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24.10.2023 | Content plus | Online-Artikel

Interview

Trauma Genitalverstümmelung

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Interviewt wurde:
Sabine Kroh

Sabine Kroh ist sowohl im Einsatz mit Ärzte ohne Grenzen als auch in Berliner Kreißsälen schon genitalverstümmelten Frauen begegnet. Neben ihrer Hebammenarbeit setzt sie sich auch für eine entsprechende Sensibilisierung in der Geburtshilfe ein.

Hebamme Sabine Kroh

Frau Kroh, was genau versteht man unter Female Genital Mutilation?

Kroh: Die weibliche Genitalverstümmelung, Female Genital Mutilation (FGM), wird in einigen Kulturen schon seit Jahrhunderten – und leider immer – noch praktiziert. Früher sprach man von der weiblichen Beschneidung, heute wird es als Genitalverstümmlung bezeichnet. Dieser Begriff stellt damit einen klaren Unterschied heraus. Im Umgang mit den Frauen empfiehlt es sich, auf das Wort Verstümmlung zu verzichten. Als Hebamme versucht man besser, das Wort zu umschreiben oder eben den Begriff der Beschneidung zu verwenden. Das ist weniger stigmatisierend für die Frauen.
Ägypten beispielsweise verzeichnet den größten Anteil an Verstümmelungen unter der weiblichen Bevölkerung; fast alle Frauen sind von FGM betroffen. Dort wird die erste und zweite Form der fünf verschiedenen Arten von Genitalverstümmelung angewendet.

Was sind die Folgen für die Frauen?

Kroh: Die Verstümmlung wird sehr häufig ohne Narkose oder lokale Betäubung und unter sehr unhygienischen Bedingungen durchgeführt. Circa 10 % der betroffenen Mädchen und Frauen versterben im direkten Zusammenhang zur Verstümmelung. Diejenigen, die die Prozedur überleben, leiden häufig unter vaginalen Infektionen und Blasenentzündungen, haben Schmerzen während der Periode, beim Wasserlassen und natürlich beim Sex. Die größte Folge aber ist die psychische Auswirkung für die Mädchen und Frauen: Häufig sind sie schwer traumatisiert, depressiv und mit Scham und Schuld belastet.

Man geht davon aus, dass in Europa mittlerweile ca. eine Million betroffene Mädchen und Frauen leben. FGM ist also in der Hebammenarbeit angekommen?

Kroh: Ja, auf jeden Fall. Deshalb sollte ein grundlegendes Wissen über die verschiedenen Arten der Verstümmlung, die Konsequenzen und die Langzeitfolgen für die Frauen Bestandteil der Hebammenausbildung sein. Als Hebamme sollte man nicht nur die anatomischen Gegebenheiten kennen, sondern vor ­allem auch wissen, weshalb FGM durchgeführt werden. Trotz der Tatsache, dass FGM in den meisten europäischen Ländern entweder direkt oder indirekt verboten ist, sind die Gesetze entweder unvollständig oder sie werden nicht durchgesetzt. Genitalverstümmlung wird noch immer nicht als europäisches Problem angesehen.

Für viele von uns ist das Thema aber noch sehr neu – wie können wir diese Kolleg*innen am besten informieren?

Kroh: Trotz der Tatsache, dass FGM in den meisten europäischen Ländern entweder direkt oder indirekt verboten ist, sind die Gesetze entweder unvollständig oder sie werden nicht durchgesetzt. Es gibt kaum Strafanzeigen und strafrechtliche Verfahren. Die meisten europäischen Länder investieren wenig in entsprechende Sensibilisierungsmaßnahmen oder in Untersuchungen. Genitalverstümmlung wird noch immer nicht als europäisches Problem angesehen. 
In jedem Krankenhaus und Kreißsaal sowie in Hebammenpraxen sollte es dennoch eine kleine Übersicht über FGM geben - mit Adressen und Stellen, an die man sich bei Fragen oder Schwierigkeiten wenden kann. Im Sinne einer guten und sicheren Betreuung der betroffenen Frau. Mittlerweile gibt es einige gute Organisationen, die auch Hebammen unterstützen und wissen, wohin sich die betroffene Frau unkompliziert wenden kann - beispielsweise mama-afrika.org, womandeliver.org oder die desertflowerfoundation.org.

Kann eine genitalverstümmelte Frau spontan gebären?

Kroh: Das ist abhängig vom Grad der Verstümmelung. Viele betroffene Frauen und jungen Mädchen fallen durch unser Vorsorge­system, sind oft nicht krankenversichert und haben auch keinen Zugang zu Aufklärung und Vorbereitung. Sie kommen in den Kreißsaal, wenn sie schon Wehen haben.
Bei der Beschneidung dritten Grades, der sogenannten pharaonischen Beschneidung, die die schwerste Genitalverstümmlung darstellt, ist meistens eine Spontangeburt ohne vorherige chirurgische Versorgung nicht möglich. Wenn diese Frauen schon Kinder geboren haben, ist das Gewebe stark vernarbt und dadurch teilweise so fest, dass die Geburt sehr lange dauert. Unter der Geburt bedeutet FGM mehr Komplikationen: Sauerstoffmangel beim Kind, Blutungen, erhöhte Sectioraten und eine Re-Traumatisierung der Frauen.

Im Idealfall kann die Hebamme im Rahmen der Vorsorge bereits Vertrauen zu der betroffenen Frau aufbauen. Doch meistens ist das nicht der Fall. Wie können diese Frauen dann am besten unterstützt werden, wenn sie zur Geburt in den Kreißsaal kommen?

Kroh: Die wenigsten der betroffenen Frauen haben während der Schwangerschaft Kontakt zu Hebammen, meistens auch keine gynäkologische Vorsorge. Es gibt also keine gute Anamnese und im Zweifelsfall ist die Scham der Frau so groß, dass sie ihre Verstümmelung wahrscheinlich nicht von selbst ansprechen wird. Kommt eine solche Frau in Begleitung ihrer Familie zu uns in den Kreissaal, dann ist es ganz besonders wichtig, eine gute und respektvolle Kommunikation aufzubauen und darüber Vertrauen zu schaffen. Die Wünsche der Frau sollten dabei absolut im Vordergrund stehen. Ob eine Spontangeburt möglich oder sinnvoll ist und wie wir diese gut betreuen können, ist unbedingt mit der Frau und der Familie zu besprechen. Ich weiß, meistens reicht die Zeit im Kreißsaal dann gar nicht mehr aus, wenn die Frau bereits unter starken Wehen ankommt.

Und nach der Geburt – was gilt es hier für Hebammen zu beachten?

Kroh: Auch hier ist es abhängig von der Form und dem Grad der Verstümmelung der Frau. Optimal wäre es natürlich, wenn betroffene Frauen von Hebammen nach der Geburt zu Hause betreut werden könnten. Denn so ­haben wir Hebammen die Chance, ein Vertrauensverhältnis zu ihnen aufzubauen. Gleichzeitig würde so auch das Verständnis für die Kulturen wachsen. Erst heute habe ich in einer großen Facebook-Gruppe den Beitrag ­einer Kollegin gelesen, die mit der drohenden Genitalverstümmelung des neugeborenen Mädchens ihrer Wöchnerin konfrontiert war. Schnell kam der Ruf nach dem Jugendamt, dem Kinderschutz und der Polizei. Aber das ist eine Gratwanderung – denn wenn man als Hebamme mit der Polizei droht, brechen diese Familien sehr wahrscheinlich den Kontakt ab und man kann sie gar nicht mehr erreichen.

Sie haben schon häufig gentalverstümmelte Frauen betreut. Welches Erlebnis ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Kroh: Im letzten Jahr kam ich zu einer 19-Jährigen aus Eritrea in den Kreissaal, die seit zwei Tagen mit Vaginalgel eingeleitet wurde. Als ich ihr die nächste Gabe geben wollte, fiel mir auf, dass sie eine FGM dritten Grades hatte - ihr Vaginaleingang war deutlich sichtbar verengt. Obwohl sie in den letzten 48 Stunden mindestens viermal vaginal und unter großen Schmerzen untersucht worden war, war es offenbar niemandem aufgefallen. Ich rief den Oberarzt dazu, um das weitere Vorgehen mit ihm zu besprechen und um einen guten Plan für diese Frau zu erarbeiten. Doch er war der Meinung, dass das Kind schon „da durch passe“. Kurz darauf bekam die Frau kräftige Wehen, verfiel in einen Schockzustand und die Herztöne des Babys rauschten ab. Die Folge war eine Notsectio und die Verlegung des Neugeborenen in die Neonatologie. Das sind Zustände, die in unserem doch scheinbar guten Gesundheitsversorgungssystem niemals stattfinden dürften. Nach dieser Geburt setzten wir uns im Team zusammen und überlegten, wie wir uns alle besser auf Frauen mit FGM vorbereiten können.

Das Interview führte Josefine Baldauf

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