Dtsch Med Wochenschr 2006; 131(41): 2296-2297
DOI: 10.1055/s-2006-951372
Korrespondenz | Correspondence
Leserbriefe
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ärztliche Assistenz zur Selbsttötung - ethische, rechtliche und klinische Aspekte - Erwiderung

J. Schildmann, J. Vollmann
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Publication Date:
11 October 2006 (online)

Wir danken J. F. Spittler für seinen Leserbrief zu unserem Artikel [9] und für seine Ausführungen hinsichtlich der Bedeutung empirischer Untersuchungen zur ärztlichen Assistenz zur Selbsttötung (ÄAS). Nach unserer Kenntnis liegen bislang kaum Daten repräsentativer Studien vor, in denen die Inzidenz der ÄAS in Deutschland untersucht wurde. Im Rahmen einer bereits 1996 durchgeführten Befragung von 473 Ärzten gaben 11 % der befragten Krankenhausärzte und 15 % der niedergelassenen Ärzte an, von Patienten um Hilfe bei der Selbsttötung gebeten worden zu sein [2]. Den Ergebnissen dieser Untersuchung zufolge hatten drei niedergelassene Ärzte der Bitte der Patienten entsprochen.

Im Unterschied zu Deutschland liegen Daten aktueller Studien zur Praxis der ÄAS unter anderem aus Großbritannien [6], Oregon (USA) [3], der Schweiz [1] und den an der so genannten EURELD-Studie (Medical End-of-Life Decisions in six European Countries) teilnehmenden Ländern (Belgien, Dänemark, Italien, Niederlande, Schweden, Schweiz) [8] vor. Wir halten die Durchführung empirischer Untersuchungen zur ÄAS - und anderen Entscheidungen am Lebensende (z. B. Entscheidungen über die Begrenzung lebensverlängernder Maßnahmen) - in Deutschland aus folgenden Gründen für wichtig: Erstens ermöglichen die Ergebnisse dieser Studien eine informierte Diskussion über den Status quo von Entscheidungen und Handlungen im Kontext der medizinischen Betreuung am Lebensende. Zweitens fördert die Veröffentlichung entsprechender Ergebnisse den Diskurs über moralische Dilemmata, die im klinischen Alltag relevant und für die Beteiligten mit erheblichen Belastungen verbunden sind. Drittens kann mit Hilfe empirischer Untersuchungen ein möglicher Bedarf an ethischen Aus- und Weiterbildungsangeboten zur Entscheidungsfindung am Lebensende identifiziert werden. In diesem Zusammenhang belegen eigene Untersuchungen, dass Medizinstudierende in Deutschland am Ende ihres Studiums sich schlecht auf die Auseinandersetzung mit ethischen Problemstellungen am Lebensende vorbereitet fühlen [4]. Viertens kann die Effektivität von Aus- und Fortbildungsveranstaltungen [7] sowie von ethischen Beratungsstrukturen [5] im Hinblick auf die Entscheidungsfindung am Lebensende im Rahmen empirischer Untersuchungen evaluiert werden.

Empirische Studien können, wie von Spittler angedeutet, nur einen begrenzten Ausschnitt der Lebenswirklichkeit der an der ÄAS beteiligten Parteien wiedergeben. Hinsichtlich einer methodisch fundierten empirischen Beforschung der ÄAS und anderer Entscheidungen am Lebensende ist die Auswahl einer dem Forschungsgegenstand angemessenen Methodik wichtig. Die wesentliche Bedeutung quantitativer Untersuchungen liegt in der Erforschung der Inzidenz von Entscheidungen am Lebensende. Die in diesen Studien ermittelte Häufigkeit der ÄAS ist ein Indikator für ihre praktische Relevanz im klinischen Alltag. In Abgrenzung zu quantitativen Untersuchungen geben Kasuistiken Auskunft über Details einer Situation, in der sich beispielsweise ein Patient und Arzt über die ÄAS verständigen. Schließlich bietet der Einsatz von Methoden der qualitativen Sozialforschung die Möglichkeit einer systematischen Beforschung ethisch relevanter Fragestellungen unter Berücksichtigung induktiv wie auch deduktiv gewonnener Erkenntnisse. Ein Beispiel hierfür ist eine zum gegenwärtigen Zeitpunkt durchgeführte qualitative Interview-Studie, im Rahmen der prozedurale Aspekte der Entscheidungsfindung am Lebensende aus der Perspektive von an Krebs erkrankten Patienten und den behandelnden Onkologen untersucht werden. Vergleichbare Untersuchungen zur Entscheidungsfindung im Zusammenhang mit der ÄAS stehen nach Kenntnis der Autoren in Deutschland aus.

Vor dem Hintergrund der vorangehenden inhaltlichen und methodischen Überlegungen können deskriptive Untersuchungen im Rahmen von Forschungsprojekten der Klinischen Ethik nach unserer Einschätzung einen wichtigen Beitrag zum empirisch informierten ethischen Diskurs (empirical ethics) über ärztliches Handeln am Lebensende leisten.

Literatur

  • 1 Bosshard G, Ulrich E, Bar W. 748 cases of suicide assisted by a Swiss right-to-die organisation.  Swiss Med Wkly. 2003;  133 310-317
  • 2 Kirschner R, Elkeles T. Ärztliche Handlungsmuster und Einstellungen zur Sterbehilfe in Deutschland.  Gesundheitswesen. 1998;  60 247-253
  • 3 Oregon Department of Human Services .Eighth Annual Report on Oregon’s Death with Dignity Act. http://egov.oregon.gov/DHS/ph/pas/docs/year8.pdf
  • 4 Schildmann J, Herrmann E, Burchardi N, Schwantes U, Vollmann J. Physician assisted suicide: knowledge and views of fifth-year medical students in Germany.  Death Stud. 2006;  30 29-39
  • 5 Schneiderman L J, Gilmer T, Teetzel H D, Dugan D O, Blustein J, Cranford R, Briggs K B, Komatsu G I, Goodman-Crews P, Cohn F, Young E W. Effect of ethics consultations on nonbeneficial life-sustaining treatments in the intensive care setting: a randomized controlled trial.  JAMA. 2003;  290 1166-1172
  • 6 Seale C. National Survey of end-of-life decisions made by UK medical practicioners.  Palliat Med. 2006;  20 3-10
  • 7 Sulmasy D P, Geller G, Levine D M, Faden R R. A randomized trial of ethics education for medical house officers.  J Med Ethics. 1993;  19 157-163
  • 8 van der Heide A, Deliens L, Faisst K, Nilstun T, Norup M, Paci E, van der Wal G, van der Maas P J. EURELD consortium . End-of-life decision-making in six European countries: descriptive study.  Lancet. 2003;  362 345-350
  • 9 Schildmann J, Vollmann J. Ärztliche Assistenz zur Selbsttötung - ethische, rechtliche und klinische Aspekte.  Dtsch Med Wochenschr. 2006;  131 1405-1408

Dr. med. Jan Schildmann, M.A. 
Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann

Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin, Ruhr-Universität Bochum

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