Gesundheitswesen 2006; 68(2): 85-93
DOI: 10.1055/s-2005-859000
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

100 Jahre soziale Medizin in Deutschland

Hundred Years of Social Medicine in GermanyU. Schagen1 , S. Schleiermacher1
  • 1Forschungsschwerpunkt Zeitgeschichte, Institut für Geschichte der Medizin im Zentrum für Human- und Gesundheitswissenschaften der Charité - Universitätsmedizin Berlin
Ergänzte Fassung des Vortrags auf dem 4. Deutschen Kongress für Versorgungsforschung. Jahrestagungen der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) und der Deutschen Gesellschaft für medizinische Soziologie (DGMS), 21. - 25.9.2005 in Berlin: „Die Zukunft der Gesundheitsversorgung in Deutschland” an der Charité - Universitätsmedizin Berlin - Campus Virchow-Klinikum am 22.9.2005
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Publication Date:
15 February 2006 (online)

Zusammenfassung

1905 wurde die erste deutsche Gesellschaft für soziale Medizin gegründet. Aus der hundertjährigen Geschichte wurden zwei für die Entwicklung des Faches besonders bedeutsame Epochen einer historischkritischen Analyse der Quellen und der Auswertung vorliegender Sekundärliteratur unterzogen:

  • Die Gründungsphase der Gesellschaft verbunden mit der Zielsetzung der neuen Disziplin und

  • die Versuche der Formulierung des Inhalts der neuen Wissenschaft, auch in der Auseinandersetzung mit der sich ebenfalls erst etablierenden Rassenhygiene.

Im Ergebnis wird auf die Besonderheit der Gründung verwiesen: von Anfang an wurde die Multidisziplinarität und damit die Notwendigkeit einer Anwendung unterschiedlicher wissenschaftlicher Methoden zur Grundlage der Arbeit des Faches gemacht. Es wird aufgezeigt, welche Wirkungen die Faszination von ausschließlich biologischen, insbesondere vererbungswissenschaftlichen, Erklärungsmodellen für die Entstehung von Krankheiten und menschlicher Verhaltensbesonderheiten verursachte. Bei der Umsetzung in praktisches Handeln wurde die Ausrottung aller krankheitsverursachenden Erbeigenschaften zum Ziel erklärt. Dieses Ziel wurde sogar dann verfolgt, wenn die Vererbbarkeit von Eigenschaften nur vermutet aber nicht eindeutig nachgewiesen war. Die biologistische Deutung von Krankheitsphänomenen vernachlässigte die gesellschaftlichen Ursachen für bestimmte Krankheits- und Gesundheitsverläufe und begründete unter den politischen Systemvoraussetzungen des Nationalsozialismus Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit Hunderttausender.

Abstract

In 1905 the first German association of Social Medicine was founded. Out of its now 100 years of history two aspects which were of peculiar importance for its development are studied here by the method of historic analysis of the sources and the examination of secondary literature:

  • the phase of foundation aligned with the definition of the objectives within the new discipline and

  • the efforts to define the contents of this new discipline within the struggle against the as well new discipline of Racial Hygiene.

The noteworthiness of this foundation is characterized by the fact that the society was based from its beginnings on multidisciplinarity and the appliance of different scientific methods. It is showed which fascination had exclusively biological and genetic explanations for the genesis of diseases and human attitude characteristics. In transformation to practical action these ideas led to the extermination of disease causing genetic attributes and often their bearers as well. This aim was followed up even when the genetic causation of specified attitudes was not clearly proved. These biologistical interpretations of disease phenomenons neglected social causes for the process of the appearance of certain diseases and the emergence of health. They were responsible for medical interventions into the physical integrity of hundreds of thousands of human beings under the political terms and conditions of National Socialism.

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  • 7 Asmus G. Hinterhof, Keller und Mansarde. Einblicke in Berliner Wohnungselend 1901 - 1920. Die Wohnungs-Enquête der Ortskrankenkasse für den Gewerbebetrieb der Kaufleute, Handelsleute und Apotheker Reinbek bei Hamburg; Rowohlt Taschenbuch Verl 1982: 225
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  • 13 Ebd., 682. Hier zitiert Grotjahn aus: Potthoff H. Der wirtschaftliche Wert des Menschenlebens.  Umschau Bd. 12, Heft 15, o.D..
  • 14 Fischer A. Grundriß der Sozialen Hygiene. 2. Auflage. Karlsruhe; Müller 1925 68: 198
  • 15 Fischer A. Grundriß der Sozialen Hygiene. 2. Auflage. Karlsruhe: Müller, 1925: 198. - Grotjahn A. Leitsätze der sozialen und generativen Hygiene. Sozialhygienische Abhandlungen Nr. 3. 3. Auflage. Karlsruhe; C.F. Müller 1925: 26
  • 16 Grotjahn A. Leitsätze der sozialen und generativen Hygiene. Sozialhygienische Abhandlungen Nr. 3. 3. Auflage. Karlsruhe; C.F. Müller 1925: 26
  • 17 Weiss S F. Die Rassenhygienische Bewegung in Deutschland 1904 - 1933. Ärztekammer Berlin Der Wert des Menschen. Medizin in Deutschland 1918 - 1945 Berlin; Hentrich 1989: 154
  • 18 Grotjahn A. Entwurf eines Elternschaftsversicherungsgesetzes nebst Begründung. Archiv für soziale Hygiene und Demographie, 1.Bd., 1925/26: 24-30. Diese „Versicherung” sollte nach Grotjahns Vorstellungen vorsehen, dass Ledige sowie kinderlos oder kinderarm Verheiratete die Kosten tragen (S. 25), um Familien „von der Geburt des vierten Kindes” an ein Kindergeld zahlen zu können. Dies Elternschaftsversicherung sollte Teil des Sozialversicherungswesens werden.
  • 19 Grotjahn A. Leitsätze der sozialen und generativen Hygiene. Sozialhygienische Abhandlungen Nr. 3. 3. Auflage. Karlsruhe; C.F. Müller 1925 68: 28
  • 20 Grotjahn A. Die Hygiene der menschlichen Fortpflanzung. Versuch einer praktischen Eugenik. Berlin; Urban & Schwarzenberg 1926: 317
  • 21 Grotjahn A. Die Hygiene der menschlichen Fortpflanzung. Versuch einer praktischen Eugenik. Berlin: Urban & Schwarzenberg, 1926: 319. Vgl. hierzu auch die Darstellung von Roth KH. Schein-Alternativen im Gesundheitswesen: Alfred Grotjahn (1869 - 1931) - Integrationsfigur etablierter Sozialmedizin und nationalsozialistischer „Rassenhygiene”. In: Roth KH (Hrsg). Erfassung zur Vernichtung. Von der Sozialhygiene zum „Gesetz über Sterbehilfe”. Berlin: Verlagsgesellschaft Gesundheit, 1984: 31 - 56. Nachdruck auch bei Schagen U, Schleiermacher S, CD-ROM 2005. 
  • 22 Grotjahn A. Das sociale Moment in der Medicin und Hygiene.  Medicinische Reform. 1904;  68 204

1 Auf einer CD-ROM, die gleichzeitig entstanden ist, finden sich ausführlichere Aufsätze und Dokumente zu weiteren Themen sowie Biographien zahlreicher Akteure und einschlägige Bibliographien: Schagen U, Schleiermacher S (im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention). 100 Jahre Sozialhygiene, Sozialmedizin und Public Health in Deutschland. CD-ROM. Berlin, 2005

2 Selbstverständlich sind Ansätze einer sozialen, die Verhältnisse in der Gesellschaft berücksichtigenden Medizin noch sehr viel älter, worauf aber hier nicht eingegangen werden kann. S. dazu u. a. Beyer A, Winter K (Hrsg). Lehrbuch der Sozialhygiene. Berlin: VEB Verlag Volk und Gesundheit, 1953. - Deppe HU; Regus M (Hrsg). Seminar: Medizin, Gesellschaft, Geschichte. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Medizinsoziologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1975. - Schwartz FW. Von der „medicinischen Polizey” zu den Gesundheitswissenschaften: Zum Verhältnis von Gesundheitsexperten und Staat. In: Schagen U, Schleiermacher S (im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention). 100 Jahre Sozialhygiene, Sozialmedizin und Public Health in Deutschland. CD-ROM. Berlin, 2005

3 Bedeutender Gesundheitspolitiker Preußens in der Weimarer Republik, etablierte gesundheitsfürsorgerische Gesetzgebung, Strukturen und Ausbildungsstätten für das öffentliche Gesundheitswesen

4 Herausgeber des Handbuchs für Hygiene

5 Friedrich Kraus (1858 - 1936) o. Prof. der Inneren Medizin in Graz 1895 und Berlin von 1902 bis 1927

6 Erster Lehrstuhlinhaber für Sozialhygiene an der Universität Berlin ab 1920, Begründer und Theoretiker der neuzeitlichen Sozialhygiene, die auch eugenische Vorstellungen beinhaltete. Sein bekanntes, allerdings nur wenige Jahre dauerndes Engagement in der SPD, für die er 1922 den gesundheitspolitischen Teil ihres Programms formulierte, verschleiert seine politische Nähe zum nationalsozialen Liberalismus.

12 Mosse M, Tugendreich G (Hrsg) Krankheit und Soziale Lage. München: J. F. Lehmans, 1913

7 Vorsitzender wird Prof. Dr. Mayet, Regierungsrat im Kaiserlich-Statistischen Amt, 2. Vorsitzender Dr. Dietrich, Geheimer Ober-Regierungsrat im preußischen Cultusministerium, 3. Vorsitzender wird Prof. Dr. O. Lassar, 1. Schriftführer Dr. Rudolf Lennhoff, 2. Schriftführer Dr. Alfred Grotjahn, medicinischer Herausgeber der Jahresberichte für soziale Hygiene und Demographie, Kassenführer Dr. Georg Heimann. Vom statistischen Amt der Stadt Berlin, Bibliothekar Dr. Friedrich Kriegel, Beisitzer Sanitätsrat Dr. Landsberger und Dr. Adolf Gottstein.

11 Die eugenische Indikation bezog sich auf einen festgelegten Krankheitskatalog. Grotjahn hatte innerhalb des Preußischen Landesgesundheitsrats, der sich mit dieser Frage befasst hatte, folgenden „Leitsatz” formuliert: „Die eugenische Unterbrechung der Schwangerschaft darf nur in einem öffentlichen Krankenhaus unter Zuziehung des zuständigen staatlichen Medizinalbeamten und eines Fachmannes der Vererbungswissenschaft vorgenommen werden.” [20]

13 A. F. ist neben Grotjahn und Gottstein der wichtigste Sozialhygieniker der ersten Generation und Autor des grundlegenden Werkes zur Geschichte des deutschen Gesundheitswesens. Fischer A. Geschichte des deutschen Gesundheitswesens. 2 Bände. 1933. Reprogr. Nachdruck: Hildesheim: Georg Olms. 1965

14 Medicinische Reform 1905, 13 (No. 9): 70

8 Salomon Neumann, 1819 - 1907, gesundheitspolitischer, medizinalstatistischer und sozialmedizinischer Vordenker in wichtigen Grundfragen des Faches seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Noch im Oktober des Gründungsjahres wurde er Ehrenmitglied der Gesellschaft für sociale Medicin, Hygiene und Medicinalstatistik. Medicinische Reform, 1905, 13(No. 46): 364

9 Unter Aufnahme des Begriffs Sozialhygiene grenzte sich Grotjahn gegenüber dem schon seit Rudolf Virchow formulierten Begriff „Sozialmedizin”, worunter G. „öffentliche Gesundheitspflege” oder „Versicherungsmedizin” verstand, ab. Grotjahn A. Soziale Hygiene (Definition). In: Grotjahn A, Kaup J. Handwörterbuch der sozialen Hygiene. Leipzig: Vogel, 1912: 410 - 412. Ders. Soziale Medizin. Ebd. 438 - 439

10 Grotjahn und Fischer schlugen daher vor, andere Begriffe zu verwenden, wie z. B. „Eugenik”, „Fortpflanzungshygiene”, „Idiohygiene” oder „Nachkommenschutz”. Da sich der Begriff der „Rassenhygiene” im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt hatte, wollte „man hierauf nicht mehr verzichten”. Vgl [15]

Dr. Udo Schagen

Forschungsschwerpunkt Zeitgeschichte des Instituts für Geschichte der Medizin, ZHGB - Charité - Universitätsmedizin Berlin

Klingsorstr. 119

12203 Berlin

Email: udo.schagen@charite.de

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