NOTARZT 2014; 30(04): 149-158
DOI: 10.1055/s-0034-1370068
Originalia
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Unfallhergang und Verletzungsmuster schwerstverletzter Verkehrsunfallopfer

Eine regionale, multizentrische TotalerhebungMechanism and Pattern of Life-Threatening Injuries Due to Road Traffic AccidentsA Regional Total Survey Study
A. Malczyk*
1   Unfallforschung der Versicherer, Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V., Berlin
,
M. Helm
2   Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin, Bundeswehrkrankenhaus Ulm
,
B. Hossfeld
2   Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin, Bundeswehrkrankenhaus Ulm
,
L. Lampl
2   Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin, Bundeswehrkrankenhaus Ulm
,
M. Ecker
3   Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie, Klinikum Augsburg
,
Ch. Riepl
4   Klinik f. Unfallchirurgie, Hand-, Plastische und Wiederherstellungschirurgie, Universitätsklinikum Ulm
,
L. Winkler
4   Klinik f. Unfallchirurgie, Hand-, Plastische und Wiederherstellungschirurgie, Universitätsklinikum Ulm
,
U. Liener
4   Klinik f. Unfallchirurgie, Hand-, Plastische und Wiederherstellungschirurgie, Universitätsklinikum Ulm
5   Klinik für Orthopädie, Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, Marienhospital Stuttgart
,
E. Hartwig
6   Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, Diakonissenkrankenhaus Karlsruhe
,
M. Kulla
2   Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin, Bundeswehrkrankenhaus Ulm
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Publication Date:
08 August 2014 (online)

Zusammenfassung

Über Verkehrsunfälle, die lebensbedrohliche Verletzungen oder dauerhafte Behinderungen nach sich ziehen, ist in Deutschland wenig bekannt. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurden in 6 Landkreisen und 2 kreisfreien Städten mit zusammen mehr als 1,3 Millionen Einwohnern über 12 Monate alle Straßenverkehrsunfälle erfasst, bei denen Verkehrsteilnehmer schwerstverletzt wurden. Hierzu wurden sowohl lebensbedrohlich Verletzte mit einem ISS ≥ 16 gezählt, die in Krankenhäusern behandelt wurden, als auch initial Verstorbene. Für die Totalerhebung wurden sowohl retrospektive als auch prospektive Daten verwendet. Neben Verletzungsmustern wurden auch wesentliche Merkmale des Unfallhergangs, Fahrzeugbeschädigungen und die Benutzung bzw. Auslösung von Insassenschutzsystemen dokumentiert. Insgesamt 131 schwerstverletzte Verkehrsteilnehmer (ISS ≥ 16) wurden im Studienzeitraum in Krankenhäuser eingeliefert, von denen 19 in der Klinik verstarben. Weitere 66 Patienten erlagen noch an der Unfallstelle ihren Verletzungen. Der Anteil an Schwerstverletzten im medizinisch fachlichen Sinn (ISS ≥ 16) an der Zahl der amtlichen Schwerverletzten (n = 1125) beträgt lediglich 10 %. Sowohl unter den klinisch behandelten als auch den unmittelbar verstorbenen Verkehrsteilnehmern bildeten Pkw-Benutzer den größten Anteil. Schwerstverletzte waren am häufigsten die Folge eines Frontalaufpralls. Der Seitenaufprall stellte einen weiteren Schwerpunkt des Unfallgeschehens von Pkw dar, wobei fast die Hälfte dieser Kollisionen Alleinunfälle gegen Bäume etc. waren. Fahrzeugüberschläge hatten besonders für nicht angegurtete Insassen schwerste Folgen. Verunglückte Fußgänger und Radfahrer wiesen ein hohes durchschnittliches Lebensalter auf. Bei diesen Beteiligten war besonders bei sofortigem Tod das Überrollen ein häufiger Unfallmechanismus. Benutzer motorisierter Zweiräder waren fast ausschließlich männlich und wiesen im Durchschnitt die höchste Gesamtverletzungsschwere auf. Alleinunfälle waren in dieser Gruppe selten die Ursache von lebensbedrohlichen Verletzungen. Unter allen Verkehrsteilnehmern zählten Lungenkontusionen zu den häufigsten Verletzungsarten. Relevante Extremitätentraumata traten dagegen besonders bei Motorrad- und Pkw-Fahrern im Frontalaufprall in Erscheinung. Zu relevanten Schädel-Hirn-Traumata kam es vorrangig bei Pkw-Insassen im Seitenaufprall und bei Fußgängern und Radfahrern. Bei Radfahrern ohne Helm entstanden diese Verletzungen auch bei Alleinstürzen. Die Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung des Unfallhergangs für das Verletzungsmuster. Gleichzeitig wird die Notwendigkeit deutlich, mit passiven Sicherheitsmaßnahmen wie Vorhang- und Fußgängerairbags sowie durch verstärkte Nutzung von Fahrradhelmen das Risiko für relevante Kopfverletzungen herabzusetzen.

Abstract

Limited information exists in Germany about road traffic accidents that result in life-threatening injuries or long-term disabilities. In the course of the presented study, all accidents with most severely injured road users occurring in six counties and two larger cities with a population of more than 1.3 million were collected over a 12-month period. The cases include both patients with life-threatening injuries (ISS ≥ 16) who were treated in hospitals and victims who deceased on scene already. For this total survey of accidents prospective and retrospective date were used. Beside injury patterns, important characteristics of the collision, vehicle damage and the use of helmets or seat belts and the activation of airbags were documented. Altogether, 131 victims of road traffic accidents with life-threatening injuries were admitted to trauma centres during the study period. 19 of them died in-hospital. Further 66 victims died on scene. Only a proportion of 10 % among the so called “seriously injured”, as defined in national statistics (n = 1125), had an ISS ≥ 16 after road traffic accidents. Passenger car occupants represented the major portion among both the clinically treated and the immediately deceased. Severe injuries resulted most frequently from frontal impacts. Side impacts constituted another major collision scenario. Vehicle roll-overs produced severe outcomes especially for unbelted occupants. Almost all motorcyclists were male and presented the highest average of injury severity overall. Single accidents were rarely a cause for most severe trauma in this group. Of all injury types, lung contusions counted among the most frequent injuries. Serious fractures of extremities occurred particularly in motorcyclists and car drivers after frontal impacts. Severe trauma to the brain was mostly the result of car occupants sustaining lateral impacts or when pedestrians or bicyclists struck. Firstly, the results underline the importance of the mechanism of injury of severely injured patients due to road traffic accidents. Secondly, the necessity becomes clear to reduce the risk for severe head injury by means of secondary safety measures like curtain airbags and pedestrian airbags as well as by an increased use of bicycle helmets.

* Die vorliegende Arbeit beruht auf Teilen der Ergebnisse der Dissertationen von Herrn Dr.-Ing. Axel Malczyk (Promotion zum Dr.-Ing. an der Fakultät für Verkehrs- und Maschinensysteme der Technischen Universität Berlin 2010) sowie von Frau Dr. med. Linda Winkler (Promotion zum Dr. med. an der medizinischen Fakultät der Universität Ulm 2011).


 
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