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10.01.2024 | Beruf & Karriere | Interview | Online-Artikel

Interview

Sex ist kein Tabu!

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Woet L. Gianotten

Sexualität ist ein wichtiges Thema in der Hebammenarbeit, sagt der niederländische Sexual- und Psychotherapeut Woet L. Gianotten. Seiner Meinung nach sei das Thema aber noch viel zu wenig im Bewusstsein der Hebammen verankert. Auch im Curriculum der Studiengänge werde es zu wenig berücksichtigt. Was genau Sexualität und sexuelle Gesundheit mit der alltäglichen Hebammenarbeit zu tun haben, darüber sprachen wir mit ihm.

Herr Gianotten, warum sollten sich Hebammen auch mit dem Thema „Sexualität“ beschäftigen?

Gianotten: Die Zeit von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett ist eine sehr entscheidende in der Entwicklung der Sexualität eines Paares – mit vielen Fragen, Unsicherheiten und möglicherweise auch mit sexuellen Störungen. Doch die Fortführung ihrer Sexualität ist für das Paar sehr wichtig, damit die Beziehung auch auf allen Ebenen gut läuft – nicht nur auf der Elternebene. Aber leider sprechen viele Paare die Probleme in ihrer sexuellen Beziehung nicht offen an. Die Hebamme kann hier der „Türöffner“ sein. Es gibt keine Berufsgruppe, die besser geeignet wäre, sich mit den Fragen und Unsicherheiten rund um Sexualität auseinanderzusetzen, als die der Hebammen.

Sollten Hebammen die Sexualität des Paares im Wochenbett ansprechen, oder abwarten bis sie angesprochen werden?

Gianotten: Wenn das Paar von sich aus nicht über seine Sexualität spricht, ist es sehr verlockend zu glauben, dass es keine sexuellen Bedenken oder Probleme hat. Doch das ist meistens nicht der Fall. Es ist daher klar, dass die proaktive Aufmerksamkeit für Intimität und Sexualität ein fester Bestandteil sowohl der Schwangerschaftsvorsorge als auch der Wochenbettbetreuung sein sollte.

Nicht nur für viele Paare ist Sexualität ein Tabu – auch einige Hebammen zögern, offen über darüber zu sprechen ...

Gianotten: Nicht nur Hebammen, auch Gynäkolog*innen, Urolog*innen, Psychiater*innen und Onkolog*innen haben Schwierigkeiten, Intimität und Sexualität in ihren Gesprächen mit Patient*innen anzusprechen. Und dass, obwohl viele ihrer Patient*innen mit sexuellen Funktionsstörungen zu kämpfen haben. Die klinische Erfahrung zeigt jedoch, dass offene Gespräche große Vorteile für die Lebensqualität der Patient*innen haben. Wenn aber auch die Hebamme die Sexualität des Paares nicht anspricht, bestätigt sie die Idee vom Tabuthema. Bei manchen Paaren kann dies sogar die Vorstellung verstärken, dass Sexualität gar nicht erst stattfinden sollte, beispielsweise in der Schwangerschaft.

Was verändert sich für Paare hinsichtlich der Intimität nach der Geburt ihres Kindes?

Gianotten: Frauen sind nach der Geburt meistens mit der Genesung von Geburtsschäden, hormonellen Veränderungen, einem anderen Blick auf den eigenen Körper und dem Eingrooven ins Stillen sehr beschäftigt. Viele von ihnen sind gerade in den ersten Wochen, manchmal auch Monaten, noch nicht bereit für Intimität mit ihrem Partner oder gar für penetrativen Sex. Andere Frauen brauchen unmittelbar nach der Geburt wieder körperliche Intimität. Aber auch viele Männer sind nach der Geburt gestresst – Stichwort Schlafmangel – und sind unsicher, inwiefern Ihre Partnerin bereit ist, ihre gemeinsam gelebte Sexualität wieder aufzunehmen.

Welche Konsequenzen kann es für Paare haben, wenn das Thema Intimität wie ein „Elefant im Raum“ ignoriert wird?

Gianotten:  Manche Paare geben ihrer Sexualität nach der Geburt ihres Kindes keinen Raum. Aber je länger sie warten, desto schwieriger wird es für sie, ihre vertraute Routine wieder aufzunehmen. Das ist nicht gut für die sexuelle Gesundheit des Paares.
Ein anderes Risiko besteht darin, dass das Paar zu schnell auf penetrativen Sex umsteigt, was zu Schmerzen, Anspannung und Enttäuschung führen kann. Das liegt unter anderem daran, dass für manche Männer Sex (insbesondere Penetrationssex) die Art und Weise ist, mit Stress umzugehen. In der Sexualwissenschaft sehen wird darin die Ursache für einige negative Konsequenzen. So kann es in der Folge zu einem Rückgang der Beziehungsqualität, einem starken Anstieg von Beziehungskonflikten und einer Rückbesinnung auf traditionelle Geschlechterrollen kommen. In den ersten drei Monaten nach der Geburt steigt sogar die Partnergewalt: Von 8% auf 21%.
So ist es nicht verwunderlich, dass sich 5% der Paare in den ersten zwei Jahren nach der Geburt trennen. Bei einem sehr geringen Geburtsgewicht des Babys liegt die Trennungsrate sogar bei 10%.

Was denken Sie, bekommt Sexualität genügend Raum im Curriculum der Hochschulen?

Gianotten: In den 1970er und 1980er Jahren kam es in Westeuropa zu einem Anstieg der Sexualerziehung an medizinischen Fakultäten. Das ist mittlerweile allerdings fast wieder verschwunden – bedauerlicherweise man könnte meinen, wir „versagen“ in dieser Hinsicht. Meiner Ansicht nach gibt es keine Disziplin, in der die Auseinandersetzung mit Sexualität und Intimität wichtiger ist als die der Hebammen. Die Ausbildung in Sexualwissenschaften ist daher für die sexuelle Gesundheit im Hebammenlehrplan von wesentlicher Bedeutung.

Welche Empfehlungen hinsichtlich sexueller Gesundheit möchten Sie Hebammen ans Herz legen?

Gianotten: Im Jahr 1999 verfasste die deutsche Psychologin Kirsten von Sydow eine Metaanalyse aller deutsch- und englischsprachigen psychologischen und medizinischen Artikel zum Thema Sexualität während und nach der Schwangerschaft (über einen Zeitraum von 46 Jahren). Eigentlich sollte jede Hebamme und Studentin diesen Artikel gelesen haben.
Da wir erkannten, wie sehr Hebammen und Studierende ein Lehrbuch zu diesem Thema benötigen, beschlossen wir vor sechs Jahren, ein Buch darüber zu schreiben. Wir haben „Midwifery and Sexuality“ mit einer Arbeitsgruppe von über 30 Autoren aus 14 Ländern im Springer Medizin Verlag veröffentlicht. In englischer Sprache und Open Access (2023). Dies bedeutet, dass es für jedermann kostenlos heruntergeladen werden kann. Wir tun unser Bestes, um eine Veröffentlichung in deutscher Sprache zu ermöglichen.

Das Interview führte Joana Rohr


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Sexualität in der Hebammenarbeit


Mehr zu „Sexualität in der Hebammenarbeit“ finden Sie in unserem Schwerpunkt in der HebammenWissen 1/24: Sexualität im Curriculum, Verhütung in der Stillzeit oder die Beratung bei Beziehungskrisen nach der Geburt – unsere Autor*innen geben Ihnen zahlreiche Tipps und Impulse für die alltägliche Praxis.

Buchtipp

Und wenn Sie das im Interview erwähnte Buch „Midwifery and Sexuality“ von Woet L. Gianotten et al. lesen möchten, dann finden Sie es hier

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