Psychiatr Prax 2001; 28(3): 103-104
DOI: 10.1055/s-2001-12674
EDITORIAL
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Von uneinsichtigen Psychiatern, Psychologinnen, Pflegern, Sozialarbeiterinnen, Polizisten und Politikern

Of Closed-Minded Psychiatrists, Female Psychologists, Female Social Workers, Policemen and PoliticiansVreni Diserens
  • VASK, Zürich
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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Von uneinsichtigen Patienten und auch von den gänzlich uneinsichtigen Angehörigen haben Sie schon alle etwas gehört oder sich Gedanken darüber gemacht - oder sich über diese geärgert. Haben Sie aber schon einmal von den uneinsichtigen Hausärzten, Psychiatern und Psychiaterinnen, Schulärzten, Lehrern und Lehrerinnen, Vormündern, Beiständen, Psychologinnen und Psychologen, Pflegerinnen und Pflegern, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern; von uneinsichtigen Polizisten und Politikern gehört? Ich spreche von Uneinsichtigkeit in Bezug auf die Krankheit und deren Diagnose.

Bei der Vorbereitung auf meinen Vortrag zum Thema „Uneinsichtigkeit aus der Sicht der Angehörigen” im Sommer 2000 in Bern[1] habe ich viele Angehörige zur „Uneinsichtigkeit” befragt. Bei dieser Befragung erhoffte ich mir, dass ich Ihnen in wenigen Sätzen erläutern könnte, warum unsere Patienten und wir Angehörigen uneinsichtig sind. Doch es kam anders. Viele Angehörige haben geklagt, dass sie von niemand verstanden würden. Niemand glaubte ihnen, wenn sie merkten, dass sich ihre Angehörigen veränderten. Sie mussten hilf- und tatenlos zuschauen, wie sich das Kind, der Partner oder die Partnerin veränderte. Niemand wollte wahrhaben - oder niemand hatte ein Einsehen, dass es sich um eine psychische Erkrankung handeln könnte. Die Angehörigen nehmen die Verantwortung für die Ursache der Veränderung auf sich. Sie denken, dass sie alles falsch gemacht haben, wenn der Sohn, die Tochter krank wurden. In meiner Arbeit mit Angehörigen seit bald 16 Jahren stelle ich leider fest, dass die Uneinsichtigkeit bei den Professionellen der Psychiatrie beginnt und nicht bei den Patienten oder den Angehörigen.

Bei jungen Menschen wird oft eine pubertäre Phase diagnostiziert, eine Phase, welche nach meiner Meinung nach ein bis zwei Jahren ein Ende haben sollte. Doch weit gefehlt - oft wird nach fünf und mehr Jahren immer noch die Pubertät für die Krankheit verantwortlich gemacht. Nach der pubertären Phase wird dann die Ablösung vom Elternhaus oder die Ablösung von der Mutter für die Veränderung für schuldig befunden. Schlechte Erziehung, zerrüttete Familienverhältnisse, verhätscheltes oder zu streng erzogenes Kind; keine gute Mutter, geschiedene Mutter; schlechter Umgang oder schlechte Gesellschaft; die Pubertät, das militante Militär, die Abschlussprüfung; keine guten Freunde - und vieles mehr wird dem psychisch veränderten Angehörigen unterstellt. Und niemand ist einsichtig genug, eine psychische Krankheit in Erwägung zu ziehen. In der Früherkennung wird von den vier bis fünf Jahren gesprochen, welche vom Beginn einer Veränderung bis zu einem Ausbruch vergehen. Die Früherkennung möge verhindern, dass es zu einem sozialen Abstieg, zur Verwahrlosung und zu einer heftigen Psychose kommt. Der frühere Beginn der adäquaten Behandlung würde den Verlauf beeinflussen. Ich denke, wir müssen in der Psychiatrie das Rad nicht neu erfinden. Neu betroffene Angehörige können über die Frühwarnzeichen Bücher schreiben. Wir sind die ersten, die die Veränderungen wahrnehmen und oft Jahre darum kämpfen müssen, dass unsere Vermutungen von den Professionellen ernst genommen werden; dass sie sich die Mühe machen den Patienten abzuklären und zu behandeln. Oft vergeht zu viel Zeit bis eingegriffen wird. Erst wenn die Krankheit eskaliert, wenn die Familie nicht mehr kann, muss der kranke Mensch, notfallmäßig, wenn nötig mit der Polizei, in die psychiatrische Klinik eingewiesen werden. Der Schock für den Betroffenen, aber auch für die ganze Familie sitzt tief. Zorn und Wut wechseln sich mit Verzweiflung, Hilflosigkeit und Trauer ab. Zu lange wurde zugewartet. Niemand hat die Verantwortung übernommen; nicht einmal der Hausarzt oder der Psychiater.

1 Leicht geänderte Fassung eines Vortrags anlässlich des Berner Schizophrenie Symposiums 2000.

Vreni DiserensPräsidentin der VASK 

Postfach 6161

8023 Zürich
Schweiz

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