Z Sex Forsch 2011; 24(4): 309-311
DOI: 10.1055/s-0031-1283848
EDITORIAL

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Jugend und Pornografie

Silja Matthiesen
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Publication Date:
15 December 2011 (online)

„Sie sehen Pornos mit 12, haben Sex mit 13, sind schwanger mit 14“ – so titelte das Magazin der Süddeutschen Zeitung 2009. Dies ist nur ein Beispiel für die mediale Skandalisierung der Jugendsexualität, die die (fach-)öffentlichen Debatten der letzten Jahre stark geprägt hat. Unter Schlagworten wie „Generation Porno“, „Pornografisierung der Gesellschaft“ oder „Sexualisierung der Kindheit“ wurden Ängste geschürt und Bilder einer sexuellen Verelendung der Jugend transportiert. Die vorliegenden empirischen Studien zur Entwicklung der Jugendsexualität in den letzten Jahrzehnten sprechen eine ganz andere Sprache. Die Daten des Statistischen Bundesamts zeigen, dass die Schwangerschaftsraten bei minderjährigen Frauen seit etwa zehn Jahren sinken – und sie bewegen sich im internationalen Vergleich auf niedrigem Niveau (Matthiesen et al. 2009). Die seit den 1980er-Jahren replizierten repräsentativen Jugendstudien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung dokumentieren eine kontinuierliche Verbesserung des Verhütungsverhaltens von Jugendlichen und nur geringe Schwankungen des Alters beim ersten Geschlechtsverkehr (BZgA 2010). 

Zweifellos verändert die fast uneingeschränkte Verfügbarkeit von Pornografie für Jugendliche im Internet die Bedingungen der sexuellen Sozialisation für beide Geschlechter. Und ebenso zweifellos stellt dies eine massive Herausforderung für alle Personen und Institutionen dar, deren Aufgabe es ist, Heranwachsende beim „sexuell werden 2.0“ zu begleiten. Was wissen wir darüber, wie Jugendliche das, was sie in Pornos sehen, mit ihrer eigenen Sexualität verbinden? Empirisch wussten wir bis vor wenigen Jahren hierzu kaum etwas und dieser Mangel an Daten trug dazu bei, dass Pornografie vielfach ausschließlich als Risikofaktor der Sexualentwicklung thematisiert wurde. Aus dem alten feministischen Kampfruf: „Pornografie ist die Theorie und Vergewaltigung die Praxis“ wurde die sozialpädagogische Sorge: „Ist Pornografie die Theorie und sexuelle Verwahrlosung die Praxis?“ Oder genauer: Werden sich die in Pornos vermittelten mechanistischen, genital- und penetrationsfixierten Bilder von Sexualität in sexistischen, anomischen oder destruktiven Mustern der Jugendsexualität niederschlagen? 

Dementsprechend sind die Chancen des Pornografiekonsums, also mögliche positive Auswirkungen – wie Aufklärung und Wissensvermittlung, Lust, Diversifizierung sexueller Praktiken, Abbau von Vorurteilen, Erweiterung des Spektrums sexueller Fantasien und Verhaltensweisen – bislang kaum erforscht. Ein Beispiel: Für Menschen mit gleichgeschlechtlichem Begehren gibt es im Internet unter dem Begriff „Queer Porn“ ein großes Angebot, das nicht-heterosexuelle Skripte und nicht-traditionelle Geschlechtsidentitäten zeigt. Leider liegen bislang keine Studien darüber vor, ob, wie und mit welchem Gewinn junge Frauen und junge Männer mit gleichgeschlechtlichen sexuellen Wünschen solche Angebote nutzen. 

Ebenfalls wenig beachtet wurden die jungen Frauen, die oft nur am Rande oder – in feministischer Denktradition – als Opfer des Pornografiekonsums von Männern erscheinen. So ist im Jugendschutzdiskurs oder auch im sexualpädagogischen Diskurs oftmals von „den Jugendlichen“ die Rede, wenn eigentlich „die Jungen“ gemeint sind. Dort debattierte Fragen wie: „Werden Jugendliche pornografiesüchtig?“ oder „Wird gewalttätige Porno-Sexualität für Jugendliche eine Art Normalität?“ kann man mit einer gewissen Berechtigung für besondere Gruppen von Jungen untersuchen; für Mädchen grenzen solche Fragen ans Absurde. Betrachtet man die jungen Frauen gesondert, fällt auf, dass ihre Beschäftigung mit Pornografie mit Fragen der weiblichen Geschlechtsidentität, des „doing gender“ und der ambivalenten Positionierung als sexuelles Subjekt verknüpft ist. 

Der Alarmismus der öffentlichen Debatte und das hohe Medieninteresse haben eine differenzierte Auseinandersetzung nicht befördert. Aber wahrscheinlich ist es ihnen zu verdanken, dass in den letzten Jahren viele empirische Untersuchungen gefördert wurden und inzwischen quantitative und qualitative Studien sowie international vergleichbare Daten vorliegen. Und es haben sich neue Vernetzungen ergeben: Die Thematik „Jugend und Pornografie“ liegt an der Schnittstelle von Sexualforschung, Medienforschung und Geschlechterforschung. Sie berührt Fragen der Ethik (Döring 2011 a), der Sexualpädagogik (Weller 2011), der Medienkompetenzvermittlung (Döring 2011 b), des Jugendschutzes (Hajok 2011) und der sexuellen Sozialisation (Klein 2010). 

Die Zeitschrift für Sexualforschung hat im Jahr 2011 bereits verschiedene wichtige Texte zu neuen Medien und Pornografie publiziert (Döring 2011 a / b; Weber 2011). Im vorliegenden Schwerpunktheft haben wir nun vier weitere Arbeiten gebündelt, die im Wesentlichen den Mainstream der Jugendlichen in Deutschland und anderen westlichen Industrienationen untersuchen. Das Heft beginnt mit einer Übersicht über die wichtigsten internationalen Prävalenzstudien der letzten Jahre (Zillich). Die auffallenden geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Nutzung von Pornografie sowie in Bezug auf die Konsumsituationen, Einstellungen und Bewertungen von Pornografie, werden anhand aktueller quantitativer und qualitativer Studien dargelegt und diskutiert. Der zweite (Matthiesen et al.) und dritte Beitrag (Schmidt und Matthiesen) stellen für junge Frauen und Männer getrennt die Ergebnisse einer aktuellen qualitativen Studie mit 160 großstädtischen Jugendlichen im Alter zwischen 16 und 19 Jahren dar. Die Jugendlichen kommen ausführlich zu Wort. In bewusster Abkehr vom Erkenntnisinteresse der Wirkungsforschung geht es hier um die handlungstheoretische Frage: „Was machen Jugendliche mit Pornografie?“, wie gehen sie allein, als Paar, in der Peergroup und in der Familie damit um und wie fügt sich der Pornografiekonsum in die soziale, sexuelle und geschlechtsbezogene Entwicklung der Adoleszenz. Der vierte Beitrag (Hill) stellt die in den letzten zehn Jahren publizierten quantitativen Querschnitt- und Längsschnittstudien zur Wirkung von Pornografie auf Jugendliche dar. Sie finden Korrelationen zwischen starkem Pornografiekonsum und sexuell freizügigen Einstellungen und Verhaltensweisen, aber auch mit geringerer sexueller- und Lebenszufriedenheit, mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen und – bei Konsum von paraphiler- und Gewaltpornografie – mit einer erhöhten Neigung zu sexueller Aggression. Allerdings sind die Effektstärken klein und die Korrelationen betreffen kleine Gruppen von Jugendlichen, vor allem männliche Intensivnutzer. 

Natürlich bleiben viele wichtige Themen unbearbeitet, z. B. die Eigenproduktion pornografischer Bilder, die Bedeutung der Internetpornografie in Ländern mit starken religiösen Restriktionen oder der Umgang mit Pornografie in bestimmten vulnerablen Gruppen (wie klinisch auffällige Jugendliche, junge Sexualstraftäter oder Jugendliche in prekären Lebenssituationen). Gleichwohl hoffe ich, dass die hier zusammengestellten Arbeiten dazu beitragen werden, die neue Pornografiedebatte zu entdramatisieren und zu versachlichen. 

Literatur

  • 1 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung .Jugendsexualität: Repräsentative Wiederholungsbefragung von 14–17-Jährigen und ihren Eltern – Aktueller Schwerpunkt Migration. Köln: BZgA; 2010 [Als Online-Dokument: www.sexualaufklaerung.de/index.php?docid=1944 ]
  • 2 Döring N. Pornografie-Ethik: Von Pro- und Kontra-Positionierungen zu gegenstandsbezogenen Bewertungskriterien.  Z Sexualforsch. 2011 a;  24 1-30
  • 3 Döring N. Pornografie-Kompetenz: Definition und Förderung.  Z Sexualforsch. 2011 b;  24 228-255
  • 4 Hajok D. Sexuelle Entwicklung mit dem Internet. Pornografiekonsum Jugendlicher und Konsequenzen für die pädagogische Praxis. In: Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e. V. Hrsg. Generation digital. Neue Medien in der Erziehungsberatung. Materialien zur Beratung. Band 19 Fürth: bke; 2011: 146-169
  • 5 Klein A. Jugend, Medien und Pornografie. In: Schetsche M, Schmidt R B, Hrsg. Sexuelle Verwahrlosung. Empirische Befunde – Gesellschaftliche Diskurse – Sozialethische Reflexionen. Wiesbaden: VS Verlag; 2010: 167-184
  • 6 Matthiesen S, Block K, Mix S, Schmidt G. Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch bei minderjährigen Frauen. Köln: BZgA; 2009
  • 7 [Süddeutsche Zeitung Magazin]. Jugend ohne Jugend. Sie sehen Pornos mit 12, haben Sex mit 13, sind schwanger mit 14: Warum haben es unsere Kinder so eilig mit dem Erwachsenwerden? Ein Krisengespräch. Nr. 35; 28. August 2009
  • 8 Weber Mathias. Geschlechterbilder zwischen Daily Soap und Castingshow. Eine Online-Befragung zur Mediennutzung Jugendlicher und ihrem Bild der weiblichen Geschlechtsrolle.  Z Sexualforsch. 2011;  24 31-48
  • 9 Weller K. Explizite Lyrik – „Porno-Rap“ aus jugendpsychologischer Perspektive. In: Schetsche M, Schmidt R B, Hrsg. Sexuelle Verwahrlosung. Empirische Befunde – Gesellschaftliche Diskurse – Sozialethische Reflexionen. Wiesbaden: VS Verlag; 2010: 207-232

Dr. S. Matthiesen

Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie · Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf

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20246 Hamburg

Email: smatthie@uke.de

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