Psychother Psychosom Med Psychol 2003; 53(1): 3-6
DOI: 10.1055/s-2003-36483
Gasteditorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Warum das Adjektiv „psychosomatisch” nicht verschwindet: Das Problem des Zusammenhangs von Geist, Gehirn und Körper

The Continued Existence of the Term „Psychosomatic”: The Complex Relation Between Mind, Brain and BodyHerbert  Weiner †Übersetzung aus dem Amerikanischen von Irmela Köstlin
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Publication Date:
03 January 2003 (online)

Der Begriff „psychosomatisch” hat schon viele Diskussionen ausgelöst, weil er dazu beiträgt, dass die (dualistische) Spaltung zwischen Geist und Körper beibehalten bleibt. Aber das Adjektiv besteht weiterhin, trotz des Unbehagens, das es bei vielen auslöst. Es besteht weiter, wie sehr auch die besten Köpfe auf den Gebieten der Neurowissenschaften, der kognitiven Psychologie und der Philosophie versucht haben, die Spaltung zu überwinden; es gilt, die Gründe dafür deutlich herauszuarbeiten. Auch haben sich unsere Konzepte davon, was Körper sind, in den letzten 400 Jahren radikal verändert; aber diese Veränderungen finden in den Diskussionen über die Verwirrung, die im Hinblick auf die Zusammenhänge von Geist, Gehirn und Körper herrscht, in der Regel keinen Niederschlag.

Der Grund dafür, dass die Spaltung zwischen Geist und Gehirn und zwischen Geist und Körper fortbesteht, ist darin zu suchen, dass das Problem, wie geistige Dinge - Erfahrungen, Absichten, Gedanken, Gefühle, das Bewusstsein des eigenen Selbst und das Bewusstsein äußerer Objekte (allesamt Eigenschaften) - mit körperlichen, materiellen Dingen wie Gehirnen und Körpern in Beziehung gesetzt werden können, nicht gelöst worden ist [1].

Physische Dinge sind nicht einfach Strukturen, sondern Materie und Energie, Kräfte und Felder, die mithilfe des kausalen Denkens erklärt werden. Sind auch geistige Dinge nichts anderes als Materie und Energie? Bewirken sie etwas? Wenn das nicht der Fall ist, worin besteht dann die Beziehung zwischen geistigen und physischen Ereignissen? Aber geistige Dinge scheinen keine materiellen Objekte zu sein. Wie also kann das Gefühl der Angst den Herzschlag und die Atemzüge beschleunigen, den Blutdruck erhöhen, zu einem trockenen Mund und zur Absonderung von Ephedrin führen? Oder wie kann, was von manchen behauptet worden ist, das Umgekehrte passieren?

Wir können dazu nicht mehr sagen, als dass es zwischen der Angst und diesen körperlichen Veränderungen eine Wechselbeziehung gibt. Aber eine Wechselbeziehung ist keine Erklärung. Die Wechselwirkung könnte zeitlicher, aber nicht kausaler Art sein, oder sie könnte zufällig auftreten, oder es könnte sich nur um eine scheinbare Wechselbeziehung handeln, oder beides, die Angst und die körperlichen Veränderungen, könnten das Ergebnis einer dritten, unbekannten Reihe von Variablen sein.

Wenn wir das Problem des Zusammenhangs zwischen Geist und Körper lösen wollen, müssen wir nach einer Erklärung suchen, die deutlich macht, in welcher Weise die Wechselbeziehung kausal bedingt ist. Sind Gefühle oder Gedanken Kräfte? Wie gelingt es einer Person, eine Bewegung absichtlich auszuführen? Glieder bewegen sich und Muskeln ziehen sich zusammen, weil wir es ihnen befehlen; darüber sind wir uns einig. Aber jenseits dieser Übereinkunft gibt es keine Erklärung.

Viele, die dieses Problem untersuchen, wählen einen einfachen Ausweg. Geistige Dinge sind einfach Dinge, die mit dem Gehirn zu tun haben - Produkte des Gehirns. Das Gehirn ist wie jedes andere materielle Organ die Manifestation von Materie und Energie - oder von deren Funktionen.

Aber das Rätsel, wie Gefühle in funktioneller Hinsicht erklärt werden können, bleibt ungelöst. Wenn wir es lösen könnten, wären sie mit dem Erklärungsmodell Materie = Energie kompatibel. Aber wir können es nicht. So können wir zwar das Feuern der Neuronen im motorischen Teil der Hirnrinde während einer Bewegung aufzeichnen, aber wo ist der Wille, der die Bewegung auslöst?

Warum haben wir das Gefühl der Angst oder des Schmerzes? Angst kann man biologisch als Signal verstehen für eine Gefahr, die das Überleben und infolgedessen die Fortpflanzung bedroht. Tiere und Menschen lernen es, gefährliche Situationen, die in der Zukunft eintreten können, zu vermeiden. Wenn sie Angst haben, laufen sie vor der Gefahr davon oder sie bekämpfen sie oder sie erstarren oder sie ergeben sich dem bedrohlichen Gegner oder sie verhandeln mit ihm. Die Angst korreliert mit den physiologischen Veränderungen, die wir bereits umrissen haben und die wir ihrerseits dahingehend interpretieren können, dass sie jene körperlichen Ressourcen mobilisieren, die gebraucht werden, um die Abwehr zu organisieren. Wir können also die Verhaltensweisen und die physiologischen Manifestationen des erschreckten Individuums beschreiben und verstehen sowie die Berechnungen, die das Gehirn vornimmt, um zu lernen und Dinge im Gedächtnis zu speichern; aber nichts davon erklärt, dass die Angst als Gefühl wahrgenommen wird. Die funktionellen Erklärungen der physiologischen Erscheinungen sowie des Verhaltens, des Lernens und des Speicherns von Erinnerungen lassen jedoch das Gefühl der Angst außen vor. Aber wir sind nicht bloß gefühllose Automaten, wie einige der Autoren, die sich mit dem Thema befasst haben, uns glauben machen wollen. Andere Autoren nähern sich dem Gefühl des Selbst, indem sie aus den pathologischen Abweichungen (Schlafwandeln, Automatismen) des Gefühls Rückschlüsse auf eben dieses Gefühl ziehen [2]. Aber derartigen Schlussfolgerungen fehlt es an Überzeugungskraft: Kann man ein Gefühl verstehen, indem man sich mit Situationen befasst, in denen es ausgeschaltet ist?

Wieder andere Autoren, die in jüngster Zeit etwas zu diesem Thema publiziert haben, stellen die Behauptung auf, die funktionellen neuronalen Netzwerke korrelierten mit den Gefühlen [3] oder Absichten, und es handle sich dabei um ein und dasselbe. Sie glauben, die Korrelation bedürfe keiner weiteren Erklärung.

Wir können daraus also nur den Schluss ziehen, dass Gefühle einfach da sind. Bei ihnen kommen funktionelle Erklärungen, wie sie bei den materiellen Dingen üblich sind, überhaupt nicht in Betracht. Es ist unmöglich zu verstehen, wie sie Materie überhaupt in Bewegung setzen - wie sie Dinge tun können. Es fehlt ihnen an kausaler Kraft, sie widersetzen sich einer Erklärung. Deshalb bleibt uns das Problem, in welchem Verhältnis Geist und Körper zueinander stehen, erhalten.

Das Gefühl der Angst ist grundlegend für die Selbsterhaltung. Aber wir können es nicht erklären. Sobald wir uns mit komplexeren Ebenen des geistigen Funktionierens befassen - zum Beispiel mit der Fähigkeit, die sowohl Tieren wie Menschen eigen ist, die Absichten des anderen zu erfassen, indem sie deren Handlungen beobachten - wird das Rätsel noch dunkler. Wie kommt es zu solchen Zuschreibungen? Sie gründen zum Teil auf der genauen Wahrnehmung und Unterscheidung zwischen den verschiedenen Haltungen und körperlichen Bewegungen anderer Kreaturen, den verschiedenen Formen ihres emotionalen (Gesichts-) Ausdrucks und der Laute (zum Beispiel Knurren, Kläffen, Bellen), die sie ausstoßen. Das Überleben eines Tieres hängt von seiner Fähigkeit ab, solche Signale zu identifizieren und zu interpretieren und sie von anderen Arten der Bewegung, des Ausdrucks und der Laute zu unterscheiden, die Raubtiere, Beutetiere, Rivalen und Sexualpartner zeigen; nur so kann es ihre zukünftigen Vorgehensweisen vorausberechnen, deren Konsequenzen unterschiedlicher Art und in manchen Fällen fatal sein können, sofern sie nicht richtig interpretiert werden [4].

Nicht einmal die Erfindung neuer Techniken, mit denen die Aktivität des Gehirns bildlich aufgezeichnet werden kann, konnte die Verwirrung lösen, die im Hinblick auf das Verhältnis von Geist und Gehirn unter den Wissenschaftlern herrscht. Die Entwicklung der Positronenemissionstomographie (PET) und der funktionellen Kernspindarstellung (fMRI) hat es ermöglicht, die Veränderungen der Sauerstoffaufnahme und des Blutflusses in darstellbaren Regionen des Gehirns zu messen, während die Untersuchungspersonen mit einfachen und komplexen Reizen und Aufgaben konfrontiert sind oder Probleme lösen oder Schmerz, Angst oder Sorge erleben. Es bleiben noch viele ungelöste Probleme mit Blick auf die Bedeutung und die Validität von Untersuchungen, die mit Hilfe von PET und fMRI durchgeführt wurden. Dennoch hat man sie aufgrund ihrer besonderen Konfigurationen bei der Untersuchung jener Gehirnregionen angewendet, die aktiviert werden, sobald ein Beobachter bedeutsame Bewegungen, Geschlecht, Persönlichkeitsmerkmale und Gefühle einer anderen Person registriert. Diese Neuronen waren am ventralen Wall des hinteren Teils des oberen temporalen Sulkus (STS) auf beiden Seiten, aber mehr auf der rechten als auf der linken Seite des Gehirns, lokalisiert, während die Neuronen auf dem linken intraparietalen Sulkus durch die Hand-, Augen- und Mundbewegungen der anderen Person aktiviert wurden [4]. So weit, so gut.

Es ist allgemein anerkannt, dass die visuelle Wahrnehmung von Bewegung sich auf spezialisierte Gruppen von Neuronen stützt, während andere auf Formen, Farben, Kanten usw. von wahrgenommenen Objekten reagieren. Aber diese Information sagt nichts darüber aus, wie es dazu kommt, dass Absichten wahrgenommen und hinsichtlich der Bewegungen bestimmte Zuschreibungen gemacht werden. Es wird behauptet, die Wahrnehmung von Bewegung komme dadurch zustande, dass der Beobachter seine bzw. ihre eigenen Bewegungen kennt und damit Erfahrungen gemacht hat, wie auch durch andere Formen geistiger Akte - Erfahrungen, Absichten und Attributionen. Wie können materielle Objekte, wie Neuronen, Schlussfolgerungen ziehen, Zuschreibungen machen und die Ziele und Absichten der Bewegungen, die andere Personen vornehmen, bewusst wahrnehmen? Und wenn sie die Zuschreibung gemacht haben, dass die Bewegung möglicherweise bedrohlich ist, wie setzen die Neuronen ihre eigenen Absichten in Handlung um? Auch jetzt stehen wir wieder vor der Frage, ob ein geistiger Akt etwas bewirken kann. Ein weiteres Mal haben wir neuronale Aktivität und Handlung in eine Wechselbeziehung gebracht, haben aber keinen Beweis dafür, dass zwischen ihnen eine kausale Beziehung besteht.

Noch rätselhafter ist, dass menschliche Beobachter, die ein Video mit bewegten geometrischen Objekten (zum Beispiel Dreiecken) betrachteten, ihnen in der Regel geistige Zustände - Absichten oder einfache Handlungen - zuschrieben. Der STS, aber auch der mediale Anteil der Vorderhirnrinde, war während dieses Experimentes aktiviert [5]. Interessanterweise waren die medialen Anteile der Vorderhirnrindenneuronen bei den menschlichen Untersuchungspersonen ständig aktiviert, solange sie über geistige Zustände bei sich selbst, egal welcher Art diese Zustände waren, oder bei anderen nachdachten.

Heißt das, dass diese Neuronen die geistigen Zustände sind? Auch hier muss die Antwort lauten, dass die Neuronen Korrelate der geistigen Zustände sind; weiter können wir nicht gehen.

Literatur

  • 1 Harnad S. No easy way out.  The Sciences. 2001;  41 36-42
  • 2 Dimasio A. The feeling of what happens. New York; Harcourt Brace and Co 1999
  • 3 Edelman G M, Tononi G. A universe of consciousness. New York; Basic Books 2000
  • 4 Blakemore S-J, Decety J. From the perception of action to the understanding of intention.  Nature Rev Neurosci. 2001;  2 561-570
  • 5 Castelli F, Happe F, Frith U. et al . Movement and mind: a functional imaging study of perception and interpretation of complex intentional movement patterns.  Neuroimage. 2000;  12 314-325
  • 6 Levin D M, Solomon G F. The discursive formation of the body in the history of medicine.  J Med Philosophy. 1990;  15 515-537
  • 7 Weiner H. The dynamics of the organism: implications of recent biological thought for psychosomatic theory and research.  Psychosom Med. 1989;  51 608-635
  • 8 Mayr E. The growth of biological thought: diversity, evolution, and inheritance. Cambridge, MA; Belknap Press, Harvard University 1982

1 von Rad M. „Der Beitrag der Psychoanalyse zur Medizin - Ausgewählte Forschungsergebnisse Herbert Weiners (statt einer Laudatio)”. Psychother Psych Med 1989; 39: 91 - 95

Nachruf

Es war schon im Krankenhaus im März letzten Jahres, als mir Herbert Weiner „etwas zum Lesen” in die Hand drückte, was dann später in der PPmP erscheinen konnte. Er war seit 15 Jahren im wissenschaftlichen Beirat unserer Zeitschrift und hat diese Aufgabe beratend und mit ungezählten eigenen Texten und Editorials sehr ernst genommen. In Wien geboren, vor den Nazis emigriert und im Alter immer häufiger nach Europa zurückgekehrt, hat er wie kein anderer die Psychosomatik sowohl in den USA als auch in Deutschland geprägt und vorangetrieben. Von den zahllosen Ehrungen haben ihm zwei viel bedeutet: die Ehrendoktorwürde der TU München[1] und der seinen Namen tragende „early career award”, der von der American Psychosomatic Society vergeben wird. Herbert Weiner ist am 12. November 2002 in seinem Haus in Los Angeles gestorben.

Herausgeber und Redaktion der PPmP verneigen sich in tiefer Dankbarkeit vor einem der ganz Großen unseres Fachgebietes.

Michael v. Rad, München

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