Z Sex Forsch 2011; 24(4): 397-404
DOI: 10.1055/s-0031-1283881
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Publication Date:
15 December 2011 (online)

Sexueller Missbrauch in pädagogischen Kontexten

Marion Baldus, Richard Utz, Hrsg. Sexueller Missbrauch in pädagogischen Kontexten. Faktoren. Interventionen. Perspektiven. Wiesbaden: VS Verlag 2011. 275 Seiten, EUR 29,95 [1]

Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Fachhochschule Frankfurt am Main, Hrsg. Grenzverletzungen. Institutionelle Mittäterschaft in Einrichtungen der Sozialen Arbeit. Frankfurt / Main: Fachhochschulverlag 2011. 207 Seiten, EUR 18,00 [2]

Sexuelle Gewalt in pädagogischen Institutionen veranlasst zu Recht verschiedene Disziplinen zur Stellungnahme und vor allem Hochschulen, in denen jene Personen ausgebildet werden, die in Gefahr stehen, übergriffig zu werden oder Grenzüberschreitungen zu ignorieren, die vor allem aber die Möglichkeit haben, im Verdachtsfall professionell zu intervenieren oder auch präventiv tätig zu werden. Interessanterweise sind die beiden ersten Sammelbände in Fachbereichen für Soziale Arbeit entstanden, obwohl seit dem Frühjahr 2010 vor allem Schulen und Internate im Mittelpunkt der medialen Skandalisierung standen. Offenbar ist die Sensibilität dort schon seit langem größer als in den Ausbildungsstätten für Lehrerinnen und Lehrer und die selbstverständliche Multidisziplinarität der Fachhochschulen eine gute Basis für die fachliche Auseinandersetzung. Der Sammelband der Mannheimer Hochschule, von Marion Baldus und Richard Utz herausgegeben, entstand im Anschluss an zwei „interdisziplinäre Fachgespräche“ der Fakultät für Sozialwesen und ist – wie im Vorwort stolz hervorgehoben – in der Tat ein gelungenes Gemeinschaftsprojekt von Vertreterinnen und Vertretern des hauptamtlichen Kollegiums. Ob schon der Schritt von der Multidisziplinarität zur Interdisziplinarität gelungen ist, soll hier nicht diskutiert werden. Der Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Fachhochschule Frankfurt am Main hat verschiedene, auch auswärtige, Referentinnen und Referenten zu einer Tagung eingeladen und die Beiträge ohne integrierende Einleitung hintereinander gesetzt. Die inhaltlichen Akzente sind in beiden Büchern different: Wer sich – mehr theoretisch-analytisch interessiert – für disziplinäre Zugänge zur angesprochenen Thematik interessiert, sollte sich dem Mannheimer Projekt zuwenden, wer sich eher mit institutionellen Bedingungsmustern und pragmatischen Interventionen und Präventionsmöglichkeiten auseinandersetzen möchte, ist mit den Frankfurter Texten gut bedient. 

Der Reigen der Mannheimer Beiträge beginnt mit einem Beitrag von Joachim Weber über „Moralischen Idealismus und sexuellen Missbrauch“, eine bisher im fachlichen Diskurs vernachlässigte Perspektive, die in den Kontexten der Reformpädagogik und in katholischen Internaten implizit enthalten ist. „Moralischer Rigorismus überblendet die Dynamiken der Wirklichkeit und führt infolgedessen zu ihrer ungehinderten Entfaltung“, ist die Hauptbotschaft des Beitrags. Das ist ein hilfreiches Kriterium auch bei der Beurteilung aktueller Missbrauchsverhinderungs-Konzeptionen, die sich gelegentlich in treuherzigen Bekenntnissen zum Kinderschutz erschöpfen und wieder Gefahr laufen, an der Banalität alltäglicher Praxis zu scheitern. 

Das Verdienst des soziologischen Beitrags von Richard Utz besteht zum einen darin, die organisationssoziologischen Figuren der „total Institution“ (Goffman) und „greedy Institution“ (Coser) als anfällige Rahmenbedingungen für sexuelle Gewalt zu beschreiben, zum anderen, mit Hilfe der Instrumentarien der struktur-funktionalistischen Professionstheorie Parsons die Zugangs- und Zugriffschancen zu analysieren, mit denen übergriffige Pädagoginnen und Pädagogen „parasitäre Defunktionalisierung“ betreiben. Die in diesem soziologischen Beitrag gelungene Schärfung des Blicks für die Unterschiede zwischen „Solidarität und Intimität unter Fremden“ löst aber noch nicht die vielen Alltagsprobleme von Nähe und Distanz, denen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Risiko-, Orientierungs- und Experimentierkorridoren pädagogischer Settings ausgesetzt fühlen.

Diesem Thema widmet sich der Pädagoge Rainer Kilb und geht von der Tatsache aus, dass Fachkräfte und Klientinnen und Klienten bestimmten Settings mit ihrer Privatheit und Intimität konfrontiert werden und nur angesichts hoher Selbstreflexivität den schmalen Grad zwischen pädagogischer Zuneigung und Pädosexualität bewältigen können. Dass Körperlichkeit und Sinnlichkeit als konstitutive Bedingungen vieler pädagogischer Settings thematisiert und die „Erziehung der Pädagogen“ gefordert werden, ist dem Verfasser hoch anzurechnen. Die Sexualpädagogik wird zu Recht dazu aufgefordert, sich den „sexualpraktischen und sexualmoralischen Entgrenzungen“ wie auch den antipodisch hierzu gelagerten „völligen Tabuisierungstendenzen“ zu stellen (S. 86).

Nach diesem Ausflug in die Niederungen der pädagogischen Praxis stellt Marion Baldus grundsätzliche Fragen an die erziehungswissenschaftliche Disziplin und weist auf vergessene oder auch verdrängte Zusammenhänge hin. Dazu gehören die in einem rationalistischen Erziehungsbegriff unbeleuchtet bleibenden Rahmenbedingungen für sexuellen Missbrauch, in ideologischen Überhöhungen versteckte asymmetrische Machtbalancen wie auch emotional verstrickende wechselseitige Abhängigkeitsverhältnisse und das wenig hilfreiche Konzept der Abnormalität der Täter.

Die Opferperspektive darf in einem perspektivenreichen Sammelband nicht fehlen. Sie wird überwiegend aus psychologischer Perspektive von Viola Harnach kenntnisreich entfaltet und mit vielen nationalen und internationalen Quellen belegt. Hervorzuheben ist der Bericht zu den Ergebnissen der Suggestibilitätsforschung, die das sehr behutsame und fachkundige Befragen von Kindern einfordern – eine Praxis, die bei dem hochemotionalisierten Thema auch heute noch immer nicht durchgehend beachtet wird. Noch nicht genügend berücksichtigt wurden die ganz aktuellen Erkenntnisse, die aus den Berichten vieler Betroffener herauszulesen sind, welche sich auf den Aufruf der Beauftragten der Bundesregierung zur Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs gemeldet haben. Ihre Forderungen sind am Schluss des hier beschriebenen Beitrags schon angefügt worden, wer aber Genaueres wissen will, sollte den Beitrag von Fegert in dem Frankfurter Sammelband zu Rate ziehen.

Engagiert geschrieben und trotz des schweren Themas fast erfrischend zu lesen sind Chirly dos Santos-Stubbes transkulturelle Betrachtungen zum Missbrauch. Zum einen wegen der anthropologischen Anmerkungen zur Differenz von moralischem Anspruch und persönlichem Alltag von Pädagoginnen und Pädagogen (etwas weniger Rogers und etwas mehr Freud täte gut), zum anderen wegen der Einblicke in die Situation außereuropäischer Staaten wie Brasilien, Afrika, Chile und China. Jede Kultur hat ihre spezifischen Probleme mit der Vermeidung sexueller Übergriffe. Im westeuropäisch „verkopften“ Habitus liegen sie oft in überfordernd-idealisierten Berufsverständnissen und der mangelnden Übung im Umgang mit Gefühlen wie Verliebtheit, Lust, Ekstase, Unlust, Wut, Neid und Angst, in lateinamerikanischen, afrikanischen und asiatischen Kontexten in oft patriarchalen Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen.

Um die Wirkweise sexueller Kontakte zwischen pädagogisch Tätigen und Schutzbefohlenen zu verstehen, lohnt sich gelegentlich ein Blick über den Zaun, vor allem in jene Professionen, die das Thema des Missbrauchs schon länger diskutieren und in berufsethischen Regularien festgeschrieben haben. Auch dort liegt noch einiges im Argen, wie Alexander Noyon als klinischer Psychologe berichtet, die drei wesentlichen Argumente als ethische Basis für das Abstinenzgebot (Autonomie, Schädlichkeitspotential und Vertrauensbruch), die Reflexionen zum „professionellen Missbrauchstrauma“ und die professionellen Tätertypen lassen sich gut auf pädagogische Beziehungen übertragen.

Die letzten fünf Beiträge thematisieren „Interventionen, Krisenmanagement und Lösungsansätze“ (S. 177 ff.), beginnend mit einem systemischen Einblick in die komplizierte Familiendynamik in Missbrauchssituationen (Wilfried Büschges-Abel) über die Aufarbeitung eines sexuellen Übergriffs durch einen Heimleiter (Verena Bartels) und die Entwicklung, Aktualisierung und Anwendung fachlich begründeter und praxiserprobter Leitlinien über den Umgang mit sexueller Gewalt in der Jugendhilfe (Edmund Sichau) bis zur strafrechtlichen Perspektive (Ulla Törning) und den Aufgaben des Managements im Umgang mit institutionellen Gefährdungen von Schutzbefohlenen (Winfried W. Weber). Dieser abschließende Artikel mahnt zu Recht an, das Management der Organisationen zur Verhinderung sexueller Gewalt in die Pflicht zu nehmen. Ob die angebotene „Six Sigma“ – Strategie der „Null-Fehler-Produktion“ aus dem Ingenieurswesen dabei das richtige Mittel ist, muss zumindest diskutiert werden. Was heißt für Jugendhilfeorganisationen, „eine Arbeit perfekt oder gar nicht zu erledigen“ (S. 242)? Oder „If you can‘t measure ist, you don‘t manage it? Vor allem: wie sollen zur Umsetzung der „Null-Fehler-Qualität“ die Schwächen der Kollegen frühzeitig erkannt werden, um dann die „typischen Täter“ herauszufiltern, die der Autor in Anlehnung an Sigusch‘s locker-journalistische Aufzählung benennt: „der Inzesttäter, der gestörte, nicht-pädophile Nachbar, der pubertierende Junge, der zurückgebliebene Junge, der sexuell unreife Erwachsene, der Sextourist, der altersabgebaute, sich enthemmende Mann, der perverse Mann oder der Pädophile“ (S. 244)? Schön wär‘s, wenn man geistliche Einrichtungsleiter sofort an ihrer altersabgebauten, sich in „Priesterspielen“ (ebenfalls Sigusch) enthemmenden Männer erkennen könnte und wie schlimm, jeden pubertierenden Jungen als potentiellen Täter zu beobachten!

Das Buch „Grenzverletzungen“ beginnt zu Recht mit einer mehrperspektivischen Reflexion von Barbara Kavemann als Einleitungstext über Grenzen und Grenzverletzungen. Grenzziehung wird thematisiert als Grundrecht, als professionelle Kompetenz (ohne Nähe auszuschließen), als Problem bei Ausgrenzungen von Opfern und Tätern aber auch als disziplinäre Selbstvergewisserung im institutionellen Kontakt. Damit ist in etwa eine thematische Klammer bereitgestellt, in der die nachfolgenden Beiträge Platz finden. Ulrike Schmauch thematisiert das Vorkommen von Körperlichkeit, Sexualität, Nähe und Distanz in der Bereichen Sozialer Arbeit, streut gelegentlich Definitionen ein, liefert Erklärungen und Anregungen vor allem für die sozialpädagogische Ausbildung. Claudia Burgsmüller entfaltet sehr engagiert, weniger in wissenschaftlicher Diktion ihre anwaltschaftlichen Beratungserfahrungen im Zusammenhang mit der Odenwaldschule und Maud Zitelmann löst mit ihrem Beitrag zentral den Anspruch des Sammelband-Untertitels ein, indem sie aspektreich und mit vielen Beispielen unterfüttert die Mittäterschaft bei Kindeswohlgefährdungen durch Kolleginnen und Kollegen wie auch jene für deren Ausbildung Verantwortlichen herausarbeitet. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass wir genügend wissen über Täterstrategien und missbrauchsfreundliche Strukturen. Beides wird von Thomas Röhl in dem anschließenden Artikel zusammengestellt.

Der Beitrag von Michael Behnisch und Lotte Rose hat einen ganz anderen Charakter als die restlichen Texte. Es handelt sich um eine erste Diskursanalyse der öffentlichen Missbrauchsdebatte. Benannt werden deren sie befeuernden Interessen, Abrechnungen und Ausblendungen. Es kann nur ein Anfang sein, denn der Diskurs geht noch weiter. Zu wünschen ist eine positive Antwort auf die am Schluss des Beitrags gestellte Frage: „Gelingt es, nicht nur auf die Missbrauchsdebatte zurück zu blicken sondern im Sinne eines Schutzes von Kindern und Jugendlichen voraus zu blicken?“ (S. 122) Letzteres gilt auch für den stark juristisch informierenden Artikel über Gewaltschutz in sozialen Einrichtungen für Frauen mit Behinderungen, der mit der orientierenden Botschaft endet, auch in diesem Bereich keine – rückblickend das bestehende System zementierenden – Sonderwege zu beschreiten, sondern eine „inklusive Gesellschaft“ anzupeilen und „den Bewohnerinnen und Bewohnern dieser Institutionen den Weg zu allgemeinen Beratungs- und Unterstützungsangeboten und der Justiz zu ebnen“ (S. 143).

Mit der provokanten Eingangsbotschaft, Betroffenheit könne kaum gesehen, aber wohl gehört werden, beginnt Jörg M. Fegert seinen Beitrag. Zu Recht erinnert er damit an die Vorsicht, die bei der Ausdeutung von vermeintlich sichtbaren Indikatoren von sexuellem Missbrauch an den Tag zu legen ist. Um das Hören zu unterstreichen, berichtet er von der Auswertung der Anrufe, die bei der telefonischen Anlaufstelle der unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs bis September 2010 eingegangen sind. Dieses positive Beispiel des Anhörens von Betroffenen nimmt er zum Anlass, für die Einrichtung eines Beschwerde- und Qualitätsmanagements in Institutionen zu werben. Dass das alleine auch nicht ausreicht, ist dem Schlussbeitrag von Heike Beck zu entnehmen, der sich intensiv mit der Prävention sexualisierter Gewalt in der Arbeit mit Jugendlichen auseinandersetzt, mit einem in der Tat bisher vernachlässigten Thema. Wie so oft, wird auch hier zu Recht eine Verknüpfung von emanzipatorischer Sexualerziehung mit der Gewaltprävention gefordert (S. 177), inhaltlich aber nur ansatzweise eingelöst. Diese Leerstelle bleibt der noch ausstehenden Konzeptionsentwicklung vorbehalten. Sehr wertvoll sind die Forderungen für Studium und Praxis, die in der Abschlusserklärung der Frankfurter Fachtagung zusammengestellt wurden. Es ist zu hoffen, dass sich auch die Lehrerausbildungsstätten, überhaupt die Universitäten, daran orientieren.

Uwe Sielert (Kiel)

  • 1 Baldus Marion, Richard Utz Hrsg. Sexueller Missbrauch in pädagogischen Kontexten. Faktoren. Interventionen. Perspektiven. Wiesbaden: VS Verlag; 2011. 275 Seiten, EUR 29,95
  • 2 Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Fachhochschule Frankfurt am Main Hrsg. Grenzverletzungen. Institutionelle Mittäterschaft in Einrichtungen der Sozialen Arbeit. Frankfurt / Main: Fachhochschulverlag; 2011. 207 Seiten, EUR 18,00
  • 3 Metelmann Jörg Hrsg. Porno-Pop II. Im Erregungsdispositiv. Würzburg: Königshausen und Neumann; 2010. 320 Seiten, EUR 28,00
  • 4 Lohrenscheit Claudia Hrsg. Sexuelle Selbstbestimmung als Menschenrecht. [Sammelband einer Vortragsreihe]. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft; 2009. 297 Seiten, EUR 49,00
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