Intensivmedizin up2date 2012; 08(03): 137-138
DOI: 10.1055/s-0032-1309424
Editorial
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Zehn Jahre therapeutische milde Hypothermie – Bullen- oder Bärenmarkt?

Gerhard Jorch
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Publication Date:
13 August 2012 (online)

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Gerhard Jorch

Vor 10 Jahren wurden 2 große Studien publiziert, die umgehend zu einer Empfehlung der milden Hypothermie in den ILCOR-Richtlinien für die Behandlung bewusstloser Patienten nach Kreislaufstillstand führten [1] [3] [4]. Bereits kurz darauf wurde aufgrund vorläufiger und endgültiger Studienergebnisse die milde Hypothermie auch für die Behandlung von (reifen) Neugeborenen nach schwerer perinataler Asphyxie empfohlen [2] [5].

Zumindest für die genannten Patientengruppen überwog der neuroprotektive Nutzen nicht nur statistisch signifikant, sondern auch klinisch relevant die systemischen Nebenwirkungen der Therapie, sodass eine 15 %ige Steigerung der Heilungsrate bzw. ein zusätzlich geheilter Patient pro 7 behandelte Patienten resultierten. Eine derart hoher Vorteil wird bei den meisten Studien neu eingeführter Medikamente nicht erreicht. Deshalb warnten von Beginn an erfahrene Intensivmediziner vor einer zu großen Euphorie, der später in einem Blues enden könne wie bei so manchem eingeführten Medikament.

10 Jahre später ist aber die erwartete „Baisse“ nicht eingetreten, sondern es dominiert weiter ein umsichtiger „Bullenmarkt“, um dieses aus der Finanzwelt uns mittlerweile geläufige Begriffspaar zu verwenden. Die Therapie ist fast flächendeckend eingeführt, wird mit Augenmaß betrieben und hat die Intensivmedizin bei Patienten vom Lebensanfang bis zum Erwachsenenalter um eine wichtige neue therapeutische Option bereichert. In diesem Heft stellen 2 Autorengruppen den derzeitigen Stand der therapeutischen Hypothermie im Kindes- und im Erwachsenalter dar.

Für die Indikation „Hypoxisch-ischämische Enzephalopathie des Reifgeborenen“ liegt mittlerweile eine ungewöhnlich hohe Evidenz aus 6 Multicenterstudien vor. Die Therapie ist verbindlicher Standard in der Neonatologie. Die ERC-Leitlinien von 2010 legen die Eckpunkte der Therapie fest [6]. Die Evidenz für die Indikation „Bewusstlosigkeit nach Kreislaufstillstand im Kindesalter“ ist derzeit weniger gut belegt. Die Anwendung der milden Hypothermie bei dieser Indikation ist also im Einzelfall gerechtfertigt, aber nicht in jedem Fall zwingend geboten. Die Erkenntnisse aus Studien zur Indikation „Schädel-Hirn-Trauma“ im Kindesalter deuten derzeit eher darauf hin, dass die Nebenwirkungen der Therapie den Nutzen überwiegen. Deshalb muss der Einsatz der Hypothermie bei dieser Indikation bis auf Weiteres auf kontrollierte und durch eine Ethikkommission konsentierte Studien beschränkt bleiben. Bei erwachsenen Patienten ist die Indikation „Bewusstlosigkeit nach Kreislaufstillstand“ etabliert. Besonders günstig scheint das Verhältnis von Nutzen zu Nebenwirkungen beim Herzstillstand durch initial tachykarde Rhythmusstörungen außerhalb des Krankenhauses zu sein. Die ERC-Empfehlung von 2010 hat im Gegensatz zur Empfehlung von 2005 die Indikation nun auf „nicht defribillierbare Herzrhythmen“ erweitert [7]. Für andere Indikationen wie z.B. „Polytrauma“, „Schädel-Hirn-Trauma“, „ischämischer Schlaganfall“, „hepatische Enzephalopathie und Enzephalomeningitis“ gilt, dass die Anwendung der milden Hypothermie möglichst nur im Rahmen von klinischen Studien erfolgen sollte.

Fazit: Die Einführung der milden Hypothermie in die Intensivmedizin darf weiter als Erfolgsgeschichte betrachtet werden. Patientengefährdungen durch überschwängliche Indikationsausweitungen wurden bisher mit Augenmaß vermieden. Dieses Beispiel zeigt, dass auch heute noch innovative und hochwirksame Therapien weitgehend ohne industrielle Sponsoren eingeführt werden können und deren Abstinenz nicht zwingend zu einem Bärenmarkt führt.

Die Literatur zu diesem Beitrag finden Sie unterhttp://dx.doi.org/10.1055/s-0032-1309424.

 
  • Literatur

  • 1 Bernard SA, Gray TW, Buist MD et al. Treatment of comatose survivors of out-of-hospital cardiac arrest with induced hypothermia. N Engl J Med 2002; 346: 557-563
  • 2 Nolan JP, Deakin CD, Soar J et al. European Resuscitation Council guidelines for resuscitation 2005. Section 4. Adult advanced life support. Resuscitation 2005; 67: S39-S86
  • 3 Nolan JP, Morley PT, Vanden Hoek TL et al. Therapeutic hypothermia after cardiac arrest: an advisory statement by the advanced life support task force of the international liaison committee on resuscitation. Circulation 2003; 108: 118-121
  • 4 The Hypothermia After Cardiac Arrest Study Group. Mild therapeutic hypothermia to improve the neurologic outcome after cardiac arrest. N Engl J Med 2002; 346: 549-556
  • 5 Timischl M, Simbruner G. Therapeutische Hypothermie nach Asphyxie aus neonatologischer Sicht. Intensiv up2date 2006; 2: 245-256
  • 6 Richmond S, Willie J. Versorgung und Reanimation des Neugeborenen. Notfall Rettungsmed 2010; 13: 665-678
  • 7 Nolan JP, Soar J, Zideman DA et al. ERC-Guidelines for Resuscitation 2010. Resuscitation 2010; 33: 1219-1276