizin hinaus, ist ebenfalls Ziel der Initiative. Im Grunde verfolgt z. B. „Dr. Watson“ bereits dieselbe Absicht, auch wenn dies noch nicht recht gelingen mag (Müller 2018) und noch der gesamte medizinische Wissensstand aus der Literatur o. ä. inkludiert werden soll. Denn es geht perspektivisch nicht nur um die Ersetzung „konventioneller“ Formen der Aggregation des aus der Literatur Bekannten (z. B. in Form von systematischen Übersichtsarbeiten) durch maschinelle Integration. Vielmehr ist die Perspektive, alle Ergebnisse unmittelbar zu integrieren und zugleich das Wissen weiterzuentwickeln. Ein solches Szenario, das mit der gegenwärtigen Versorgung sicher wenig zu tun hat, ist dann als Endzustand einer maximal beschleunigten „Innovativität“ zu verstehen, die insbesondere auch gut zu den genannten aktuellen Erwartungen an künstliche Intelligenz im Sinne maschinellen Lernens passt, bei dem unablässig die Ergebnisse weiterer Fälle inkludiert werden und ein „unendliches“ Weiterlernen zumindest visionär erhofft wird. In der Tat spricht grundsätzlich nicht so viel (außer vielleicht regulatorische Alpträume wegen des gegenwärtigen globalen Zustandes) gegen ein Szenario, in dem eine Therapieentscheidung, die morgen Nachmittag in einem Berliner Klinikum getroffen werden soll, neben dem medizinischen Weltwissen von heute zusätzlich auf den Ergebnissen der Behandlung einer Patientin von morgen früh in, sagen wir, London beruht – sofern in einer angemessenen wissenschaftlichen Studie gezeigt werden könnte, dass das besser ist als auf solche Ergebnisse oder auf andere Teile des Weltwissens zu verzichten. Es könnte hier einfach gelten, was der Neurowissenschaftler Martin Hirsch (u. a. als Entwickler einer Health-„App“) konstatiert: „Wir brauchen Studien. Gute Studien. In denen muss die digitale Medizin mit herkömmlichen Behandlungen verglichen werden, und nur wenn sie mindestens gleich gut ist, sollten wir für sie kämpfen.“ (Müller 2018) Ob das wirklich gilt, wird sich zeigen.

13.4 Schlussfolgerungen

Es ist einzuräumen, dass vieles, was zur Digitalisierung, und manches, was zur Versorgungsforschung zu sagen wäre, hier nicht thematisiert werden konnte. Dies betrifft besonders auch Überlegungen zu Datensicherheit und Datenschutz. Hier ist es unbestritten generell wichtig, sich über die Gefahren klar zu werden. Diese hängen nach Auffassung des Verfassers ganz wesentlich davon ab, welche Absichten und Ziele mit der Datenverwendung verfolgt werden. Wenn beispielsweise, wie oben geschildert, die „Krankenakte“ als ausschlaggebend zur Begründung einer medizinischen Maßnahme ausgewiesen ist, so sollte ein Zugang zu solchen Krankenakten für Versorgungsforschung bedeuten, dass man hier allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu erkennen hofft: Ob die „Krankenakten“ typisch und systematisch die Informationen enthalten, die zur Begründung eines Eingriffs taugen? Jedenfalls bedeuteten solche Analysen nicht, dass man Einblicke in einzelne Fälle in irgendeiner Weise zu nutzen gedenkt – was gerade das Ziel praktisch aller großen Unternehmen der Digitalisierungsindustrie sein dürfte. Die Problematik lässt sich hier also produktiv auf der Grundlage der Abgrenzung generalisierten, wissenschaftlichen Wissens vom Wissen über einzelne Fälle diskutieren. Die Aufgabe der Realisierung der technischen Sicherstellung bleibt dabei ohnehin bestehen.
Der bessernde Einfluss, den man sich von wissenschaftlichen Erkenntnissen für die Zukunft erhofft, ist fundamental ein solcher, der sich auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten stützen kann, die durch die wissenschaftliche Forschung gefunden werden. Man kann dies zwar, wissenschaftstheoretisch wie praktisch, für naiv halten – und das ist es bei einer so anwendungsnahen Wissenschaft wie der Versorgungsforschung auch oft. Allerdings erscheint eine Rückbesinnung auf grundlegende wissenschaftliche Prinzipien gerade unter Digitalisierungsaspekten notwendig. Es hat den Anschein, dass relevante Teile der Versorgungsforschung solche Herausforderungen auch ernsthaft als solche sehen (Vollmar et al. 2017). Viele der hier diskutierten Formen der Digitalisierung (oder mindestens der zentralen Verwendung von Daten) scheinen auf eine Abkehr von einem anderen grundsätzlichen wissenschaftlichen Prinzip hinzudeuten: einer Distanz zur Praxis. Diese fällt zwar in der Versorgungsforschung in der Regel vergleichsweise gering aus, ist aber ein wesentlicher Motor des „Erfolgsmodells“ von moderner Wissenschaft überhaupt – auch hinsichtlich deren Nützlichkeit. Auch Versorgungsforschung darf nicht zu sehr an einem bestimmten Ausfall der Ergebnisse interessiert sein. Dass die Realisierung eines solchen Prinzips, gerade auch in der Bio-Medizin, keineswegs einfach ist, zeigt nicht zuletzt die Debatte über Verschwendung in den Wissenschaften (z. B. Chalmers et al. 2014; Antes 2016).
Die Gewinnung oder Wiedererlangung solch eines Abstands zur Praxis sollte versucht werden. Dabei läge das wirklich Interessante an der Digitalisierung der Versorgung (und der Versorgungsforschung) darin, dass es mit ihrer Hilfe möglich sein sollte, sich weiter als bisher der Wirklichkeit der Versorgung zu nähern, hat man den Abstand erst einmal herstellt. Dass dies noch vielversprechend in Bezug auf Erkenntnisgewinne erscheint, liegt daran, dass man auch mit Hilfe der bereits stattgefundenen und fortgesetzten Versuche hierzu (Qualitätstransparenz, Evidenzbasierung u. a.) bisher keineswegs an dieses Ziel gelangt ist. Die Kleider der Medizin erscheinen an einigen Stellen immer noch dichter gewebt, als sie es wohl tatsächlich sind. Die bio-medizinische Innovationsindustrie, die ererbte Vorstellung naturwissenschaftlicher Erfolgsgewissheit, die Erwartung von Heilung oder Linderung über tatsächlich zu Schaffendes hinaus und nicht zuletzt die Zusage umfassender solidarischer Lastentragung wirken zusammen, um einerseits auch gegenwärtig noch verschiedentlich zu verschleiern, was tatsächlich bewirkt wird oder bewirkt werden kann. Auch wenn digitale Anwendungen strukturell in Bezug auf ihre Nützlichkeit vielleicht überbewertet sind und sich damit in den Problembestand einreihen, so können sie doch zugleich auch der Aufklärung dienen wie die bisherigen wissenschaftlich-kritischen Ansätze. Denn letztere sind keineswegs völlig erfolglos geblieben. Insgesamt sollte daher auch bedacht werden, ob die häufig beklagte Langsamkeit des Einzugs digitaler Anwendungen nicht auch etwas mit der – jedenfalls dem vermittelten Bild nach – erheblichen Durchdringung wissenschaftlich begründbarer Praxis in der Versorgung zu tun hat und somit die Messlatte für Transformationen und Disruptionen wesentlich höher liegt als anderswo.
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Literatur
Zurück zum Zitat Antes G (2016) Big Data und Personalisierte Medizin. Goldene Zukunft oder leere Versprechungen? Deutsches Ärzteblatt 113(15), 15. April 2016 Antes G (2016) Big Data und Personalisierte Medizin. Goldene Zukunft oder leere Versprechungen? Deutsches Ärzteblatt 113(15), 15. April 2016
Zurück zum Zitat Bejnordi EH (2017) Diagnostic Assessment of Deep Learning Algorithms for Detection of Lymph Node Metastases in Women With Breast Cancer. JAMA 318(22):2199 ff Bejnordi EH (2017) Diagnostic Assessment of Deep Learning Algorithms for Detection of Lymph Node Metastases in Women With Breast Cancer. JAMA 318(22):2199 ff
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Metadaten
Titel
Digitalisierung der Versorgungsforschung – Versorgungsforschung zur Digitalisierung
verfasst von
Philipp Storz-Pfennig
Copyright-Jahr
2019
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-58225-1_13