Psychiatr Prax 2005; 32(2): 102
DOI: 10.1055/s-2005-863779
Fortbildung und Diskussion
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ein gelungener Mikrokosmos der Psychiatriegeschichte der Jahrhundertwende!

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Publication Date:
18 February 2005 (online)

 

Schon wieder ein Buch zu Leben und Werk Emil Kraepelins (1856-1926)? So mag sich mancher fragen, dessen Blick nur flüchtig über den Titel dieser neuen Publikation von Holger Steinberg streift. Wer sich jedoch die Mühe macht, den vom Herausgeber kommentierten, aus dem Leipziger Universitätsarchiv entstammenden Briefwechsel zwischen Wilhelm Wundt (1832-1920) und einem der bedeutendsten deutschen Psychiater nachzulesen, wird nicht nur Zeuge eines sich gegenseitig befruchtenden interdisziplinären Austausches, sondern erhält auch Einblick in für die Psychiatriegeschichte wichtige Dezennien. Insbesondere die Entwicklung und Reifung des jungen Kraepelin vom bewundernden Schüler, der mit glühendem Eifer die experimentelle Psychologie für die klinische Psychiatrie nutzbar machen möchte und sogar eine gesicherte Stellung aufgibt, um in Leipzig unter Wundt sich nebenberuflich experimentalpsychologischen Studien zu widmen, hin zu einer eigenständigen Forscherpersönlichkeit wird durch das literarische Mittel des Briefwechsels auf anschauliche Weise deutlich. Gleichzeitig erfährt der Leser einiges über die wissenschaftlichen Schwerpunkte und Vorlieben beider Persönlichkeiten, die im Lauf der sich über vier Jahrzehnte erstreckenden und erst mit dem Tode Wundts endenden Korrespondenz manche Neubewertung erfuhren. So musste Kraepelin 1912 bedauernd feststellen, dass er seine Begeisterung für die psychologische Forschung nicht in dem Maße beruflich umsetzen konnte wie er zu Beginn seiner akademischen Laufbahn hoffte. Trotzdem bleibt sein Bemühen spürbar, die "Gesetze dieses Seelenlebens kennen zu lernen" (S. 99) und ihnen in einer hirnanatomisch dominierten Psychiatrie Gehör zu verschaffen, wie auch die Einrichtung eines experimentalpsychologischen Labors 1892 in Heidelberg unter seiner Ägide belegt. Die Schilderungen persönlicher Anliegen, familiärer Schicksalsschläge aber auch kleinerer Schwächen der beiden Briefschreiber, wie die mahnende Aufforderung Wundts an Kraepelin um Rückgabe entliehener Apparate und Fachliteratur, machen zudem die Lehrbuchgestalten als greifbare Individuen erlebbar.

Wer Näheres über die Zeitumstände wissen möchte, erfährt aus den zahlreichen Anmerkungen des Herausgebers nicht nur Wissenswertes über eine Vielzahl zeitgenössischer Psychiater, Psychologen und Philosophen, sondern taucht ein in die Welt des Fin de siècle, welche die Spezialisierung der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen zwar schon erkennbar werden ließ, jedoch noch nicht vom rigorosen Separatismus unserer Tage gekennzeichnet war. Die Entstehung psychiatrischer Fachzeitschriften, Diskussionen um die Besetzung von Lehrstühlen, die Etablierung der Psychologie als psychiatrische Hilfswissenschaft und ihre damit notwendige Loslösung von der Philosophie werden durch die Erläuterungen in ihrer Dynamik ganz nebenbei dargestellt.

Nicht zuletzt dürfte das Wohlwollen Wundts gegenüber Kraepelin sowie die tiefe Freundschaft der reiferen Jahre ebenfalls einer Erwähnung wert sein, sind die meisten Briefe Kraepelins doch geprägt vom Ausdruck tiefer Dankbarkeit gegenüber seinem Lehrer. Dies regt zu näherem Nachfragen an. Hätte sich Kraepelin in gleichem Maße für die psychologischen Aspekte der Psychiatrie interessiert, wenn er in jungen Jahren nicht auf die Veröffentlichungen seines späteren Lehrers aufmerksam geworden wäre und in Wundt einen wohlwollenden Begleiter gefunden hätte? Welche Ausrichtung hätte die durch Kraepelin angestoßene Neuordnung der Nosologie ohne die Berücksichtigung der praktischen Psychologie?

Das vorliegende Buch gibt darauf keine Antworten, zeigt aber auf, welche Bedingungen (oder auch Zufälle) Kraepelin zur Entfaltung seiner wissenschaftlichen Persönlichkeit zum Vorteil gereichten. Ein gelungener Mikrokosmos der Psychiatriegeschichte der Jahrhundertwende!

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