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Erschienen in: Heilberufe 10/2023

01.10.2023 | Essstörungen | Pflege Kolleg Zur Zeit gratis

Anorexie, Bulimie & Binge-Eating-Syndrom

verfasst von: Beate Ebbers

Erschienen in: Heilberufe | Ausgabe 10/2023

Pathologisches Essverhalten Essstörungen sind weit verbreitet. Dennoch wissen viele Menschen zu wenig über diese Erkrankungen. "Reiß dich zusammen" oder "Dann iss doch einfach wieder" sind wohlgemeinte Ratschläge, die für Betroffene nicht hilfreich sind. Wichtiger sind Verständnis, professionelle Beratung und Begleitung.
Magersucht (Anorexia nervosa, kurz Anorexie), Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa, kurz Bulimie) und Esssucht (Binge-Eating-Syndrom) zählen zu den klassischen Essstörungen. Dabei handelt es sich nicht um ein Ernährungsproblem. Vielmehr sind der Umgang mit dem Essen und das Verhältnis zum eigenen Körper gestört.
Verknüpfungen und Übergänge zwischen den drei Störungen kommen häufig vor, sodass zahlreiche Mischformen existieren. Eine eindeutige Zuordnung in der Praxis ist daher nicht immer leicht. Hinzu kommt, dass die Patienten häufig an weiteren psychischen Erkrankungen leiden, zum Beispiel an Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen, die eine Zuordnung zusätzlich erschweren. Ob Rein- oder Mischform - Essstörungen sind schwere psychosomatische Erkrankungen mit Suchtcharakter, die sich sowohl seelisch als auch körperlich auswirken und zu schweren gesundheitlichen Schäden führen. Sie müssen unbedingt fachlich behandelt werden. Je eher sie therapiert werden, desto besser ist die Chance auf Heilung. Unbehandelt können Essstörungen tödlich enden. Dies trifft besonders auf die Magersucht zu.

Übergang oft schleichend

Nicht jeder, der viel isst oder häufig Abnehmdiäten macht, ist krank. Solche Verhaltensweisen können aber in eine Esssucht münden, wenn andere biologische, psychische und soziale Faktoren hinzukommen. Der Übergang von einem auffälligen zu einem krankhaften Verhalten ist schleichend.
Anorexie: Charakteristisch ist ein gewollter starker Gewichtsverlust beziehungsweise ein gewolltes, anhaltendes Untergewicht. Per Definition liegt das Körpergewicht bei einer Magersucht mindestens 15% unter dem für die jeweilige Altersgruppe üblichen Gewicht.
Obgleich die Betroffenen auffallend dünn sind, empfinden sie sich als zu dick und unförmig. Sie haben Angst zuzunehmen und kontrollieren ihre Nahrungsaufnahme, indem sie Lebensmittel in gute und schlechte einteilen, Kalorien zählen, wenig oder sehr langsam essen. Zeigt die Waage nach ihrem Empfinden zu viel an, versuchen sie, Gewicht zu verlieren. Manche treiben zusätzlich Extremsport, nehmen Appetitzügler oder Abführmittel. Gelingt ihnen das Abnehmen, fühlen sie sich gestärkt und selbstsicher.
Bulimie: Nicht selten entwickelt sich aus einer Magersucht eine Bulimie. Bei einer Heißhungerattacke stopfen Bulimiker unkontrolliert Lebensmittel in sich hinein. So kommen sie unter Umständen auf eine Kalorienaufnahme von bis zu 8.000 Kilokalorien an einem Tag! Aus Angst zuzunehmen, lösen die Betroffenen anschließend Erbrechen aus.
Binge-Eating-Syndrom: Der englische Begriff "binge" bedeutet Gelage, "binge eating" steht damit für exzessives, übermäßiges Essen. Typisch sind wiederkehrende Essanfälle, bei denen die Betroffenen innerhalb kurzer Zeit große Nahrungsmengen essen. Dabei verlieren sie die Kontrolle und hören erst auf, wenn sie ein unangenehmes Völlegefühl verspüren. Im Unterschied zur Bulimie kompensieren die meisten Patienten die hohe Kalorienaufnahme während einer Essattacke nicht durch Erbrechen, Sport oder Hungern. Der Verlauf der Erkrankung kann sehr wechselhaft sein: Manche Betroffene sind wochenlang symptomlos, andere erleiden mehrmals im Monat eine Essattacke. Gemeinsam ist allen Betroffenen, dass sie unter ihrer Erkrankung leiden. Nach einem Anfall ekeln sie sich vor sich selbst und ziehen sich zurück.

Lebensbedrohliche Folgen

Anorexie und Bulimie gehen mit einer Fehl- und Mangelernährung mit Untergewicht (Body-Mass-Index unter 17,5 kg/m2) einher. Dies ruft starke körperliche Beeinträchtigungen, Konzentrationsstörungen und Kreislaufbeschwerden hervor. Der Mangel an Flüssigkeit und Elektrolyten, der bei der Bulimie durch Erbrechen verstärkt wird, führt zu Herzrhythmus- und Nierenfunktionsstörungen. Regelmäßiges Erbrechen schädigt durch die aufsteigende Magensäure zudem Zähne und Speiseröhre. Beginnt die Anorexie im Kinder- und Jugendalter, kann dies zu Wachstums- und Entwicklungsstörungen führen. Weil Calcium, Fluorid und Vitamin D fehlen, ist das Knochenwachstum beeinträchtigt. Langfristig steigt daher das Risiko für Osteoporose. Dysbalancen im Hormonhaushalt führen zudem dazu, dass bei Mädchen und Frauen die Menstruation gar nicht erst auftritt oder ausbleibt. Bei Jungen und Männern kommt es zu Potenzproblemen.
Im Unterschied zu Anorexie und Bulimie leiden viele Patienten mit Binge-Eating-Syndrom unter Übergewicht (BMI 25-29,9) oder gar Adipositas (BMI >= 30), obgleich es auch Normalgewichtige mit dieser Essstörung gibt. Mit dem höheren Körpergewicht erhöht sich das Risiko für zahlreiche Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf-Störungen und Gelenkbeschwerden. Scham- und Schuldgefühle können Depressionen und andere psychische Erkrankungen nach sich ziehen oder schon vorhandene verstärken.
Anorexie und Bulimie können in schweren Fällen zum Tode führen, wenn sie nicht therapiert werden. Doch auch Patienten mit Binge-Eating-Syndrom haben im Vergleich zu Gesunden ein erhöhtes Sterberisiko. Leiden sie an weiteren psychischen Erkrankungen, steigt ihr Risiko für einen Suizid.

Verbreitung der Essstörungen

Das Binge-Eating-Syndrom ist die häufigste Essstörung. Nach Angaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) erkranken von 1.000 Mädchen und Frauen durchschnittlich 28 daran. Jungen und Männer sind mit zehn von 1.000 seltener betroffen. Dagegen erkranken 14 beziehungsweise 19 von 1.000 Mädchen und Frauen sowie zwei beziehungsweise sechs Jungen und Männer von 1.000 im Laufe ihres Lebens an Anorexie beziehungsweise Bulimie. Essstörungen können jedoch auch im mittleren oder höheren Lebensjahr auftreten.

Vielfältige Ursachen und Auslöser

Essstörungen sind multifaktoriell bedingt. Neben einer erblichen Disposition werden zahlreiche biologische, psychische und soziale Risikofaktoren diskutiert. Welche im Einzelnen bedeutsam sind, ist individuell verschieden. Zu den biologischen Einflüssen zählen zum Beispiel hormonelle Schwankungen in der Pubertät. Kommt zu den damit verbundenen körperlichen und psychischen Veränderungen persönliche Unzufriedenheit mit dem eigenen Körperbild hinzu, kann dies das Selbstwertgefühl schwächen. Der Wunsch, dem gängigen Schönheitsideal zu entsprechen, und negative Kommentare zu Figur und Gewicht erhöhen die Gefahr einer Essstörung. Belastende Erlebnisse, wie Gewalt- oder Missbrauchserfahrungen oder der Verlust einer nahestehenden Person, erleichtern den Ausbruch. Fachleute gehen davon aus, dass Essstörungen eine vermeintliche Lösung für ein seelisches Problem darstellen. Die Beschäftigung mit dem Essen und der Figur lenkt von Problemen ab und kompensiert negative Gefühle.
Ein besonderes Erkrankungsrisiko haben zudem Menschen, die exzessiv Sport oder Leistungssport treiben, bei denen ein niedriges Körpergewicht, athletische, schlanke Körperformen oder eine besondere Körperkontrolle bedeutsam sind. Beispiele sind klassisches Ballett, Tanz-, Pferderenn- oder Kampfsport.

Früherkennung wichtig

Je früher die Erkrankung erkannt und therapiert wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für eine erfolgreiche Behandlung. In der Abwärtsspirale einfach aufzuhören, fällt Betroffenen jedoch schwer, sodass eine Therapie zunächst vielfach abgelehnt wird. Denn dem Suchtcharakter entsprechend verspüren sie immer wieder den inneren Drang, die Essensaufnahme und die Gewichtsentwicklung kontrollieren zu müssen. Gelingt ihnen das, erleben sie Macht und Kontrolle über ihren Körper. Dies stärkt das Selbstwertgefühl. Das Hungern beziehungsweise übermäßige Essen wird zum Lebensinhalt, wofür es keinen Ersatz zu geben scheint. Diese zwanghafte Kontrolle aufgeben zu müssen, löst Ängste und Widerstände aus. Viele schaffen es daher, ihre Erkrankung über einen langen Zeitraum gut zu verbergen.
Für Angehörige, Lehrer, Freunde und medizinisches Personal ist es deshalb nicht leicht, die Krankheit frühzeitig zu erkennen. Die Alarmglocken sollten schrillen, wenn Handlungen vornehmlich um das Aussehen, die Figur und Diäten kreisen und Bemerkungen fallen wie "Ich bin zu dick" oder "Ich bin hässlich." Treibt die Person dazu übermäßig Sport, isst sie plötzlich sehr kleine Portionen und das sehr langsam, wählt bewusst magere Produkte aus oder lässt Mahlzeiten weg, kann das auf eine Magersucht oder Bulimie hindeuten. Begründet wird dieses Verhalten häufig mit Sätzen wie "Ich habe keinen Hunger." oder "Ich habe schon gegessen." Möglicherweise verschwinden relativ normal Essende nach dem Essen regelmäßig und für längere Zeit im Bad. Auch hier sollte man hellhörig werden. Denn oftmals wird dann das Gegessene wieder erbrochen. Regelmäßige große Lebensmitteleinkäufe, das Verschwinden von Lebensmitteln im Haushalt oder herumliegende leere Verpackungen können mit Blick auf das Binge-Eating-Syndrom ebenfalls ein Hinweis sein. Äußerlich erkennbare Zeichen sind unter anderem eine starke Gewichtsabnahme oder -zunahme ohne organische Ursache in kurzer Zeit und schlechte Zähne. Viele Essgestörte haben zudem keine Lust mehr, etwas zu unternehmen. Sie stellen Kontakte ein und ziehen sich zurück.

Hilfe und Therapie

Die Behandlung von Essstörungen ist kompliziert und langwierig, die Rückfallquote zum Teil hoch. Den Schwerpunkt der Behandlung aller drei Formen von Essstörungen bildet die Psychotherapie, wobei die kognitive Verhaltenstherapie über die größte Evidenz verfügt. Ziel ist, beeinflussbare Faktoren zu identifizieren und sie positiv zu verändern. Die Patienten sollen zu einem problemfreien Essverhalten zurückfinden, damit sich ihr Gewicht normalisiert und damit die Voraussetzung für ein altersangemessenes Wachstum gegeben ist. Bei Kindern kann eine gemeinsame Behandlung mit Eltern und Geschwistern sinnvoll sein, um eine angemessene Unterstützung im häuslichen Umfeld zu sichern. Nach der derzeit gültigen S3-Leitlinie kann eine begleitende Pharmakotherapie (z.B. mit Antidepressiva) nur unter bestimmten Voraussetzungen bei Bulimie erwogen werden. Bei Anorexia nervosa und Binge-Eating-Störung existiert derzeit keine evidenzbasierte Indikation medikamentöse Behandlung.
Je nach Schwere der Erkrankung ist eine ambulante, teil- oder vollstationäre Behandlung notwendig. Erste Anlaufstellen sind der Kinder-, Jugend-, Hausarzt oder eine Spezialambulanz für Essstörungen. Ist dies für Angehörige oder Betroffene zunächst ein zu großer Schritt, kann ein Gespräch in einer Beratungsstelle mit Erfahrung im Umgang mit Essstörungen empfohlen werden. Sie ersetzt keine Behandlung, kann aber ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg aus der Sucht sein. Bei der Suche nach Beratungsangeboten vor Ort hilft die BZgA auf ihrer Internetseite (bzga-essstoerungen.​de) mit Adressen von Beratungsstellen, die sich an anerkannten Leitlinien orientieren. Die Webseite enthält darüber hinaus umfangreiche Informationen zu Anorexie, Bulimie und anderen Essstörungen. Erste Hilfe und Informationen bieten darüber hinaus auch Selbsthilfegruppen und Kontaktstellen, die per E-Mail, Chat oder Telefon Rat und Hilfe anbieten (z.B. cinderella-beratung.​de).

Pflege im Team

Gerade im stationären Bereich ist eine effektive Zusammenarbeit aller Berufsgruppen im therapeutischen Team für die Stabilisierung und Genesung von Menschen mit Essstörungen wichtig. Da Pflegekräfte oft erste Ansprechpartner und in therapiefreien Zeiten hauptsächlich für die Betreuung zuständig sind, kommt ihnen eine besondere Bedeutung zu. Pflegende müssen essgestörtes Verhalten erkennen und die Therapie durch Anleitung und Beratung unterstützen. Dies setzt ein umfassendes Krankheitswissen und -verständnis voraus. Unabdingbar ist eine hohe soziale Kompetenz. Neben Empathie und Feinfühligkeit sind eine konsequente Haltung, Gradlinigkeit, Flexibilität und die Fähigkeit, Grenzen setzen zu können, Voraussetzungen für eine erfolgreiche pflegerische Zusammenarbeit. Wichtig ist auch eine innere Stabilität, um den besonderen Herausforderungen und Belastungen, die der Umgang mit essgestörten Menschen mit sich bringen kann, zu begegnen.

Pflege einfach machen

Magersucht (Anorexie), Ess-Brech-Sucht (Bulimie) und Esssucht (Binge-Eating-Syndrom) zählen zu den klassischen Essstörungen. Dabei handelt es sich nicht um ein Ernährungsproblem. Vielmehr sind der Umgang mit dem Essen und das Verhältnis zum eigenen Körper gestört.
Die Behandlung von Essstörungen ist kompliziert und langwierig, die Rückfallquote zum Teil hoch. Schwerpunkt der Behandlung ist die Psychotherapie, wobei die kognitive Verhaltenstherapie über die größte Evidenz verfügt.
Pflegende müssen essgestörtes Verhalten erkennen und die Therapie durch Anleitung und Beratung unterstützen. Dies setzt umfassendes Krankheitswissen und -verständnis und eine hohe soziale Kompetenz voraus.

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Metadaten
Titel
Anorexie, Bulimie & Binge-Eating-Syndrom
verfasst von
Beate Ebbers
Publikationsdatum
01.10.2023
Verlag
Springer Medizin
Schlagwort
Essstörungen
Erschienen in
Heilberufe / Ausgabe 10/2023
Print ISSN: 0017-9604
Elektronische ISSN: 1867-1535
DOI
https://doi.org/10.1007/s00058-023-3154-4

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