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21.02.2019 | Arbeitsfelder | Nachrichten

Konzernarbeit darf nie die Seele verlieren

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Oberin Sr. Isabell Wien hat ihren Auftrag klar vor Augen. Menschenwürdige Pflege basiert für sie auf Fachlichkeit, persönlicher Haltung und christlichen Werten – auch in Zeiten ökonomischer Zwänge und hoher Arbeitsverdichtung. Aus der Krankenpflege kommend leitet sie seit 15 Jahren die Diakonische Gemeinschaft der Diakonissen Speyer und ist im Vorstand des Unternehmens mit über 30 Einrichtungen und rund 6.000 Beschäftigten.

Oberin Schwester Isabell Wien © Diakonissen SpeyerOberin Schwester Isabell Wien (re.) im Gespräch mit Sabine M. Kempa.

Wie macht sich Spiritualität in den von Ihnen geführten Einrichtungen im Alltag bemerkbar? Ist der diakonische Geist spürbar für Patienten, Bewohner und Mitarbeitende?

Sr. Isabelle: Bei immer höherer Arbeitsdichte und „Druck im System“ ist es wichtig, die wirklich Guten, die für Menschen da sein wollen, nicht im Cool-out oder Burn-out zu verlieren. Es ist nötig, Räume zu schaffen, die auch eine Verortung hier im Mutterhaus haben. Genauso wichtig ist, durch eigene Haltung eine Form von Balance zu vermitteln. Auch Riten sind wichtig. Dass – wenn etwa jemand verstirbt – so viel Zeit ist, mich kurz mit meinen Kollegen am Bett zu versammeln und im Team Abschied zu nehmen, wenn ich diesen Menschen über Tage oder Wochen gepflegt habe und manchmal mehr Fragen als Antworten habe. Auch hilfreiche Gesten machen Spiritualität erfahrbar. Die Krankenhausseelsorge hat Handschmeichler in Form von Bronzeengeln, die man den Menschen in die Hand gibt, bei denen man selber ratlos ist. Auf jedem Stockwerk stehen Gesangbücher, ein Koffer zur Aussegnung mit Materialien, die man nicht einsetzen muss, aber einsetzen kann. Ein weiteres Beispiel ist unser „Storch“ im Foyer des Diakonissen-Stiftungs-Krankenhauses, der die Namen der Neugeborenen verkündet. Auf solche Weise Zugänge zu schaffen am Beginn und an den Grenzen des Lebens, um sprachfähig zu bleiben und den Menschen zu helfen – darin zeigt sich Spiritualität im Alltag.

Darf man daraus schließen, dass die Pflegenden bei Ihnen etwas mehr zeitliche Spielräume haben?

Sr. Isabelle: Nein, darf man nicht. Im Clinotel-Verbund, dem unsere Kliniken angehören, gibt es Statistiken, die zeigen, dass wir bei der Pflege in einem sehr guten Bereich der Personalausstattung liegen, verglichen mit anderen, aber insgesamt ist real die Situation schon so, dass die Pflege sehr gefordert ist. Zugleich ist sie sehr kreativ. Auf unserer Lernstation leiten Schwestern und Pfleger, die schon lange im Dienst sind, ebenso wie innovative junge Kolleginnen und Kollegen mit viel Engagement und Motivation den Nachwuchs an. Das läuft wirklich gut. Und wir merken immer wieder wie Diakonie durch alle Berufsdisziplinen hinweg spürbar wird, auch in Engpässen. Aber ich möchte hier nicht idealisieren. Im Alltag ist doch auch sehr viel Einspringen und Zeiten Abdecken da und insgesamt eine hohe Arbeitsdichte. Das ist von den Fallzahlen und vom Ergebnis her für uns natürlich gut. Dass wir weiterhin die höchste Geburtenzahl in Rheinland-Pfalz haben, kommt ja nicht von ungefähr und zieht dann auch wieder viele Menschen an. Das will bewältigt sein.

Was tun Sie, um Mitarbeiter zu gewinnen? Ist die Gemeinschaft das spezielle Angebot?

Sr. Isabelle: Es gibt eine Koordination für Personalgewinnung. Alle Einrichtungen und Bereiche, schauen ganz gezielt, wie sie junge Menschen gewinnen können, durch eigene Projekte wie Sprachfördergruppen, ein neues Schülerwohnheim, Menschen – beispielsweise im Hebammenbereich – aus dem Ausland hierher zu holen und zu begleiten. Der Fachkräftemangel, der sich überall durchzieht, ist eine immense Herausforderung, bei der wir alle gefragt sind.

Und das eine ist die Gewinnung, das andere aber die Bindung. Manche, die gehen, kehren durchaus auch wieder zurück. Sie spüren dann doch etwas von den Werten und der Haltung, die uns tragen. Auch bei einer Größenordnung von 6.000 Mitarbeitenden sind die jeweiligen Einrichtungen dennoch familiär geprägt. Es gibt kurze Wege, auch zu Geschäftsführung, Einrichtungsleitung und Vorstand.

Im Mutterhaus Speyer wurde in den letzten Jahren die Diakonisse neuer Form entwickelt. Was hat den Anstoß dazu gegeben?

Sr. Isabelle: Die Idee des Diakonisse-Seins hatte im 19. Jahrhundert mit sozialer Gleichstellung zu tun, mit der Möglichkeit, einen Beruf auszuüben oder eben auch nicht. Das war eine ganz andere Situation als heute. Der Dreiklang Glaubens-, Lebens- und Dienstgemeinschaft war in Speyer immer die entscheidende Verknüpfung, die Ausrichtung vom Gebet hin zu den Menschen und in die soziale Arbeit. Die Schwestern haben ganz stark geprägt durch Wort und Tat, durch ihr Sein, ihre Haltung und Motivation. Das tragende Fundament war die Gemeinschaft und durch die Tracht gab es eine Erkennbarkeit, die Vertrauen geschaffen hat. Das hat sich insgesamt gewandelt. Also war die Überlegung, dass Menschen, die hier mit Herz und Fachlichkeit arbeiten, vielleicht auch heute noch eine Ausrichtung haben nach einem stärkeren Wir, nach einer Gemeinschaft, um dies als Multiplikatoren ins Unternehmen zu tragen.

Was ist jetzt neu und anders?

Sr. Isabelle: Formen wandeln sich, das Anliegen bleibt. Das ist für uns auch der Auftrag Jesu aus dem Evangelium, den Segen weiterzugeben, hinzugehen zu den Menschen. Diakonisse-Sein ist eine Lebensform, in der man sich mit großer Verbindlichkeit für ein Leben im Dienst am Nächsten entscheidet. Mit der Diakonisse neuer Form können wir jetzt beispielsweise Familienmütter gewinnen, denen das vorher nicht offen stand. Männer können als Diakon der Diakonissen Speyer in die Gemeinschaft kommen. Damit würdigen wir das Bisherige und erweisen den alt Gewordenen Respekt. Wir gestalten das Erbe. Für einen solchen Prozess muss die Zeit reif sein.

Nach vielen Jahren als Diakonisse (bisheriger Form) sind Sie in Speyer die erste Diakonisse neuer Form. Was war Ihre persönliche Motivation?

Sr. Isabelle: Für mich ist Berufung ein Weg. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich daraus verändere.  Aber ich habe dann gespürt, dass man diese Dinge, wie auch anderes im Leben, das vergeht und sich wandelt, nicht halten kann. In meiner Rolle gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder hätte ich sagen können, wir lassen das enden – wie es in vielen Häusern ist – und wir begleiten die alt gewordenen Schwestern würdig und verabschieden das. Oder wir versuchen nochmal einen Aufbruch – nichts ganz Neues, sondern aus diesem Gewordenen einen neuen Spross zu beleben.

Wie sieht ein typischer Tag bei Ihnen aus?

Sr. Isabelle: Mein Tag beginnt früh und endet spät und ist immer wieder von vielem unterbrochen, was nicht planbar ist. Ich bin im Vorstand der Diakonissen. Neben der Zuständigkeit als Oberin in der Gemeinschaft in allen Facetten bin ich mit meinen beiden Vorstandskollegen für die Steuerung dieses Werkes verantwortlich. Da hat jeder seine Schwerpunktfelder, aber gleichzeitig können Sie diakonische Unternehmenskultur oder Unternehmenskommunikation nicht in einer Säule verankern, das ist fließend. Wir bedienen Anlässe, ob das Hochzeiten oder Geburten sind. Und es gibt viele Präsenzpflichten, Termine, vertrauensbildende Maßnahmen. Für mich in meiner Rolle im Schwerpunkt Letztverantwortung für Hospizarbeit, Diakonische Fort- und Weiterbildung, Gemeinschaft und Kontaktpflege bin ich sehr, sehr viel unterwegs, ob das auf politischer Ebene oder ökumenischer Variante ist, um die Netze nicht nur zu knüpfen, sondern lebendig zu halten. Wir haben natürlich alles, was zu einem Unternehmen gehört, ob TÜV-Rezertifizierung, Finanzfragen oder Gremienarbeit unterschiedlichster Art. Wichtig ist für mich immer gewesen, den Tag mit Gott und vor Gott zu beginnen, entweder mit meiner Bibel zuhause oder mit unserer Andacht im Mutterhaus um 8.30 Uhr. Das ist meine Kraftquelle. Ohne das wäre ich nicht in der Balance, die ich brauche, um zu wissen, dass das, was ich tue und tun kann, begrenzt ist und mir andere Kräfte zufließen müssen im Alltag.

Mutterhaus, Diakonissenanstalt, Unternehmensdiakonie, Konzernmanagement ist für mich etwas, das nie die Seele verlieren darf und den Blick für die Menschen in allen Systemen. Es gibt wunderbare Fachliteratur, die darauf hinweist, dass „Geist und Geld“, Diakonie und Ökonomie nicht gegeneinander zu stellen sind. Wenn das Geld ausgeht, können wir nicht mehr das wirken, was Menschen brauchen, aber wenn Geist und Esprit und die Begeisterung für die Sache, die Liebe zu den Menschen nicht mehr da wäre, dann hätten wir das Fundament und damit den eigentlichen Auftrag verlassen. Und das will niemand hier. Deswegen gehe ich jeden Tag gerne arbeiten.

Das Interview führte Sabine M. Kempa


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