ergoscience 2006; 01(3): 89-91
DOI: 10.1055/s-2006-927099
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Professionalisierung bedeutet, täglich professionell zu handeln!

H. Becker
Further Information

Publication History

Publication Date:
05 October 2006 (online)

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,

wann handeln wir professionell in der Ergotherapie? Die Professionalisierung der Ergotherapie wird allgemein als ein wichtiges Thema verstanden. Doch was ist eigentlich konkret damit gemeint?

Es gibt Theorien, die sich mit der Entwicklung von Berufen auseinandersetzen und auch damit, wann ein Beruf als eine Profession anerkannt wird. Gisela Beyermann stellt in ihrem Beitrag Professionalisierung und Klientenzentrierung (S. 92) Merkmals- und Interaktionstheorien einander gegenüber. Sie plädiert dafür, dass sich die Ergotherapie an Theorien professionellen Handelns orientieren soll. Diese sehen als Kennzeichen der Professionalität das individuelle Eingehen auf den einzelnen Klienten und zeigen auf, was dazu zu leisten ist: wissenschaftliche Erkenntnisse, Methodenlehren und Konzepte müssen auf die aktuelle Situation eines Klienten übertragen werden. Dabei gilt es, eine Vielzahl an täglichen Entscheidungen zu treffen sowie therapeutisches Handeln und Interaktion bewusst zu gestalten und zu reflektieren.

Akademisierung und wissenschaftliches Arbeiten  sind in diesem breiten Blick ein wichtiger Baustein, der es ermöglicht, differenziert zu handeln und sein Handeln zu reflektieren, z. B. durch Evidenz-basierte Praxis und Clinical Reasoning.

Begriffe und Konzepte kritisch zu hinterfragen, gehört zu einer theoretisch fundierten Profession. Brigitte Gantschig geht Definitionen und Anwendungen des Begriffs Occupation in den Niederlanden und der Schweiz nach, indem sie aus jedem Land einen Experten befragt. Sie regt damit zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema an (S. 110).

Klientenzentrierung stellt einen weiteren Baustein für das Fundament einer professionellen Therapie dar. Sie garantiert, dass wir mit unserem Angebot die Bedürfnisse und Wünsche des Klienten treffen und ihm als Partner begegnen. Damit Partizipation des Klienten möglich wird, müssen jedoch auch die gesellschaftlichen Bedingungen gleiche Voraussetzungen trotz Funktionseinschränkungen oder Behinderung des Menschen ermöglichen. Welchen Beitrag Ergotherapeuten dazu leisten können, fasst Maria Kretschmer in „Gelesen und kommentiert” (S. 119) zusammen.

Differenzierung in der Diagnostik und Therapie ist als weiterer Baustein der Professionalisierung zu nennen. Vermutungen und Erfahrungen reichen dazu nicht aus. Erkenntnisse müssen gesammelt, ausgewertet, interpretiert und immer wieder überprüft werden. Dabei stehen auch unsere bisherigen Annahmen auf dem Prüfstand, und wir müssen bereit sein, sie zu verändern.

Elke Kraus erkannte bei der Auswertung ihrer Untersuchungsdaten, dass sich die bisherige Annahme, das Überkreuzen der Körpermitte sei ein Hinweis auf die Handpräferenz eines Kindes bei getrennter Betrachtung rechts- und linkshändiger Kinder nicht bestätigt (S. 100).

Helen Polatajko und ihre Kolleginnen konfrontieren uns mit einem lernorientierten Konzept für die Behandlung von Kindern mit Koordinationsstörungen (S. 121 u. 126) und fordern uns damit heraus, genau zu untersuchen, wann wir diesen Ansatz einem eher neurophysiologischen vorziehen sollten.

Ergotherapeutisches Handeln zu vertreten, bekommt im Gesundheitswesen immer größere Bedeutung. Dazu gehört es, in einer angemessenen Sprache zu kommunizieren und Klienten, anderen Berufsgruppen, Leistungsträgern und Institutionen die Hintergründe der therapeutischen Ziele und Interventionen zu verdeutlichen. Das Buch Becoming an Advanced Healthcare Practitioner von Brown et al. gibt viele Anregungen zu allen Bereichen des professionellen Handelns (S. 130).

Wir handeln also professionell, wenn wir:

Vielfältige Aspekte in unsere Entscheidungen einbeziehen und in der Zielsetzung und Therapiegestaltung Vorgehensweisen finden, die dem Klienten am besten dienen; Unsere Erkenntnisse, Wahrnehmungen, Denkweisen und Gewohnheiten hinterfragen, um den speziellen Fragestellungen unseres Klienten gerecht werden zu können; Offen bleiben für das Neue, das Erstaunliche und das Besondere, das in der Begegnung mit dem Klienten liegt; Uns selbst und unser Vorgehen immer wieder kritisch betrachten und von anderen betrachten lassen.

Das erfordert vom praktisch Tätigen wie vom Wissenschaftler, vom Lehrer wie vom Schüler und Studenten einen stetigen und täglichen Reflexionsprozess. Er macht unsere Arbeit spannend, lebendig und, indem wir ihn gemeinsam vollziehen, verändern wir unseren Beruf - und uns selbst.

Viel Freude und Erfolg bei Ihrer täglichen Arbeit wünscht Ihnen für das Herausgeberteam

Heidrun Becker

Heidrun Becker

Georg Thieme Verlag KG

Email: heidrun.becker@thieme.de

    >