Krankenhauspsychiatrie 2001; 12(2): 47
DOI: 10.1055/s-2001-15755
Georg Thieme Verlag Stuttgart ·New York

Psychiatrie und öffentliche Meinung

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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Seit der Psychiatrie-Enquete von 1975 hat sich die psychosoziale Landschaft in Deutschland durchgreifend verändert. Die großen psychiatrischen Krankenhäuser wurden kleiner, die räumlichen und sanitären Verhältnisse besserten sich. Es entstanden weit über 100 psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern, ebenso viele Tageskliniken, ambulante Dienste sowie zahlreiche Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten für psychisch Kranke.

Das psychiatrische Versorgungssystem bietet heute eine Vielzahl von Möglichkeiten der Behandlung, Beratung und Unterstützung für alle Betroffenen. Personenzentrierte Hilfen, Kooperation und Vernetzung aller an der psychosozialen Versorgung Beteiligter, verstehender und akzeptierender Umgang auch und gerade mit Patienten, zu denen der therapeutische Zugang nicht immer leicht ist - das sind die in diesem Heft angesprochenen Themen.

Was jedoch häufig in Vergessenheit gerät, ist die Tatsache, dass es neben den diagnostisch-therapeutischen Fragen und den Problemen der Versorgung noch eine andere Seite der Realität psychischer Krankheit gibt. Gemeint ist die Realität der öffentlichen Meinung.

Psychisch Gesunde begegnen psychisch Kranken immer noch mit Unsicherheit, Angst und Misstrauen. Die Patienten sehen sich viel zu oft mit Vorurteilen konfrontiert, denen sie dann, auf sich allein gestellt, nur wenig entgegenzusetzen haben.

Das Stigma psychischer Krankheit wurde seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts intensiv erforscht. Zahlreiche Studien belegen, dass Patienten mit affektiven Störungen weniger, Schizophreniekranke und Suchtkranke dagegen umso mehr mit den verschiedensten Vorurteilen zu kämpfen haben. Psychisch Gesunde sind dabei in ihrer Haltung zwiespältig. Besorgnis, Betroffenheit, Bedürfnis zu helfen und Mitleid - das sind Gefühle, die häufig entstehen, wenn sie mit dem Schicksal psychisch Kranker konfrontiert werden. Insbesondere Schizophreniekranke und Suchtkranke gelten jedoch nach wie vor als unberechenbar und als Gefahr für die öffentliche Sicherheit.

Viele psychisch Gesunde verbinden mit psychiatrischen Institutionen recht bizarre Vorstellungen. Geschlossene Türen, Zwangsjacken und andere Formen der Fixierung - das sind häufige Assoziationen. Nur etwas mehr als die Hälfte von 2000 Befragten vermutete in psychiatrischen Kliniken die Möglichkeit des freien Ausgangs oder gemeinsame Aufenthaltsräume für männliche und weibliche Patienten.

Das Jahr 2001 ist von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zum Jahr der psychischen Gesundheit proklamiert worden. Am 7. April, dem Weltgesundheitstag, fand in Würzburg in Zusammenarbeit mit der WHO eine Veranstaltung zum Thema „Destigmatisierung psychischer Erkrankungen” statt. Vom 2. - 4. September 2001 wird in Leipzig mit Unterstützung der World Psychiatric Association (WPA) der erste internationale Kongress zur Verminderung des Stigmas der Schizophrenie unter dem Motto „Together Against Stigma” veranstaltet. Dieser Kongress ist Teil der weltweiten Kampagne „Open the doors” (im Internet: www/openthedoors.de oder www/openthedoors.com).

Das Thema der Stigmatisierung ist im Alltag der Betroffenen und in der lokalen Politik ebenso aktuell wie in der Forschung. So versucht der „Freundeskreis Starnberger Modell” seit mehreren Jahren, in einem nicht mehr benötigen Asylantenheim am Starnberger See ein Heim für psychisch Kranke einzurichten. Diese Pläne führten zur Gründung eine Bürgerinitiative gegen dieses Projekt. Mit Parolen wie „Psychiatrie - am Bahndamm nie” gelang es der wohlhabenden Nachbarschaft bisher, den Bau und die Inbetriebnahme zu verhindern.

In Mannheim riefen Überlegungen der Krankenkassen, in einem Krankenhaus eine psychiatrische Abteilung zu eröffnen, ebenfalls die Anwohner auf den Plan. Eine Nachbarschaftsinitiative sorgte sich um die Sicherheit der Kinder und wurde dabei vom Landtagskandidaten einer großen Volkspartei unterstützt. Leserbriefe an die Tageszeitung „Mannheimer Morgen” sprachen ebenfalls von unverantwortlichem Herausfordern des Schicksals. Ein Leser wies allerdings darauf hin, dass in der Innenstadt Mannheims in unmittelbarer Nähe zu einer Schule bereits seit vielen Jahren eine psychiatrische Klinik, das Zentralinstitut für psychische Gesundheit (ZI), problemlos betrieben wird.

Eine Gesellschaft ist nur so human, wie ihr Umgang mit den schwächsten Mitgliedern. Zur Aufgabe aller Mitarbeiter psychiatrischer Einrichtungen gehört es auch, psychisch Gesunde für die Belange psychisch Kranker zu interessieren.

H.-J. Luderer

Weinsberg

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