Sprache · Stimme · Gehör 2002; 26(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-2002-23123
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Editorial

Ein Vorwort - und etwas mehrEditorialS. Behrendt1
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Publication Date:
25 March 2002 (online)

Um das riesige, wenn auch unverhältnismäßig spärlich beackerte Feld der Stimme annähernd zu seinem Recht kommen zu lassen, bedürfte es mehr Platz als dieses Heft anbieten kann. Die Einschränkung durch unser zweites Stichwort, die Psyche, schließt zwar organische Erkrankungen der Stimme im Prinzip aus, eröffnet aber das Gebiet in der anderen Richtung ins schier Unendliche. Ist die Zeit vielleicht sogar reif, den Begriff der „Psychophoniatrie” einzuführen, wie er uns analog aus der Psychosomatik, Psychoonkologie u. a. längst vertraut klingt? Wir wollen das Rad nicht neu erfinden, aber reicht das Basiswissen der Psychosomatik aus, um den spezifischen, symptom-nahen Kenntnissen über Stimme, Sprache und Hören gerecht zu werden? Wie schnell kann die Phoniatrie zu einer reduktionistischen Wissenschaft schrumpfen, wenn sie sich nicht mit den Ursachen ihrer Krankheitsbilder beschäftigt - so z. B. mit Suchtphänomenen wie dem Rauchen oder Trinken? Gibt es Reinke-Ödeme ohne chemische Überstimulierung? Oder wie wollen wir der im italienischen Volksmund so treffend bezeichneten „voce di grappa” zu Leibe rücken, ohne uns um die Lebensumstände des „Kranken” zu kümmern? Und wie werden wir einer heiseren Stimme gerecht, wenn unser Augenmerk nicht geschult auf die Stimmbeanspruchung des Sprechberuflers gelenkt ist . . .? Dies sind nur einige aus einer Fülle sinnvoller Fragen.

Um dem Vorwurf eines willkürliches Eklektizismus entgegen zu wirken, möchte ich Ihnen als LeserInnen ein etwas aufwändigeres Editorial zumuten, in dem ich sozusagen ersatzweise skizziere, womit sich eine Psychophoniatrie in Hinblick auf die Stimme beschäftigen sollte. Als Metapher für ein Ordnungsprinzip könnten wir uns einen „Wissenschaftsbaum” vorstellen, der verschiedenen Abstraktionsniveaus gerecht wird[1] [1]. Auf der Metaebene (im Wipfel des Baumes) geht es um Erkenntnistheorien von großer Reichweite, die zum tieferen Verständnis der uns begegnenden Stimmphänomene beitragen wie naturwissenschaftliche Grundlagen, Evolutionstheorie, neurobiologische Wissenschaften oder Philosophie des Bewusstseins, Kommunikations- und Beziehungstheorien, Gesellschaftstheorien, anthropologische und ethische Modelle aber auch Überlegungen zur Prophylaxe und politischen Repräsentation unseres Faches, die in ihrem jeweiligen Fortschritt für die Stimme nutzbar gemacht werden können. Hierher gehören z. B. die momentan rasant anwachsenden Erkenntnisse im Bereich der Hirnforschung, Lerntheorien so wie andere psychologische und psychotherapeutische Grundlagenkenntnisse; dann klassische Theorien über verbale und averbale Kommunikation, modeabhängige Phänomene oder ethische Überlegungen, welche Methoden vielleicht wirksam sind, aber nicht den Standards unserer Humanität entsprechen. Auch politische Fragen, z. B. von chemischer Luftverschmutzung bis zur Lärmbelästigung hätten hier ihren Platz, genau so wie die Behandlungsentgelte, bei denen Kürzungen nicht auf Ineffektivität, sondern auf eine schlechte Lobby zurückzuführen sind.

Auf der mittleren Ebene des Baumes (dem Stamm) wären stimmspezifische Theorien aus Diagnostik und Therapie anzusiedeln. Die verschiedenen Krankheitsbilder hätten hier ihren Platz: Wodurch ist die psychogene Aphonie von der Dysphonie zu unterscheiden? Wie psychisch ist die Spasmodische Dysphonie, das Kontaktgranulom, die Inkomplette Mutation usw. Hier wäre auch eine Darstellung des historischen Wandels der zeitbedingt herrschenden Wissenschaften hochinteressant. Der Hysterie-Begriff bei Sigmund Freud, in seinen Falldarstellungen öfter mit Stimmlosigkeit verknüpft, hat in der psychoanalytischen Literatur eine Laufbahn ständiger Differenzierungen und Veränderungen erfahren und wird in der neueren Literatur wegen seines diskriminierenden Charakters eher vermieden. Auch die „Psychogene Stimmstörung” scheint für die Therapiemotivation und den Heilungsprozess im Umgang mit den PatientInnen ein kontraproduktiver Begriff geworden zu sein, so dass er nicht mehr einheitlich verwendet wird. Die Diagnostiker orientieren sich in der Regel anders als die Therapeuten, was wiederum mit verschiedenen Berufsgruppen einhergeht, die mit Stimme arbeiten. Sie alle haben implizite oder explizite Theorien, von denen sie sich leiten lassen.

In den logopädischen Therapien steht die Stimme und der Körper im Vordergrund, doch gibt es eine Reihe sehr unterschiedlicher Verfahren, die sich aus verschiedenen Vorstellungen ableiten. Sie sind z. T. in Handbüchern und Monographien dargestellt [2], [3]. Fast allen ist die Orientierung am Paradigma der Ganzheitlichkeit gemein, wobei konkret die Ausrichtung auf die Psyche eingeschlossen ist, was immer man darunter versteht.

Deshalb kommt den Psychotherapietheorien und -schulen eine große Bedeutung zu. Es könnte aufschlussreich sein, die theoretischen Implikate verschiedener Psychotherapieschulen hinsichtlich ihrer Beachtung der Faktoren zu untersuchen, die an der Stimmgebung beteiligt sind, so z. B. die Körperorientierung oder die kommunikativen oder emotionalen Aspekte, um nur einige zu nennen. Bei der unübersehbar großen Anzahl von Therapieverfahren, die häufig in Kliniken und Nachsorgeeinrichtungen praktiziert werden, müsste man die sog. Richtlinienverfahren (Psychoanalyse, Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, Verhaltenstherapie) besonders unter die Lupe nehmen, denn nur diese werden von den Kassen finanziert. Welche Aspekte der gestörten Stimme finden hier Beachtung?

Und von da kommen wir zu der praxeologischen Basis unseres Baum-Schemas. Der Erfahrungsschatz der Logopädie und verwandter Verfahren ist sehr groß. Schwieriger ist es, ihn zu beschreiben und zu beforschen. Es wäre auch äußerst interessant, auf die Suche nach PsychotherapeutInnen jeglicher Provenienz zu gehen, die in der Behandlung von Stimmstörungen Erfahrungen gesammelt haben und diese in Fallbeispielen oder in einer Evaluationsstudie übermitteln würden. Doch scheint selbst an Universitätskliniken kaum das nötige Zahlenmaterial für statistisch verwertbare, verallgemeinerbare Aussagen zu existieren, einmal, weil PsychotherapeutInnen in Phoniatrien eine Rarität darstellen, zum andern auch wegen geringer Patientenzahlen - wenn man diese beispielsweise mit Psychiatrischen oder Psychosomatischen Kliniken vergleicht. Außerdem trifft der Stress der Versorgung oft ineffektivierend auf die Lust am Forschen. Dies gilt erst recht für die niedergelassenen PsychotherapeutInnen, die StimmpatientInnen eher als „seltene Orchideen” zu sehen bekommen, wenn sie überhaupt etwas mit ihnen anfangen können.

Zur Theorie der Praxis gehören dann auch Fragen des Behandlungs-Settings wie ambulante oder stationäre Therapie, die Reihenfolge der Behandlungsschritte und Beteiligung der verschiedenen Berufsgruppen, Einzel- oder Gruppentherapie oder andere Indikationsfragen. Auch Überlegungen zur Supervision und zum interdisziplinären Austausch sind für die Phoniatrie noch weit entfernt von sinnvollen Standards.

Bei der Fülle der hier nur grob skizzierten Aspekte zu Stimme und Psyche haben wir nur einige herausgreifen können. In diesem Heft liegt der Schwerpunkt bei der „psychischsten” aller Stimmstörungen, der Psychogenen Aphonie. Die drei, mit psychogenen Stimmstörungen am meisten befassten Berufsgruppen bilden mit vier Artikeln den Kern des Heftes. Als Phoniater hat Prof. W. Seidner eine Befragung unter seinen deutschen Kollegen durchgeführt und ausgewertet, mit der er ursprünglich einen Konsens dieser Berufsgruppe im Umgang mit der Psychogenen Aphonie anstrebte. Auf der Tagung des Berufsverbandes der Phoniater 1999 kam zwar dieser Konsens nicht zustande, wohl aber eine erfreulich lebendige Diskussion, die der Vielfalt der Aspekte eher gerecht wird. Zu demselben Krankheitsbild hat Dr. N. Graf v. Waldersee als Praktiker sehr konkret-sinnlich den phoniatrischen Eingriff u. a. des Würgreflexes beschrieben und dabei sein Augenmerk auf die verletzbare Psyche des Patienten gelenkt. In meinem Artikel versuche ich als Psychotherapeutin einige Fallbeispiele zu umreißen, anhand derer ich verschiedene Konzepte aus unterschiedlichen Psychotherapierichtungen darstelle. Diese können im diagnostischen Prozess als Hintergrundsschablone zu einem tieferen Verständnis der Aphonie genutzt werden, auf das sich dann eine Therapie aufbauen lässt. Ebenfalls an einem Fallbeispiel stellt Frau M. Clausen-Söhngen ihr logopädisches Vorgehen dar, wobei sie Begriffe aus ihrer Zusatzausbildung in einem psychotherapeutischen Verfahren, der Transaktionsanalyse für die Stimmbehandlung fruchtbar macht.

Da es mir immer ein besonderes Anliegen war, die Wissenschaft aus ihrem Elfenbeinturm zu befreien, freue ich mich sehr über die beiden weiteren Beiträge zum Thema: durch Zufall traf ich während der Vorbereitung dieses Heftes auf eine Betroffene (Pseudonym: Weisenseel), die ohne phoniatrische und psychotherapeutische Hilfe den Verlauf ihres Stimmverlustes und den Wiedergewinn ihrer Stimme beschreibt. Die Stimmlosigkeit selbst wurde als schmerzhafte Katastrophe erlebt, hinter der dann die Erkenntnis von Ohnmacht und vieler „heruntergeschluckter” Verletzungen langsam zu einer veränderten Haltung sich selbst gegenüber führten. Dass dabei eine liebevolle Umgebung zur Stützung und zur Überwindung des Stimmverlusts beitrug, ist offensichtlich und leider eher selten anzutreffen. Den Beitrag von Frau K. Dilling, ebenfalls Logopädin und zusätzlich Literaturwissenschaftlerin möchte ich mit dem Zitat des Schriftstellers E. Strittmatter kommentieren: „Ich stehe nicht an, Dichtern genauso zu traun wie Wissenschaftlern, weil ich erfuhr, dass in jedem echten Wissenschaftler ein Poet und in jedem echten Poeten ein Wissenschaftler steckt, und die echten Wissenschaftler wissen, dass ihre Hypothesen dichterische Ahnungen sind, und die echten Dichter wissen, dass ihre Ahnungen unbewiesene Hypothesen sind, und weder die einen noch die anderen lassen sich von der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen verwirren oder halten einander für Kontrahenten [4].”

Sie als LeserIn sind in diesem Heft gerade wegen der Mannigfaltigkeit und Unvollständigkeit besonders gefragt: Sie sind eingeladen, die weißen Stellen auf der Landkarte zu ergänzen und in den Strom der sich ständig wandelnden Erkenntnisse einzutauchen, um zu einem für Sie stimmigen Bild zu kommen.

Silke Behrendt

Literatur

  • 1 Fuhr R et al (Hrsg.). Handbuch der Gestalttherapie. Hogrefe Göttingen; 1999
  • 2 Spieker-Henke M. Leitlinien der Stimmtherapie. Georg Thieme Verlag Stuttgart, New York; 1997
  • 3 Böhme G (Hrsg.). Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen Band 2: Therapie. Gustav Fischer Stuttgart, Jena, Lübeck, Ulm; 1998
  • 4 Strittmatter E. Die Nachtigall-Geschichten. Aufbau-Verlag 1989: S.36

1 Er entstammt einem Modell, das unter dem Begriff „Tree of science” von H. Petzold entworfen und in verschiedenen Literatur-Stellen übernommen wurde.

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