Psychiatr Prax 2004; 31(7): 327-329
DOI: 10.1055/s-2004-828380
Editorial
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Das Spektrum psychischer Störungen im Alter - eine Bevölkerungsperspektive

Mental Health in an Ageing SocietySteffi  G.  Riedel-Heller1
  • 1Klinik und Poliklinik für Psychiatrie der Universität Leipzig
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Publication Date:
05 October 2004 (online)

Das „alte” Europa kommt in die Jahre. Jeder Dritte wird 2050 über 60 Jahre alt sein [1]. Die Konsequenzen der demografischen Talfahrt erfasst alle Bereiche der Gesellschaft. Psychiatrisches Handeln wird zunehmend davon geprägt sein. Das Spektrum psychischer Störungen im Alter unterscheidet sich deutlich von dem jüngerer Kohorten. Worauf müssen wir uns einrichten? Was wissen wir gegenwärtig über die Häufigkeit der einzelnen psychischen Störungen im Alter?

Eine systematische Recherche aktueller europäischer Studien zur Prävalenz psychischer Störungen (seit 1990) zeigte Folgendes:

Die meisten Studien beschäftigen sich mit der Häufigkeit von Demenzen. Sie zeichnen ein recht klares Bild: Die Prävalenz demenzieller Erkrankungen steigt exponentiell mit dem Alter von 0,8 % bei den 65 - 69-Jährigen bis auf 28,5 % bei den über 90-Jährigen [2]. Bevölkerungsprojektionen zufolge wird sich die Zahl Demenzkranker in Europa damit in den nächsten 50 Jahren von 7,1 Millionen auf mehr als das Doppelte (16,2 Millionen) erhöhen [3].

Weniger klar ist das Bild zur Häufigkeit von depressiven Störungen. Einig ist man sich, dass klinisch relevante depressive Syndrome im Alter häufig sind. Eine Metaanalyse (EURODEP) von neun europäischen Studien ergab eine Prävalenz von 12,3 % [4]. Studien, die auf Symptomskalen basieren, berichten im Allgemeinen jedoch höhere Prävalenzen als Studien, die diagnostische Kriterien der modernen Klassifikationssysteme zugrunde legen. In einer griechischen Bevölkerungsstudie wurden 27,1 % der Befragten anhand einer Depressionsskala als depressiv eingeschätzt (CES-D: ≥ 16), während nur ein Drittel davon nach DSM-III (9,5 %) diagnostiziert wurde [5]. Schwere depressive Störungen im Alter sind mit durchschnittlich 1,8 % eher selten [6]. Nehmen depressive Störungen mit steigendem Alter zu? Diese Frage kann aufgrund der vorliegenden Daten nicht schlüssig beantwortet werden. Einige Autoren legen sogar einen komplexen Verlauf nahe, mit einer Spitze in der Lebensmitte oder während der Jahre vor der Pensionierung, einer niedrigen Häufigkeit in den ersten 10 - 15 Jahren danach und einem Anstieg nach dem 75. Lebensjahr [7].

Regelrecht dünn wird die Datenlage, wenn wir wissen wollen, wie häufig andere psychische Störungen im Alter sind. Betrachtet man psychische Störungen aus einer Bevölkerungsperspektive, so spielen Angststörungen und Alkoholabhängigkeit in jüngeren Kohorten eine große Rolle. Mit steigendem Alter nimmt die Häufigkeit dieser Störungen ab. Für Angststörungen schwanken die Angaben zwischen 4 und 14 % [8] [9]. Klinisch relevante Angstsymptome sind jedoch mit mehr als 20 % auch im Alter häufig [8] [10] [11]. Die wenigen vorliegenden Studien zur Alkoholabhängigkeit bei alten Menschen nennen Häufigkeiten zwischen 0,5 - 3,3 % [12] [13]. Keine fundierten Aussagen können zur Häufigkeit von Medikamentenabhängigkeit und somatoformen Störungen im Altersgang getroffen werden. Wir konnten nur eine Studie finden, die Angaben zur Medikamentenabhängigkeit bei 70 - 100-Jährigen macht. Demnach sind 0,5 % der Senioren davon betroffen. Bei steigendem Anxiolytika-, Hypnotika- und Sedativagebrauch im Alter kann von einer Häufung im Altersgang ausgegangen werden. Für somatoforme Störungen wurden in einer deutschen Studie sehr niedrige Raten (0,3 %) bei kategorialer Diagnostik nach DSM-IV gefunden. Nach ICD-10 war schlichtweg keiner der Studienteilnehmer betroffen. Dies steht im Widerspruch zu zahlreichen somatoformen Symptomen in der Bevölkerung: fast ein Viertel der in dieser Studie Befragten klagt über mindestens acht somatoforme Beschwerden [14]. Psychotische Syndrome stellen eine sehr heterogene Erkrankungsgruppe dar. Begrenzt man sich auf schizophrene Erkrankungen bei Personen über 65, so ist die Prävalenz gering [15]. Betrachtet man jedoch psychotische Symptome insgesamt, so scheinen diese mit dem Alter zuzunehmen. Eine schwedische Studie fand, das jeder 10. ältere Mensch (Demenzkranke ausgeschlossen) unter psychotischen Symptomen leidet [16]. Das wäre deutlich mehr als bisher vermutet. Delirante Syndrome gelten als häufigste Komplikation bei hospitalisierten alten Menschen. Ein klassischer Feldstudienansatz zur Bestimmung der Häufigkeit ist aufgrund der Symptomatik (Akuität, fluktuierender Verlauf) nicht zielführend. Studien zur Häufigkeit von Delirien beziehen sich deshalb meist auf bestimmte Einrichtungen bzw. Klinikabteilungen oder auf Patientengruppen, die sich einer bestimmten Operation unterzogen haben. Eine finnische Studie versucht eine Bevölkerungsperspektive: Anhand von medizinischen Behandlungsdokumentationen wurde ermittelt, dass im Verlauf von drei Jahren 10 % der über 85-Jährigen (Demenzkranke ausgenommen) ein Delir durchmachten [17].

Dieser kurze Abriss zu grundsätzlichen epidemiologischen Fragestellungen macht Folgendes deutlich:

Zur Häufigkeit von Demenzen existieren recht genaue Vorstellungen. Epidemiologische Forschung konzentriert sich nunmehr weit über die Deskription hinaus auf Risikofaktoren und sucht Antworten präventiver Natur auf das drängendste Gesundheitsproblem überhaupt. Demenzielle Erkrankungen sind Forschungsschwerpunkt. Das trifft auf alle Bereiche der Forschungstätigkeit zu - von den Grundlagen, über die Klinik und bis hin zur Versorgung.

Überraschend ist, dass grundlegende epidemiologische Fragestellungen zu den anderen psychischen Störungen im Alter unbeantwortet bleiben. Klinisch relevante depressive, ängstliche, somatoforme oder auch psychotische Symptome sind bei Senioren häufig zu finden. Sie werden jedoch von den modernen Klassifikationssystemen nicht erfasst. Aktuelle Klassifikationssysteme spiegeln die Präsentation psychischer Beschwerden alter Menschen nur unzureichend wider. Für den einzelnen Hilfesuchenden mag dies weniger relevant sein - vorausgesetzt, er trifft auf einen gerontopsychiatrisch erfahrenen Therapeuten. Für die Beschreibung des gerontopsychiatrischen Versorgungsbedarfs, die Versorgungsplanung, die Stimulierung weiterer Forschung und die Evaluation von Interventionen ist eine Klärung dieser Diskrepanz unabdingbar. Denn unser Blick muss sich weiten und das gesamte Spektrum psychischer Störungen im Alter einbeziehen.

Klinisch relevante psychische Störungen im Alter sind häufig. Es wird sofort klar, dass die Aufgaben nur gemeindenah und in breiter Kooperation aller Beteiligten (Stichwort: Gerontopsychiatrisches Verbundsystem) bewältigt werden können [18] [19] [20] [21]. Unser Fachgebiet wird zunehmend von den Problemlagen älterer Menschen geprägt [22] [23]. Ein Umdenken wurde eingeleitet, die Umsetzung in den Versorgungsalltag verläuft schleppend. Dieses erste Themenheft „Gerontopsychiatrie” ist hier ein eindeutiges Signal, damit zukünftig mehr Betroffene von den praktischen und konzeptionellen Entwicklungen profitieren können.

Literatur

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Prof. Dr. Steffi G. Riedel-Heller,MPH 

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