Rehabilitation (Stuttg) 2002; 41(4): 268-273
DOI: 10.1055/s-2002-33268
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Das SGB IX in der Entwicklung des Sozialrechts[1]

The SGB IX, Book 9 of the German Social Code, in the Development of Social Security LawF.  Welti
  • Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in Europa der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
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Publication Date:
08 August 2002 (online)

Zusammenfassung

Das SGB IX ist seit 2001 gesetzliche Grundlage der Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe in der Bundesrepublik Deutschland. Es fügt sich ein in die Gesamtkodifikation des Sozialgesetzbuchs und hat dort eine mittlere Stellung zwischen den allgemeinen Teilen und den besonderen Leistungsgesetzen der einzelnen Rehabilitationsträger. Die Rehabilitation in Deutschland ist in einem gegliederten System aus verschiedenen rechtlichen, institutionellen und wissenschaftlichen Wurzeln gewachsen. Hierzu gehören insbesondere die Entschädigung der Opfer von Arbeitsunfall und Krieg und die Vermeidung von Rentenleistungen durch Aktivierung. Die Ungleichbehandlung von behinderten Menschen nach Ursache der Behinderung und Erwerbsstatus wird immer weniger akzeptiert; gemeinsame Prinzipien der Rehabilitation werden gesucht. Bedeutende Reformen zur Vereinheitlichung des Rehabilitationsrechts waren 1974 und 1975 insbesondere das Reha-Angleichungsgesetz, das Schwerbehindertengesetz und das SGB I. In den letzten Jahrzehnten wurden vor allem Probleme der Umsetzung und der Schnittstellen deutlich. Das SGB IX ist ein neuer Ansatz für ein gemeinsames Rehabilitationsrecht. Offene Fragen sind dabei das Verhältnis zur Akutbehandlung, zur Pflege und zur Prävention. Wichtig sind die neuen Begriffe Teilhabe und Behinderung, die das SGB IX mit dem Verfassungsrecht und der Gesundheitswissenschaft verbinden. Ein gesetzlicher Schwachpunkt bleibt dabei das Verhältnis von Alter und Behinderung. Bestrebungen für ungleiche Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung gefährden den erreichten Stand des Rehabilitationsrechts.

Abstract

The SGB IX is the legal basis of rehabilitation in Germany since 2001. It is embedded in the codification of the German social code, the Sozialgesetzbuch (SGB). There it has an intermediate function between the general social law and the special laws of the social insurance and social security institutions. Rehabilitation in Germany is working in a system of several different institutions with different legal roots. In special these are compensation of damages caused by employment accident and war and the avoidance of disability benefits by rehabilitation and activation. Inequality of treatment of disabled people according to the cause of their disability and to their employment status are accepted less; common principles of rehabilitation are being searched. Important reforms of rehabilitation law have taken place in 1974 and 1975. Since then problems have become visible in implementation and in the coordination of the complex system. SGB IX is a new effort for a general rehabilitation law. Open questions remain in handling the relations between rehabilitation and sickness treatment, long term care and prevention. Important are the newly defined terms for participation (Teilhabe) and disability (Behinderung), which build the linkage of SGB IX with constitutional law and with the health sciences. A weak point is still the relation of disability and age. Political attempts for unequal benefits in health insurance endanger the now reached level of rehabilitation law.


1 Überarbeitete Fassung eines Vortrags beim „Forum Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik: Das SGB IX ist ein Jahr in Kraft”, Veranstaltung auf Einladung des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen am 2. Juli 2002 in Berlin.

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1 Überarbeitete Fassung eines Vortrags beim „Forum Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik: Das SGB IX ist ein Jahr in Kraft”, Veranstaltung auf Einladung des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen am 2. Juli 2002 in Berlin.

2 Vgl. BVerfG SozR 3-3870 § 3 Nr. 6 = NJW 1995: S. 3049.

Dr. Felix Welti

Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in Europa der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Olshausenstraße 40

24098 Kiel

Email: fwelti@instsociallaw.uni-kiel.de

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