Skip to main content
Erschienen in: Notfall + Rettungsmedizin 1/2024

Open Access 21.11.2023 | Training Zusatz-Weiterbildung

69/m mit arterieller Hypertonie, akutem Abdomen und Synkope

Vorbereitung auf die Zusatz-Weiterbildung Notfallmedizin: Fall 18

verfasst von: Richard Steffen, PD Dr. med. Jürgen Knapp

Erschienen in: Notfall + Rettungsmedizin | Sonderheft 1/2024

Hinweise

Redaktion

M. Bernhard, Düsseldorf
G. Jansen, Minden
A. Ramshorn-Zimmer, Leipzig
QR-Code scannen & Beitrag online lesen

Prüfungssimulation

Fallschilderung

Sie werden als Notärzt:in zu einem 69-jährigen männlichen Patienten mit akuten abdominalen Beschwerden alarmiert. Der Patient präsentiert sich in deutlich reduziertem Allgemeinzustand und hypertensiv entgleist (Herzfrequenz 95/min, rhythmisch, Blutdruck 185/102 mm Hg). Er berichtet über plötzlich eingetretene, stärkste lumbale Flankenschmerzen mit Ausstrahlung in das Abdomen. Hinweise auf ein Trauma bestehen nicht. Anamnestisch sind ein persistierender Nikotinkonsum und eine bisher unbehandelte arterielle Hypertonie zu eruieren.

Prüfungsfragen

  • Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie in der oben geschilderten Situation und wie erhärten Sie diese?
  • Welchen Zielkorridor für die hämodynamischen Parameter streben Sie bei einer/einem Patient:in mit V. a. ein rupturiertes Bauchaortenaneurysma an und durch welche Maßnahmen und Therapien erreichen Sie dies?
  • Beschreiben Sie die Relevanz gerinnungsbeeinflussender Medikamente in dieser Situation
  • Welchen Mehrwert kann die präklinische Sonographie bei dieser Patientengruppe bringen?
  • Beschreiben Sie den Stellenwert der notfallmäßigen endovaskulären Ballonokklusion der Aorta (REBOA) und die praktische Anwendung in dieser Situation

Antworten

Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie in der oben geschilderten Situation und wie erhärten Sie diese?

Akut auftretende Bauch- und Flankenschmerzen ohne Trauma lassen eine ganze Reihe von Differenzialdiagnosen zu (die folgende Aufzählung ist nicht abschließend):
  • Klassische abdominale Erkrankungen:
    • Akute Pankreatitis
    • Appendizitis
    • Cholezystitis
    • Hohlorganperforationen, z. B. bei Ulzerationen
    • Dünn- oder Dickdarmileus
  • Extraperitoneale Ursachen
    • Akutes Koronarsyndrom
    • Akute Lumbago
    • Nierenkolik
    • Organischämie bei abdominalen Gefäßverschlüssen
Im geschilderten Fall muss bei hypertensiver Entgleisung und entsprechenden Risikofaktoren an ein rupturiertes abdominelles Aortenaneurysma gedacht werden:
  • Sonographisch kann diese Verdachtsdiagnose bereits in der prähospitalen Situation weiter erhärtet werden (in der Regel durch Darstellung einer deutlich erweiterten Aorta abdominalis, > 3 cm Durchmesser).
  • Goldstandard für die (Differenzial‑)Diagnostik ist allerdings die Computertomographie. Der fehlende Nachweis eines abdominellen Aortenaneurysmas in der prähospitalen Sonographie darf daher (beim wenig geübten Anwender:innen) nicht zu einem Ausschluss der Verdachtsdiagnose eines rupturierten Aortenaneurysmas führen.
Klassische Symptomtrias bei rupturiertem Aortenaneurysma:
  • Plötzlich einsetzende Bauch- oder Rückenschmerzen
  • Pulsatile abdominale Raumforderung
  • Hypotensive Blutdruckwerte oder ein akuter Blutdruckabfall bis zum Schock (in einer späten Phase bei freier Ruptur; [1])
Als weitere Beschwerden können in der Akutsituation auftreten:
  • Fehlende oder asymmetrische Leisten- und Beinpulse mit konsekutiver Ischämie der entsprechenden Extremität
  • In seltenen Fällen akute Paraplegie bei spinaler Ischämie
Die Ursache der Ruptur ist in der Regel ein bisher asymptomatisches Aneurysma. Auslösende Faktoren sind z. B. hypertensive Entgleisungen, körperliche Anstrengung oder Pressen. In der unmittelbaren Folge können ein hämorrhagischer Schock bei freier Ruptur oder Ischämien distal der Läsion (z. B. Extremitäten, Rückenmark, Nieren) aufgrund der Dissektion auftreten.
Die Ätiologie der Aortenanurysmata ist vielfältig. Hauptrisikofaktoren sind [2]:
  • Arteriosklerose (häufigste Ursache)
  • Männliches Geschlecht
  • Hypertonie
  • Tabakkonsum
  • Dyslipidämie
  • Alter über 50 Jahre
Weitere Ätiologien sind:
  • Erworbene und erblich bedingte Bindegewebsrkrankungen (u. a. Marfan- und Ehlers-Danlos-Syndrom)
  • Bakterielle Infekte (z. B. Syphilis, Tuberkulose) sowie Pilzinfektionen
Die Ruptur eines abdominellen Aortenaneurysmas ist weiterhin mit einer hohen Mortalität vergesellschaftet, wobei eine freie Ruptur praktisch immer tödlich endet.

Welchen Zielkorridor für die hämodynamischen Parameter streben Sie bei einer/einem Patient:in mit V. a. ein rupturiertes Bauchaortenaneurysma an und durch welche Maßnahmen und Therapien erreichen Sie dies?

Folgende Behandlungskonzepte sollten beachtet werden:
  • Permissive Hypotonie:
    • Im Gegensatz zu einer normotensiven Notfallbehandlung wird eine Vermeidung von Thrombusdislokationen und Rezidivblutungen („clot popping“) postuliert [3].
  • Medikamentöse Antiimpulstherapie:
    • Der aortale Wandstress setzt sich aus der Geschwindigkeit des Druckanstiegs im linken Ventrikel, der Herzfrequenz und dem Blutdruck zusammen.
    • Reduktion der Blutdruckamplitude durch Senkung der Frequenz und Kontraktilität des linken Ventrikels
    • Hierdurch kann der Druckanstieg über die Zeit in der Aorta reduziert werden.
Angestrebte Vitalparameter:
  • Systolische Blutdrucklimits 70 bis maximal 100 mm Hg
  • Herzfrequenz 60–70 Schläge/min
Medikamentöse Therapie [4, 5]:
  • Primärer Einsatz von Betablockern (negativ chronotrope und inotrope Wirkung)
    • Präklinisch kurz wirksame/gut steuerbare Wirkstoffe (z. B. Esmolol)
  • Sekundär Vasodilatatoren
    • Laut Literatur bevorzugt Labetalol oder Nitroglycerin – nach Möglichkeit mittels Spritzenpumpe. Diese beiden Medikamente sind in der Regel prähospital nicht verfügbar, in der klinischen Praxis eignet sich auch Urapidil (ebenfalls in Spritzenpumpe). Oft sind hier hohe Dosierungen notwendig.
  • Restriktive Flüssigkeitszufuhr
  • Vasokonstriktor bei klinisch kritischer Organperfusion (verändertes Bewusstsein, Veränderungen im Elektrokardiogramm) aufgrund systemischer Hypotension
    • Noradrenalin als gut steuerbarer peripherer Vasokonstriktor
Weitere Maßnahmen:
  • Blutdruckspitzen vermeiden
    • Patient:innen sollen nicht mehr selbstständig aufstehen und stattdessen durch das Rettungsteam schonend umgelagert und transportiert werden („wie ein rohes Ei“).
    • Agitierte Patient:innen können vorsichtig mit Benzodiazepinen sediert werden.
    • Eine adäquate analgetische Therapie mit Opioiden ist zur weiteren Stressreduktion zu etablieren.
  • Keine präklinische Intubation
    • Tonusverlust der Bauchmuskulatur im Rahmen der Muskelrelaxation, was zu einem ungehemmten retroperitonealen Blutaustritt führen kann (aus einem bis zu diesem Zeitpunkt gedeckt perforierten Aneurysma).
    • Hohes Risiko einer Blutdruckentgleisung während der Laryngoskopie
    • Stattdessen erfolgt die Narkoseeinleitung erst im Operationssaal in unmittelbarer Operationsbereitschaft.
  • Rascher, aber insbesondere auch schonender Transport in eine geeignete Klinik
  • Etablierung mehrerer großlumiger peripherer Venenzugänge

Beschreiben Sie die Relevanz gerinnungsbeeinflussender Medikamente in dieser Situation

  • Ein relevanter Anteil der betreffenden Patientengruppe leidet unter Begleiterkrankungen, die eine Thrombozytenaggregationshemmung oder eine Antikoagulation indizieren (u. a. koronare Herzkrankheit, periphere und zerebrovaskuläre arterielle Verschlusskrankheit).
Präklinisch ergeben sich hieraus folgende Konsequenzen:
  • Keine Möglichkeit einer Reversion dieser gerinnungshemmenden Therapie
  • Jedoch Beachtung der beeinflussbaren Rahmenbedingungen der Gerinnung:
    • Vermeidung und Therapie einer Hypothermie
    • Vermeidung einer Verdünnungskoagulopathie mittels sehr restriktiver und differenzierter Gabe von Kristalloiden
Es liegt weiterhin keine klare Evidenz zum klinischen Nutzen von Antifibrinolytika bei diesen Patient:innen vor. Die beschriebenen Vorteile durch die Anwendung von Tranexamsäure (TXA) bei Traumapatient:innen lassen sich wohl nicht direkt auf Patient:innen mit einem rupturierten Aortenaneurysma übertragen:
  • Klinischer Nutzen der TXA-Gabe bei Traumapatient:innen ist nur bei früher Gabe (innerhalb der ersten 3 h) nachgewiesen
  • Bei Ruptur eines Aortenaneurysmas kann der Beginn der Blutung jedoch nicht als sicher bezeichnet werden und tritt möglicherweise bereits lange vor dem Symptombeginn auf.
  • Demgegenüber kommt es möglicherweise zu einer Aktivierung der Gerinnungskaskade durch die Thrombenbildung im Aneurysmasack, was zu einem erhöhten Risiko für thrombotische Komplikationen (wie venöse Thromboembolien und Myokardinfarkt) führen kann.
  • Dieses Risiko könnte durch die möglichen prothrombotischen Wirkungen von TXA noch erhöht werden.
  • Entsprechend ist die prophylaktische Gabe von TXA in der Präklinik (ohne rotationsthrombelastometrische Kontrolle) bei V. a. gedeckt rupturiertes Bauchaortenaneurysma nicht empfohlen [6, 7].

Welchen Mehrwert kann die präklinische Sonographie bei dieser Patientengruppe bringen?

Die in den letzten Jahren immer weiter verbreitete präklinische Sonographie stellt ein valides Instrument zur Verifikation der Verdachtsdiagnose „rupturiertes Bauchaortenaneurysma“ dar. Bereits vor einigen Jahren konnte in einer Metaanalyse die Praktikabilität der Point-of-Care-Sonographie zur Diagnosestellung in der Notaufnahme bestätigt werden, wobei sich folgende Schlussfolgerungen ergaben:
  • Hervorragende Sensitivität (99 %) und Spezifität (98 %) zur Detektion eines Bauchaortenaneurysmas bei symptomatischen Patient:innen [8]
  • Darstellung auch für ungeübte Anwender einfach möglich [9]
  • Durch die Ultraschalluntersuchung sollte es keinesfalls zu Verzögerungen des Transportbeginns kommen. Sie sollte parallel zu den Transportvorbereitungen bzw. zur Klinikanmeldung erfolgen. Eine abdominelle Ultraschalluntersuchung ist auch gut während der Fahrt bzw. während des Flugs möglich.
  • Neben der direkten bildgebenden Darstellung des – möglicherweise dissezierten oder rupturierten – Aneurysmas gelingt auch die Darstellung freier intraabdominaler Flüssigkeit mithilfe der standardisierten Schnittebenen im Rahmen des üblichen Untersuchungsgangs gemäß dem sog. „focused assessment with sonography for trauma“ (FAST) meist zuverlässig.
  • Zudem können – in einem eingespielten Setting – bei eindeutigem präklinischem Befund die weiterführenden innerklinischen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen möglicherweise beschleunigt werden.

Beschreiben Sie den Stellenwert der notfallmäßigen endovaskulären Ballonokklusion der Aorta (REBOA) und die praktische Anwendung in dieser Situation

Der Verschluss der Aorta durch einen endovaskulären Ballon ist während der operativen Versorgung eines rupturierten Bauchaortenaneurysmas eine gefäßchirurgisch etablierte Methode zur Blutungskontrolle. Entsprechend könnte man postulieren, dass die „resuscitative endovascular balloon occlusion of the aorta“ (REBOA) eine Option zur temporären Stabilisierung in der Notfallsituation wäre. Hierfür liegt aber aktuell keinerlei Evidenz vor, selbst in Bezug auf die innerklinische Anwendung nicht [10]. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass sich die korrekte Einlage des Katheters ohne Durchleuchtung in der Präklinik extrem schwierig gestalten wird und es dadurch zu einer erheblichen Verzögerung des Transports an ein geeignetes Zielkrankenhaus kommen kann.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

R. Steffen und J. Knapp geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor:innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patient:innen zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertreter:innen eine schriftliche Einwilligung vor.
The supplement containing this article is not sponsored by industry.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

Unsere Produktempfehlungen

Notfall + Rettungsmedizin

Print-Titel

• Praxisorientierte Leitthemen für die optimale Behandlung von Notfallpatienten

• Interdisziplinäre Ansätze und Konzepte

• Praxisnahe Übersichten, Fallberichte, Leitlinien und Empfehlungen

Springer Pflege Klinik – unser Angebot für die Pflegefachpersonen Ihrer Klinik

Mit dem Angebot Springer Pflege Klinik erhält Ihre Einrichtung Zugang zu allen Zeitschrifteninhalten und Zugriff auf über 50 zertifizierte Fortbildungsmodule.

Literatur
2.
Zurück zum Zitat Wilmink AB, Quick CR (1998) Epidemiology and potential for prevention of abdominal aortic aneurysm. Br J Surg 85:155–162CrossRefPubMed Wilmink AB, Quick CR (1998) Epidemiology and potential for prevention of abdominal aortic aneurysm. Br J Surg 85:155–162CrossRefPubMed
3.
Zurück zum Zitat van der Vliet JA, van Aalst DL, Schultze Kool LJ, Wever JJ, Blankensteijn JD (2007) Hypotensive hemostatis (permissive hypotension) for ruptured abdominal aortic aneurysm: are we really in control? Vascular 15:197–200CrossRefPubMed van der Vliet JA, van Aalst DL, Schultze Kool LJ, Wever JJ, Blankensteijn JD (2007) Hypotensive hemostatis (permissive hypotension) for ruptured abdominal aortic aneurysm: are we really in control? Vascular 15:197–200CrossRefPubMed
7.
Zurück zum Zitat National Institute for Health and Care Excellence (2020) Use of tranexamic acid during transfer of people with ruptured or symptomatic abdominal aortic aneurysm: Abdominal aortic aneurysm: diagnosis and management. Evidence review R. NICE, London National Institute for Health and Care Excellence (2020) Use of tranexamic acid during transfer of people with ruptured or symptomatic abdominal aortic aneurysm: Abdominal aortic aneurysm: diagnosis and management. Evidence review R. NICE, London
9.
Zurück zum Zitat Mai T, Woo MY, Boles K et al (2018) Point-of-care ultrasound performed by a medical student compared to physical examination by vascular surgeons in the detection of abdominal aortic aneurysms. Ann Vasc Surg 52:15–21CrossRefPubMed Mai T, Woo MY, Boles K et al (2018) Point-of-care ultrasound performed by a medical student compared to physical examination by vascular surgeons in the detection of abdominal aortic aneurysms. Ann Vasc Surg 52:15–21CrossRefPubMed
10.
Metadaten
Titel
69/m mit arterieller Hypertonie, akutem Abdomen und Synkope
Vorbereitung auf die Zusatz-Weiterbildung Notfallmedizin: Fall 18
verfasst von
Richard Steffen
PD Dr. med. Jürgen Knapp
Publikationsdatum
21.11.2023
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Notfall + Rettungsmedizin / Ausgabe Sonderheft 1/2024
Print ISSN: 1434-6222
Elektronische ISSN: 1436-0578
DOI
https://doi.org/10.1007/s10049-023-01210-4

Weitere Artikel der Sonderheft 1/2024

Notfall + Rettungsmedizin 1/2024 Zur Ausgabe

Training Zusatz-Weiterbildung

79 Jahre, weiblich, unklares Abdomen