PiD - Psychotherapie im Dialog 2003; 4(4): 404-408
DOI: 10.1055/s-2003-45304
Interview
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Wir waren nicht nur einfach eine Nummer...

Interview mit einem Ratsuchenden aus dem Krisenzentrum Dortmund HördeArist  von Schlippe
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Publication Date:
05 December 2003 (online)

PiD: Herzlichen Dank, dass Sie sich zu diesem Gespräch bereit gefunden haben. Wie lange ist es her, dass Sie als Ratsuchender hier im Krisenzentrum waren?

Herr S: Also das erste Mal war ich da, das muss Ende April gewesen sein,

PiD: Vor zwei oder drei Monaten? Da sind Ihre Erfahrungen also noch ganz frisch. Was war der Anlass, weshalb Sie gekommen sind, worum ging es da?

Herr S: Ich hatte zu Weihnachten einen Suizidversuch gemacht. Ostern hätte ich ihn beinahe wiederholt. Ich hatte Weihnachten den Entschluss gefasst, professionellen Rat zu suchen. Tja, und Ostern merkte ich, dass das in keiner Weise aufgearbeitet war. Ich hatte bestimmte Vorstellungen, von wem ich den Rat haben wollte und da waren die Wartezeiten lang - und so war das verläppert. Aber ich war auch völlig erschüttert von dem, was ich getan hatte, habe versucht, mich mit dem Thema Suizid allgemein zu beschäftigen und habe dann im Internet vom Krisenzentrum Dortmund erfahren. Und als sich Ostern wieder eine vergleichbare Krise anbahnte und ich merkte, dass ich wenig auf das vertrauen konnte, was ich mir bis dahin selber aufgebaut hatte, wollte ich nicht wieder in eine Situation kommen wie Weihnachten. Da rief ich dann eben hier an und war unglaublich froh, dass das so schnell klappte.

PiD: Das klingt so, als seien Sie Weihnachten in eine Situation geraten, in der Sie sich selber fremd wurden und etwas getan haben, über das Sie sich selbst erschrocken haben. Und dann haben Sie durch die langen Wartezeiten keine Möglichkeit gefunden, in den klassischen Versorgungsstrukturen Unterstützung zu kriegen?

Herr S: Nun, sagen wir mal so, ich hatte einen Wunschtherapeuten, und der konnte so kurzfristig nichts möglich machen. Der hat mir dann andere empfohlen, die aus verschiedenen Gründen nicht passten, und dann hatte mich der Alltag wieder eingeholt und die Motivation verschwand langsam wieder. Das war auch das Problem, dass ich mit dieser gnadenlosen Erschöpfung, die der Alltag mit sich brachte, einfach in solche irrationalen Zustände geriet. Das war Ostern auch wieder so und dann merkte ich: „Hoppla, da muss viel gründlicher was passieren!”

PiD: Wie kam es zu dieser dramatischen Erschöpfung?

Herr S: Ich bin hoch verschuldet, das hängt mit der Trennung von meiner Frau zusammen, die schon länger zurück liegt. Deswegen hatte ich 5 Berufe gleichzeitig ausgeübt, um alle Gläubiger zu bedienen. Das hat mich an den absoluten Rand der Erschöpfung gebracht. Noch vor wenigen Jahren waren die vielen unterschiedlichen Tätigkeiten Herausforderungen und jetzt, ja, da wird man älter und dann geht das an die Substanz, man arbeitet nur noch von der Hand in den Mund, andere Sachen bleiben liegen, die Bedienung von Verpflichtungen bleibt liegen und dann steht plötzlich der Gerichtsvollzieher vor der Tür. Dann kommt man in solch irrationale Phasen, da reicht wirklich irgendwann einmal der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Schließlich wurde ich noch krank, bin im Auto erschöpft zusammengebrochen, hatte in meiner Tasche zwei Röhrchen Schlaftabletten und habe sie geschluckt. Das war keine geplante Handlung und hat mich tief erschrocken. Ich hatte gehofft, der Schreck alleine sei schon heilsam und dachte: „Irgendwann wirst du das einmal gründlich aufarbeiten!” Aber ich geriet in denselben Stress wieder rein und war dann Ostern vergleichbar erschöpft. Wieder zog sich alles zusammen, was meine Alltagsverpflichtungen anging. Aber ich habe dann etwas anderes gemacht! Ich habe nichts geschluckt, sondern ich habe Reißaus genommen, habe mich ein paar Orte weiter unter falschem Namen im Hotel eingemietet, habe alles Verfügbare vom Konto gehoben, mir einen Laptop gekauft. Und dann habe ich da gesessen und meine Biografie geschrieben, bis ich an den Punkt kam, an dem ich wissen wollte: „Willst du leben oder willst du nicht?” Ja, und wenn man schreibt und schreibt und schreibt, dann guckt man sich irgendwie über die Schulter und ist völlig überrascht, was da auf den Bildschirm kommt. Und nachdem ich zwischendrin völlig unsicher war, was rauskommen würde, stand da nach 4 Tagen, dass ich leben wollte!

PiD: Also Sie haben richtig ein Stück Selbsttherapie gemacht.

Herr S: Noch nicht Therapie, aber wirklich an diesen Grund dran zu kommen, wo mein Lebenswille war. Also ich habe ganz offen geschrieben, habe die Entscheidung völlig offen gelassen, was hinterher da stand. Und ich hätte auch gewusst, was ich gemacht hätte, wenn es anders gewesen wäre.

PiD: Dann hätten Sie dafür gesorgt, dass es klappt?

Herr S: Ja! Mir ist dann auch aufgefallen, wie viele Momente es gab, in denen es nicht so klar zum Bewusstsein kam, sondern einfach dieser Drang da war: „Ich will nicht mehr, ich bin fertig, ich tauge nichts, ich erlöse alle aus meiner Umgebung, wenn ich gehe!” Das hat mich dann tief erschrocken, wie oft und wie nah an der Schwelle zum Bewusstsein diese Gedanken waren und da habe ich beschlossen: „Jetzt musst du etwas tun, wenn du es jetzt nicht machst, dann wird die nächste Gelegenheit möglicherweise die letzte sein!”

PiD: Das heißt, obwohl dieser Satz dastand: „Ich will leben!”, gab es auch noch andere starke Kräfte in Ihnen und es war wichtig, mit denen gut umzugehen. Wie ist dann der Kontakt zum Krisenzentrum gelaufen, was ist da passiert?

Herr S: Ich habe mich entsonnen, dass ich ein paar Monate vorher gesehen hatte, es gibt in Dortmund ein Krisenzentrum, als ich unter dem Stichwort Suizid im Internet suchte. Da habe ich dann angerufen - und hatte wenige Tage später einen Termin.

PiD: Wie ging das los, wie kamen Sie in Kontakt? Haben Sie gemerkt, dass die Sekretärin auch eine Ausbildung in Gesprächsführung hatte, dass das also eine professionelle Aufnahme gleich schon am Telefon war?

Herr S: Schade, dass Sie danach fragen, das hatte ich jetzt sagen wollen. Das Telefonat mit dieser Dame am Telefon war einfach so, dass ich mich aufgehoben fühlte. Das war unendlich wichtig, gar nicht, was sie gesagt hat, sondern wie sie es gesagt hat. Das war einfach gut, das war einfach gut. Da waren auch andere Fragen wie Schuldnerberatung usw. Aber: „Kommen Sie einfach und wir gucken dann, was weiter zu tun ist.” Und diese Aussicht, da ist eine Anlaufstelle und ich weiß jetzt zwar nicht, was ich als Erstes tun soll, aber irgendwie wird sich da was ordnen, das war wirklich grandios. Zwei Minuten später habe ich noch einmal angerufen und gefragt, ob ich meine Frau mitbringen dürfe, weil sie natürlich in diesem ganzen Prozess maßlos gelitten hat und ich ...

PiD: Ach, Sie sind immer noch im Kontakt mit ihr?

Herr S: Nein, es ist meine zweite Frau. Und da kam dann diese ganz herzliche Auskunft: „Das entscheiden Sie!” Das war gut. Vor allem weil ich dachte, da ist jemand, der nimmt mir vielleicht ein bisschen was ab, bietet einfach ein Ohr an und trotzdem darf ich Regie führen, das war einfach gut. Ja, und dann bin ich gekommen, eigentlich noch so ganz unter diesem erschütterten Eindruck, das war recht kurzfristig nach Ostern.

PiD: Sind Sie denn mit Ihrer Frau zusammen gekommen?

Herr S: Ja, ich bin mit meiner Frau gekommen. Das wurde gar nicht hinterfragt, es war nur in Ordnung, dass sie da war. Der Kollege, der mich betreut hatte, hatte einen Praktikanten mit dabei. Sie haben zu zweit dieses Gespräch geführt. Da gab es einen kleinen Schreckmoment, weil ich mich an die Psychiatrie entsinnte, damals, in einer geschlossenen Abteilung. Ich kann mich kaum an diese Zeit erinnern, ich weiß nur noch, dass ich intellektuell angemessen reagiert habe, aber emotional völlig abseits stand. Ich wusste noch wie mein Intellekt arbeitete und ich mir sagte: „Wenn du jetzt das sagst, behält er dich da, wenn du das sagst, dann entlässt er dich.” Ich habe dem dann auch diesen Zustand so vorgespielt, dass er mich hat entlassen können. Mein vordergründigstes Anliegen war nun, einen Gesprächspartner zu haben, den ich nicht um den Finger wickeln kann. Und daher der Schreck, denn mein erster Eindruck war: „Gott, die sind viel jünger als ich!”

PiD: Beide?

Herr S: Ja, beide, nicht viel jünger, aber immerhin. Aber es ging dann gar nicht um Situationen, in denen man jemanden um den Finger wickelt, das war überhaupt gar nicht Thema. Es spielte einfach keine Rolle. Es war übrigens auch explizit keine Therapie. Ein Ergebnis der ersten Sitzung war, dass ich eine Liste mit Psychotherapeuten hatte, dass ich eine Liste mit Schuldnerberatungen hatte, dass ich das Angebot hatte, wieder zu kommen, dass wir versuchen können, eine Zeit zu überbrücken und schließlich ein paar ganz praktische Ratschläge. Das hatte auch Signalcharakter: „Wir machen hier keine Therapie, wir bieten maximal 5 Sitzungen an, eine Therapie muss mehr sein!”

PiD: Wenn Sie das so sagen, ich überspitze mal, wozu waren da überhaupt Psychologen? Sachinformationen hätte Ihnen ja vielleicht auch eine Hilfskraft geben können. Haben Sie daneben auch so etwas wie psychologische Professionalität erlebt?

Herr S: Absolut. Es waren weiß Gott nicht nur die Sachinformationen, die ich hatte, um dann ...

PiD: Was haben Sie noch so ins Gepäck mitgekriegt?

Herr S: Ich glaube, das Wichtige war, dass ich mir meiner Ressourcen bewusst werden konnte, die ich trotz allem noch hatte. Ich erinnere mich auch an den ganz konkreten Ratschlag: „Fahren Sie jetzt nicht nach Hause, sondern setzen Sie sich irgendwo in eine Eisdiele und genießen Sie ein bisschen, machen Sie diesen ausgesparten Zeitraum, der Sie jetzt schon hierher geführt hat, noch so ein bisschen weiter, bevor der Stress über Sie hereinbricht und suchen Sie diesen Punkt Lebensfreude auf, den man eigentlich überall und immer haben kann!” Das haben wir dann auch getan. Irgendwie habe ich das Gefühl vermittelt bekommen, dass wir das können. Professionalität habe ich auch erlebt in der Art des Zuhörens, in der Art des Nachfragens und auch in der Art des Spiegelns dessen, was man nicht gesagt hat. Es wurde nicht nur auf das reagiert, was man sagte, sondern da war auch jemand, der wahrnahm, was man nicht gesagt hatte, daran wie man etwas gesagt hatte, und der dann interessiert nachfragte - und das in so einer sympathischen Art, das war einfach goldrichtig für die Situation.

PiD: Dass Sie gespürt haben, Sie werden innerlich erreicht.

Herr S: Da hat jemand Interesse! Und das ist ein Eindruck, der sich in den Malen danach insofern noch verstärkt hat, weil auch Wochen danach, und ich ahne ja nicht, wie viele andere Klienten die in der Zwischenzeit betreuen, das in Erinnerung blieb, was wir gesagt hatten. Also man redet das nicht einfach nur in ein hörendes Ohr, sondern ...

PiD: ... das wird wirklich aufgenommen?

Herr S: Ja, das geht nicht verloren, findet eine Resonanz.

PiD: Wie war das für Sie, dass Ihre Frau mit dabei war?

Herr S: Es gab da manchmal Situationen, in denen wir richtig erschrocken, aber auch sehr erleichtert darüber waren, dass wir in der Situation eines solchen Gespräches uns gegenseitig Dinge gesagt haben, die wir uns sonst nie gesagt haben. Das war möglich in dieser Atmosphäre, ohne dass wir vorher irgendwie den Eindruck gehabt hätten, dass wir voreinander etwas verheimlichen. Aber dort war eine Atmosphäre, in der Dinge eben auch zum Tragen kamen, die dann vielleicht erstmalig gesagt werden konnten.

PiD: Wie hat Ihre Frau das Ganze erlebt?

Herr S: Für meine Frau ist die Situation natürlich noch anders. Viele Leute wissen heute, dass ich einen Suizidversuch gemacht habe. Es war Aufregung, alle möglichen Leute waren besorgt und haben sich Sorgen um mich gemacht. Meine Frau trifft dann einen befreundeten Kollegen von ihr, und der fragte sie: „Wie geht es deinem Mann?” Nicht: „Wie geht es dir?” Dabei war es für sie ja auch eine ganz extreme Situation. Aber ich stand im Mittelpunkt und alle benutzten sie als Nachrichtenübermittler, wie es mir geht und nur wenige fragten sie, wie es ihr eigentlich damit ging. Und während ich dann in Schuldnerberatungen stand, in einen gewissen Aktionismus kam, ich meine Berufe neu strukturierte, eine Psychotherapie begonnen habe und in dem Zusammenhang eine wahnsinnig aufregende Korrespondenz mit meinen Geschwistern zur Aufarbeitung von Familiengeschichten begann, also unheimlich viel Zuwendung bekommen hatte, hat für sie das Gegenteil stattgefunden. Da gab es manch einen, der überhaupt nicht verstand, dass sie auch Gesprächspartner braucht und jetzt weniger hatte, als vorher. Freunde mieden das Thema, tauchten ab. Sie hat gemerkt, dass im Zweifelsfall weniger Freunde da sind, als man vorher glaubte und ich hatte mehr, als ich vermutet hatte. Sie hat in gewisser Weise auch ihre Eltern dadurch verloren, weil die nicht verstanden, dass meine Frau weiter zu mir hielt. Da ist der Kontakt abgebrochen, und sie hatte weniger und weniger und weniger und ich hatte mehr und mehr und mehr, - und alles, weil ich so einen Unsinn gemacht hatte. Sie hatte das nicht gemacht und stand im Grunde genommen mit einer negativen Bilanz da.

PiD: Ja, sie war stark mit betroffen und gleichzeitig stand sie ganz im Schatten. Und ich verstehe Sie so, dass es wichtig war, dass sie hier auch wahrgenommen wurde.

Herr S: Ja. Und das tat nicht nur ihr gut, das tat auch mir gut, weil ich natürlich irre Schuldgefühle hatte, was ich ihr angetan hatte.

PiD: Es wäre eigentlich gut gewesen, sie wäre jetzt auch bei diesem Gespräch dabei.

Herr S: Ja, das wäre gut.

PiD: Mal eine provozierende Frage in dem Zusammenhang: Sie haben vorhin gesagt, wie gut es Ihnen getan hat, dass vom Krisenzentrum aus gesagt wurde, Sie könnten entscheiden, wen Sie mitbringen. Aber wenn man sich die Konstellation so vergegenwärtigt, wie Sie sie gerade geschildert haben, wäre es dann nicht auch gut, wenn das Krisenzentrum aktiv sagt: ‚Ja, das ist gut, bringen Sie Ihre Partnerin mit!’ Es könnte ja auch sein, dass in einer anderen Situation dann der Ratsuchende selbst entscheidet, die Partnerin zu Hause zu lassen und Sie haben gerade erzählt, wie wichtig es war, dass sie dabei war.

Herr S: Das ist vielleicht Spekulation, aber ich schätze die Leute hier so ein, dass die das spätestens nach dem ersten Gespräch vorgeschlagen hätten. Es war ja das erste Telefonat und so viel erzählt man am Telefon nicht, also das hätte ich in dem Moment auch nicht erwartet.

PiD: Ja, das heißt für Sie, in dem Moment war es für Sie erst einmal wichtig, dass Sie entscheiden durften. Wie ging es weiter, haben Sie diese 5 Krisensitzungen in Anspruch genommen?

Herr S: Ja.

PiD: Ja, und jetzt ist der Beratungsprozess hier abgeschlossen?

Herr S: Nein.

PiD: Nein?

Herr S: Also, die beiden Therapeuten haben wahrgenommen: erstens, dass es uns gut tut, zweitens, dass wir diese Situation auch in vollen Zügen in Anspruch genommen haben. Sie haben, glaube ich, auch wahrgenommen, dass in dem, was ich für mich jetzt alles arrangiert habe, ein guter Weg angebahnt ist, dass aber das, was wir hier gemeinsam erleben, noch nicht zu Ende ist. So haben sie uns angeboten, weitere 5 Termine zu machen. Das haben wir sehr, sehr gerne angenommen.

PiD: Ist das auch schön zu wissen, dass das nicht starr gehandhabt wird? Ich stelle mir vor, die 5 Termine sind eine Orientierung, auch ein Signal: „Die Arbeit hier ist endlich!” Und gleichzeitig ist das aber nicht ein Gesetz. Da kommen Sie dann noch zu zweit zu den beiden und nutzen das auch als Paarberatung?

Herr S: Ja, weniger Paarberatung, weil wir eigentlich als Paar keine Probleme haben. Wir sind auch durch die Ereignisse des letzten Jahres nicht in eine Partnerschaftskrise gekommen, wir sind einfach beide bis über beide Ohren berufstätig, haben zusammen 7 Kinder aus unseren Ehen, und da ist natürlich immer ziemlich Remmidemmi. Wir haben einfach eine gewisse Not, in all dem Trubel uns die Freiräume zu schaffen, die wir brauchen. Wir haben eine gewisse Not, wirklich in die Gesprächssituation zu kommen, um mit so etwas irgendwie umgehen zu lernen, und wenn man einen Termin hat, dann hat man einen Termin, wenn man zu Hause ist und sitzt nebeneinander, dann kommt jemand und …

PiD: ...dann kommt alles mögliche andere hinein, der Alltag

Herr S: Und das ist einfach …

PiD: Wenn Sie jetzt so den ganzen Prozess überschauen würden, vielleicht von Weihnachten bis heute, können Sie Phasen beschreiben?

Herr S: Weihnachten war Schock. Heute würde ich sagen, ich hatte nicht die Bereitschaft, diesem Schock wirklich ins Auge zu gucken, sonst hätte ich da schon anders gehandelt. Ostern habe ich gehandelt, als ich mir meines Lebenswillens bewusst geworden bin. Ich habe von meinen Berufen drei aufgegeben und damit die Situation herbeigeführt, die Schulden nicht mehr bedienen zu können. Ich bin in die Insolvenz gegangen bzw. habe zumindest den Antrag gestellt. Ich bin viele verschiedene Wege gegangen, es waren viele frustrierende dabei, ganz wichtig war sicher, dass ich eine Psychotherapie angefangen habe.

PiD: Der Tiefpunkt war Weihnachten?

Herr S: Ja.

PiD: Der Schockzustand und dann ...

Herr S:... dann hat sich das verläppert.

PiD: Dann hat sich das verläppert, und dann gab es Ostern sozusagen einen zweiten Tiefpunkt, den haben Sie ernst genommen und das war der Startpunkt?

Herr S: Eigentlich war der sogar ernster. Weihnachten war eine ganz affektive Handlung, eine irrationale Handlung. Ostern wusste ich schon eine Woche vorher, dass ich gehen würde. Ich wusste nicht genau wann, aber das kam wieder so hoch, ich hatte keine Strategie und ich wusste, irgendwas muss passieren, ich schaff das nicht im Alltag. Ich konnte ja meiner Frau gegenüber nicht offen sagen: „Du hör' mal, ich überleg', ob ich mir nicht doch das Leben nehmen soll” - denn dann hat man ja schon beschlossen, es nicht zu tun. Es war im Grunde genommen eine viel bewusstere Entscheidung in einer Situation, die ähnlich erschöpft und ähnlich irrational war wie die andere, aber es war eben eine vorsätzliche Tat. Ich habe gewusst, wie ich mir das Leben nehmen würde, untergründig hat das weiter gearbeitet und im Grunde genommen war das die ernsteste Situation. Weihnachten hätte es wirklich beinahe daneben gehen können, aber von der inneren Dynamik her war es Ostern ernster, gefährlicher.

PiD: Der eigentliche Tiefpunkt.

Herr S: Der eigentliche Tiefpunkt. Und die größte Stufe nach oben war aber die, diesen Lebenswillen wahrzunehmen.

PiD: Wie Sie da im Hotel gesessen haben und geschrieben haben?

Herr S: Tiefpunkt und Entscheidung, dieser Schritt nach oben gleichzeitig. Und dann begann dieser Aktionismus, der auch hier Erstaunen hervorgerufen hat. Nach den ersten beiden Sitzungen konnte ich sagen: „So, der Antrag ist gestellt, ich war beim Anwalt, ich war bei Schuldnerberatungsstellen, habe da meinen Irrgarten durchlaufen und habe einen Termin bei einem Psychotherapeuten!” Nachdem die mir gesagt haben, rechnen Sie damit, ein Dreivierteljahr dauert das bestimmt, bis Sie einen Termin kriegen!

PiD: Also das war der Entscheidungspunkt. Ist ja auch ein prägnantes Bild, wie Sie da am Laptop sitzen und unten in der Bilanz steht: „Ja, ich will leben!” Und wenn das anders ausgegangen wäre, hätten Sie den anderen Weg gewählt?

Herr S: Ich war überrascht von mir.

PiD: Haben Sie sich gefreut über das Ergebnis?

Herr S: Das ist eine schwere Frage. Also es war nicht plötzlich ein Glücksmoment, sondern es war irgendwie ein zur Kenntnis nehmen, dass jetzt ein schwerer Weg anfängt, und die Freude ist in dem Moment nicht im Vordergrund gewesen. Wissen Sie, ich hatte eigentlich immer ein harmonisches Selbstbild oder Weltbild, oder wie man das nennen möchte, und jetzt habe ich eines, das viele Risse und Abgründe anerkennt, und das ist nicht unbedingt einfacher.

PiD: Aber ehrlicher?

Herr S: Ehrlicher, und das ist gut, aber auch schmerzhaft. Dieser Schmerz enthält auch ein Stück Glück, aber es ist jetzt nicht irgendwie so, dass ich mich freuen würde.

PiD: Wenn Sie an den gesamten Prozess im Krisenzentrum denken, gab es da auch irgendetwas, wovon Sie im Nachhinein sagen würden: „Ach, das wäre besser nicht gesagt worden, das wäre besser nicht gefragt worden, das wäre besser nicht getan worden von Seiten der Helfer”?

Herr S: Also spontan fällt mir da nichts ein. Es war nicht jedes Mal von derselben Qualität, am Anfang sicherlich mehr, als die Entlastung im Vordergrund stand, dieses Bewusstsein: „Da sind Menschen, die interessieren sich!”, die Bestätigung, wenn man merkt, man fängt nicht jedes Mal wieder von vorne an. Nachdem sich manche Dinge strukturiert hatten, war der Druck nicht mehr so groß und die Gespräche hatten eine andere Qualität. Aber die haben es wirklich verstanden, jedes Mal einen Schritt weiterzukommen!

PiD: Wie viel Abstand lag zwischen den Gesprächen?

Herr S: Mal eine, mal zwei Wochen, jetzt ist es ein bisschen länger, weil Urlaubszeit ist, aber es war erst mal wöchentlich, wenn es nicht ging, alle zwei Wochen. Es war wichtig, dass die Treffen nicht so weit gestreckt waren. Dadurch blieb alles ganz anders im Bewusstsein, was gesprochen worden war.

PiD: Gab es denn eine Situation, in der Sie sich geärgert haben über die beiden? Ist Ihnen nicht auch einmal etwas „schwer runter” gegangen? Eine Konfrontation vielleicht?

Herr S: Hm, ich möchte aufrichtig sein. Und meistens, wenn man ehrlich antwortet, fällt einem was ein, aber mir fällt im Moment nichts ein. Nein, es gab sogar einmal einen kleinen Streit im Auto zwischen meiner Frau und mir, als ich zu ihr sagte: „Die mögen dich aber gerne!”, weil es eine Zeit lang sehr intensiv um sie ging und ich einfach in dem Nachfragen für sie eine Sympathie sah. Und sie hat gesagt: „Nein, dich mögen sie viel lieber!” Es war eine Art Wettstreit, den wir da miteinander hatten. Es blieb zwar immer professionell, nie gab es eine anbiedernde oder Grenzen überschreitende Seite, aber wir fühlten uns angenommen. Das führte zu diesem Eindruck, Mensch, denen macht das auch Freude, mit uns zu arbeiten. Und das hatte ich auf sie bezogen, sie hatte es auf mich bezogen und dann mussten wir beide lachen, weil wir damit evident das vor Augen hatten, was sie uns vorgehalten haben, dass wir uns selber immer weniger wertschätzen als den anderen und das hatte sich plötzlich für uns bestätigt.

PiD: Eine letzte Frage: Gibt es irgendetwas, was Sie sich selber fragen würden, wenn Sie sich interviewen würden, etwas, das ich Sie noch nicht gefragt habe?

Herr S: Also jetzt kann man natürlich sagen, das war eine Krise und es ist ein langer Weg, den ich da zu gehen habe. Wenn man jetzt fragt, welche Bedeutung für den gesamten Prozess hat das, was hier stattgefunden hat, dann muss ich natürlich sagen, dass die Hauptarbeit nicht hier stattfindet. Die findet in der Psychotherapie statt, die ich begonnen habe. Das geht da wirklich echt zur Sache und das, was hier stattgefunden hat, hatte einen begleitenden, auf den Weg bringenden Charakter.

PiD: Weichen stellen.

Herr S: Ja, Weichen stellen, und das ist natürlich elementar, und trotzdem erlebe ich das, was hier passiert ist, als einen Weg, den ich persönlich gegangen bin und der die Grundlage gelegt hat für die eigentliche Arbeit. Für meine Frau hat das sicherlich noch einen höheren Stellenwert, weil sie zumindest bislang nichts anderes hat und deswegen die Arbeit hier doch stark im Vordergrund steht. Ich bin ihr absolut unendlich dankbar. Es gab manchmal auch Situationen, da saßen wir betroffen und schweigend im Auto, aber auch das war dann gut. Ich hatte nie den Eindruck, dass hier etwas provoziert wurde, was nicht aufzufangen war. Daher finde ich das, was hier geschah, hoch professionell. Gut war übrigens auch immer, dass die beiden oft, wenn es eigentlich schon zu Ende war, sagten: „Wir gehen jetzt 5 Minuten raus und besprechen uns!” und dann kamen sie noch einmal wieder, hatten noch mal auf den Gesprächsverlauf geschaut, hatten sich überlegt, wie sie uns jetzt entlassen konnten, welchen Kommentar oder Ratschlag oder welche Hausaufgabe sie uns bis zum nächsten Mal geben konnten. Das hat diesen Eindruck verstärkt, dass wir nicht eine Nummer sind, und das war gut.

PiD: Das ist ein schönes Schlusswort, herzlichen Dank für das Gespräch.

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