Z Sex Forsch 2011; 24(3): 295-305
DOI: 10.1055/s-0031-1283773
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Publication Date:
15 September 2011 (online)

Günter Amendt, Gunter Schmidt, Volkmar Sigusch, Hrsg. Sex tells. Sexualforschung als Gesellschaftskritik. Hamburg: Konkret-Verlag 2011. 144 Seiten, EUR 19.– [1]

Sex tells. Diese clevere Neuprägung, ein Wortspiel mit der lapidaren Weisheit sex sells, ist der perfekte Titel für dieses tief berührende und überaus anregende Buch. Es kontrastiert Aufsätze von Günter Amendt, Gunter Schmidt und Volkmar Sigusch aus der wilden Glanzzeit der sexuellen Revolution und ihren unmittelbaren Nachklängen (1979–1986) mit Texten der gleichen Autoren aus der jüngst vergangenen Geschichte und der Gegenwart am Anfang des 21. Jahrhunderts. Sex tells bedeutet: Sex erzählt. Aber auch: Sex verrät. Früher hätte man mit Freud argumentiert: Das Geheimnis, das hinter anderen Dramen und Konflikten steckt, ist oft ein sexuelles Geheimnis. Faszinierenderweise scheinen die Autoren dieses Bandes von der entgegen gesetzten Prämisse auszugehen: Sehr viel Nichtsexuelles ist im Sexuellen enthalten; hinter sexuellen Problemen und Konflikten steht oft etwas ganz Anderes, ob persönlicher oder – wie es bereits im Untertitel anklingt – gesellschaftlicher Natur. Wie genau das Intrapsychische mit dem Gesellschaftlichen verbunden und verschlungen ist, was die zugleich kritisch-theoretische und  sorgfältig-empirische Erforschung von Sexualität uns darüber erzählen oder verraten kann und wie sich diese Verbindungen und Verschlingungen historisch gewandelt haben, davon handelt dieses Buch.

Das Gegenüberstellen der zwei Epochen ist gelungen. Die Aufsätze von damals haben nichts an ihrem doppelten Charakter als historische Dokumente und als zeitlos relevante Analysen eingebüßt. Das Ringen um den Sinn und die Richtigkeit der oft zitierten Worte Adornos – dass es kein richtiges Leben im Falschen geben kann –, das Anfang der 1980er Jahre wiederholt in den Editorialen von Sigusch angedeutet wurde, bleibt nach wie vor unsere Aufgabe und wird es auch morgen noch bleiben.

Es ist beeindruckend, wie deutlich die früheren Aufsätze die gesellschaftlichen Missstände aufgezeigt haben, gegen die die Sexradikalen der 1960er und 1970er rebellierten. Ihre Kritik richtete sich gegen die anhaltenden Nachwirkungen der Nazizeit, gegen den heute kaum noch vorstellbaren, aber damals allgegenwärtigen Mief der Nachkriegsjahre und die unverfrorene Barschheit der Heuchelei der gesellschaftlichen Auto­ritäten. Dazu analysierten die Texte mit Scharfsinn den zugleich befreienden und deformierenden Effekt des aufsteigenden Konsumkapitalismus. Und sie sezierten couragiert und nachdenklich die Missverständnisse über Sexualität an allen Stellen des ideologischen Spektrums – links wie rechts.

Viele LeserInnen werden die Reflexionen zum Pädophiliediskurs (Amendt 1980 und 2010, Schmidt 1999 und 2010, Sigusch 2010) für besonders relevant erachten, und das nicht nur, weil das Thema aufgrund der unlängst bekannt gewordenen ­sexuellen Missbrauchsfälle in katholischen Bildungseinrichtungen wieder brandaktuell ist. Der moralische Ernst und die zahl­reichen Erkenntnisse, die diese Aufsätze und Interviews im Einzelnen als auch in ihrer Gesamtheit bieten, sind kaum zu übertreffen.

Die Bandbreite der Themen ist bemerkenswert. Das Buch handelt von der sexuellen Aufklärung der Jugend sowie dem Phänomen der Peepshows (letzteres mitsamt den wundervollen Zeichnungen des kürzlich verstorbenen Künstlers Christoph Krämer); Partnerschaftsmustern der diversen Nachkriegskohorten sowie der grotesken Hysterie, mit der die Krankheit HIV / AIDS zuerst empfangen wurde; den Besonderheiten der öffentlichen Bekenntnisse zu Perversionen in der gegenwärtigen „neosexuellen Revolution“ sowie den heißen Sehnsüchten, die – immer und immer wieder, trotz wachsendem Zynismus und enttäuschten Erwartungen – an „den Sex“ (was immer dieses Etwas eigentlich ist) gerichtet werden. Und alles wird mit einer außerordent­lichen Kombination von nüchternem analytischem Abstand und menschlichem Mitgefühl behandelt.

So werden zum Beispiel von Amendt (1980) alle die in Peepshows verwickelten Personen mit allergrößter Sensibilität beschrieben: Die alternde Putzfrau, die den Spermaschleim auf den Fußböden der Peepshowkäfige auf Händen und Knien aufwischt, weil sie keine andere Arbeit mehr bekommt, aber sich auch gerne mit den „Tänzerinnen“ über dieses und jenes unterhält – bis diese Frauen in andere Städte ­geschickt werden, damit die Kunden etwas „Frisches“ zu sehen bekommen; die „Tän­zerinnen“ selber, die ihre Arbeit besser und lebenswerter finden als Prostitution; sowie auch die Männer, für die diese spezifische Sorte von entfremdetem Sex offensichtlich attraktiver ist als Sex, der entweder grö­ßeren Fantasieaufwand und / oder direkten Körperkontakt nötig macht. Genauso aufschlussreich für die LeserInnen ist Schmidts selbstkritische Ironie beim Wiederlesen seiner trostlosen Zeitdiagnose anno 1979: eine angeblich sexualbefreite Kultur, in der die Individuen versuchen, sich durch immer wiederkehrende Zustände des Verliebtseins und im Taumel immer neuer Ekstasen ein Gefühl der eigenen Wichtigkeit und einen abhanden gekommenen Lebenssinn zurückzuholen. Schmidt stellt seinen damaligen Text seinem souveränen Resumé der völlig ruhigen und glücklichen Beziehungsbiographien gegenüber, die die Leipziger und Hamburger 2010 für verschiedene Jahrgänge vorweisen konnten. Und Sigusch (1985) schafft es, sich zugleich über den von so vielen Menschen intensiv ersehnten Glückstraum von wunderbarem Sex zu mokieren und ihn als falsches Versprechen zu ent­larven (unnachahmlich zusammengefasst in den Worten: „Wir senken unseren Atem in den Flaum des Schambergs, in den jungen Duft der Achselhöhle, wir suchen den scharfen, süßen After, wir brüllen wie ein Tier, wir können uns nicht lösen, wir wollen uns nicht lösen … der Mann faßt seine schwellenden Brüste an, die Frau führt ihr Glied in die pochende Scheide …“' [S. 84]) und zugleich das Verlangen nach solchen Erlebnissen zu würdigen. Immer wieder gelingt es den Autoren, das, was Menschen bewegt, ernst zu nehmen.

Als Günter Amendt kurz nach der Zusammenstellung des Bandes – als Festschrift zum 70. Geburtstag des Konkret-Redakteurs Hermann Gremliza konzipiert – plötzlich und unerwartet verstarb, war das für die Vielen, die ihn kannten und liebten, unendlich schmerzvoll. Dass hier eine kleine Auswahl aus seinen wichtigsten Aufsätzen wieder abgedruckt wurde, ist für uns alle ein Geschenk.

Dagmar Herzog (New York)

Michael Schetsche, Renate Berenike Schmidt, Hrsg. Sexuelle Verwahrlosung. Empirische Befunde – Gesellschaftliche Diskurse – Sozialethische Reflexionen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010. 240 Seiten, EUR 24,95 [2]

Der Buchtitel greift einen medienwirksamen, möglicherweise auch durch und für die Medien erst generierten Begriff auf, mit dem insbesondere das Sexualverhalten heutiger Jugendlicher, aber auch Erwachsener in bestimmten Sozialmilieus skandalisiert wurde. Als Startpunkt der in den Medien geführten Debatte gilt ein Beitrag von Walter Wüllenberger im „Stern“ (2007) über Eltern, die mit ihren Kindern Hardcore-Filme schauen und 14-jährige Jugendliche, die sich zum Gruppensex treffen. 2008 erschien dann das Buch „Deutschlands sexuelle Tragödie“ von Bernd Siggelkow und Wolfgang Büscher, die in Pornofilmen und im Porno-Rap die zentralen Figuren einer massenhaft stattfindenden sexuellen Problematik festmachen. Die Herausgeber des hier zu besprechenden Bandes nahmen diese Debatte zum Anlass, Autorinnen und Autoren aus den Feldern Sexualforschung, Sexualpädagogik, Kriminologie, Medienpädagogik, Psychologie und Soziologie nach einem Beitrag zum Thema zu fragen – und beschreiben einleitend, auf welche Schwierigkeiten sie damit stießen. Der Begriff der Verwahrlosung weckte Misstrauen oder zumindest Fragen über die grundsätz­liche Richtung des geplanten Bandes und die Auseinandersetzung damit bewirkte offensichtlich eine Klärung, die sich in der Struktur niederschlägt: Die ersten drei Aufsätze beschäftigen sich auf verschiedene Weise mit dem Deutungsmuster der sexuellen Verwahr­losung, die sechs folgenden mit den empirischen Befunden und drei abschließende Beiträge sind ausdrücklich reflexiv-bewertend angelegt.

Schetsche und Schmidt sind in ihrer Einführung darum bemüht, deutlich zu machen, dass es ihnen um den Topos „sexuelle Verwahrlosung“ geht: nicht um eine auch von ihnen wahrgenommene oder unter­stellte Realität, sondern um den darum geführten Diskurs, die damit bewirkten Auf­regungen und Erregungen, die erreichten Diskriminierungen und Bewertungen und um eine auch soziohistorische Einordnung dieser Prozesse. Dass sie sich die öffentliche Aufmerksamkeit, die durch diese Skandalisierung zumindest für eine Weile erreicht wurde, auch für eigene Zwecke zunutze ­machen wollen, nämlich für die ihrer Meinung nach immer noch unterrepräsentierte Thematisierung von Sexualität in den Sozialwissenschaften, geben sie unumwunden zu – sex sells, vor allem, wenn es um abweichenden Sex, um Fantasien von überschrittenen Grenzen geht, dies gilt eben auch für wissenschaftliche Arbeiten.

Dabei kreist bereits die Einführung der Herausgeber um die Widerlegung des vorgebrachten Anlasses, und zwar auf allen Ebenen: Verwahrlosung als Begriff sei normativ-wertend und daher per se unwis­sen­schaft­lich, einen ähnlichen „Gefahrendiskurs“ gebe es alle paar Jahre in regelmäßiger Wieder­holung, veränderlich sei nur, woran die Gefahr festgemacht werde, die Jugend sei auf alle Fälle besser als ihr Ruf, die jeweils gerade neuen und umgehend inkriminierten Medien werden von verschreckten Erwachsenen häufig einfach nicht verstanden, geschweige denn beherrscht, etc. Also: viel heiße Luft und nichts dahinter, bzw. nur bestimmte, aufzudeckende Absichten und interessierte Gruppen. Dies mag alles zutreffen und ist für eine Einführung, die zu Recht eine Einordnung vor­nimmt und auch bereits eine Perspektive auf die zu lesenden Arbeiten geben will, auch angemessen. Allerdings wiederholt sich der Eindruck des Bemühens um Beruhigung, ­Relativierung und Normalisierung dann in fast jedem Aufsatz. So sympathisch diese Haltung der Leserin grundsätzlich ist, es entsteht im Laufe der Zeit doch auch das Gefühl, dass sich hier an der einen oder anderen Stelle in die Jahre gekommene Sozial- und Sexualforscher anstrengen, mit der Jugend und ihren aktuellen Ausdrucksformen Schritt zu halten, nicht in das Horn der Empörung zu blasen, um sich nicht selbst als „von gestern“ zu outen, gleichzeitig jedoch von einer eher altersweisen Position aus zu argumentieren, die schon viel gesehen und erlebt hat und sich auch von teilweise sehr krassen Ausdrucksformen, etwa dem Pornorap, nicht so schnell verschrecken lässt. Das ist schade und wäre eigentlich gar nicht nötig, denn sowohl die theoretischen Analysen als auch die empirischen Befunde sind durchaus eindrücklich und wären ohne den Nachdruck vielleicht sogar noch überzeugender.

Dabei sind die einzelnen Beiträge in ihrer Art höchst unterschiedlich. So wendet sich Christian Niemeyer in seinem sehr ironischen Text „Deutschlands sexuelle Moral­paniken – Eine Tragödie in sechs Akten, ­aufzuführen unmittelbar vor Betreten der rettenden Arche“ in erster Linie gegen ein Widererstarken religiöser Kreise, aktuell personifiziert in Autoren wie Schirrmacher und Siggelkow, die als Heilmittel gegen die festgestellte Verwahrlosung mit prognostizierten katastrophalen Folgen für die Zeit, in der die heutigen Kinder und Jugend­lichen erwachsen sein werden, vor allem christliche Nächstenliebe und eine religiöse (Heim-)Erziehung vorschlagen. Hier sieht Niemeyer vielfache historische Parallelen und skizziert, wie „Sodom und Gomorrha“ im Lauf der Geschichte an verschiedenen Orten gesichtet und bekämpft wurde. Häufig verweist dabei die Mischung aus Empörung und lüsternem Voyeurismus auf die eigene Unterdrückung und die oft drakonischen Bekämpfungsmaßnahmen zeugen, psychologisch ausgedrückt, wohl eher von der Inten­sität der Projektion als von einer pä­dagogischen oder gesundheitspolitischen Notwendigkeit. Auch wenn in Niemeyers Zusammenstellung einiges in einen Topf geworfen wird und manche Aussage etwas pauschal klingt, so gibt sie doch viele Anregungen und interessante Blickwinkel auf bisher ­anders Vertrautes – etwa auf Pestalozzi als Erzieher, der Moralpanik inszenierte (S. 32) und nicht als Vorläufer einer aufklärerisch-liberalen sexualpädagogischen Sozialarbeit, wie er gemeinhin gelesen wird.

Ganz anders liest sich Lorenz Böllingers Text „Strafrechtliche Normierung von Sexualität im Kontext der Debatte über se­xuelle Verwahrlosung“. Der Jurist und Psychologe macht schnell klar, dass er die meist in Reaktion auf schwere Sexualdelikte beschlossenen mehrfachen Änderungen des Sexualstrafrechts seit den 90er Jahren als Ursache für ein „Dickicht aus Wertungs­widersprüchen  und Überkriminalisierung“ (S. 52, kursiv im Original) erachtet. Dabei ist seine grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem Schutz von Rechtsgütern und dem Schutz einer wie auch immer gearteten Moral im Zusammenhang mit der Beurteilung von Produktion, Besitz und Verbreitung von Kinderpornographie zwar theo­retisch interessant, inhaltlich jedoch auch deutlich provozierend. Den Pornographiekonsumenten straflos zu lassen, weil zu diesem Zeitpunkt die „Fremdschädigung“ (der Missbrauch des Kindes) bereits zurückliegt und der Zusammenhang zwischen Nachfrage und Angebot eine bloße Annahme darstelle (S. 54), klingt doch eher nach einer ­juristisch-spitzfindigen Steilvorlage für die Verteidigung als nach einer objektiven Analyse der Zusammenhänge. Böllinger distanziert sich allerdings ausdrücklich von der möglichen Unterstellung, Kindesmissbrauch oder -pornographie zu bagatellisieren (S. 61) und will eher die These von der Prävention durch Strafverschärfung infrage stellen, sowie die angenommene Medienwirkung kritisch hinterfragen. Sein Text verlangt aber doch viel Bereitschaft, sich auf seine Positionen erstmal einzulassen, um die Grundsätzlichkeit der Fragestellungen zu ermessen.

Kurt Starke fragt in seinem Beitrag nach der sexuellen Verwahrlosung in der DDR, um umgehend festzustellen, dass dies dort kein Thema war, der Begriff massenmedial und auch in der Fachwelt keine Rolle spielte. Zur Erklärung zieht er mehrere unter­schiedliche Aspekte heran: was nicht ins Bild einer realsozialistischen Gesellschaft passte, wurde auch nicht thematisiert; die zunehmend säkularisierte Gesellschaft und die eher gleichberechtigte Position der Frau nor­malisierten vorehelichen Sex und sexuelle Beziehungen unter Jugendlichen; die durchgehende Reglementierung aller Lebensbereiche ließ für Verwahrlosung grundsätzlich kaum Raum. Dadurch, dass in der DDR Virginität kein Wert an sich war, setzte dort der Trend zum geringeren Alter beim ersten Geschlechtsverkehr deutlich früher ein. Dass dies aber auch im Westen nicht mit Beliebigkeit in der Partnerwahl oder mit Verantwortungslosigkeit bei der Verhütung einhergeht, belegen die von Alexandra Klein und Christin Sager zusammengetra­genen Befunde zum „Wandel der Jugend­sexualität in der Bundesrepublik“ ebenso wie die von Silja Matthiesen und Gunter Schmidt durchgeführte Untersuchung zu Jugendschwangerschaften. Im Gegenteil entsteht eher ein differenziertes Bild von größerer Selbstbestimmtheit und „sexuellen Ebenbürtigkeit“ (S. 109) zwischen Jungen und Mädchen, einer hohen Informiertheit und Verantwortlichkeit, was das Verhütungsverhalten angeht sowie einer stärkeren Romantisierung (S. 110) sexueller Beziehungen. Dass Sex für Jugendliche idealerweise in einer zumindest für eine gewisse Zeit festen und auch sexuelle Treue beinhaltenden Liebesbeziehung stattfindet, trifft zumindest für die Mehrheit der heutigen Jugendlichen zu. Matthiesen und Schmidt ­benennen aber auch die Überforderung, die für einige Jugendliche in den hohen Er­wartungen an Beziehungen liegt, wenn dadurch Defizite an Stabilität, Selbstachtung und Unter­stützung in der Herkunftsfamilie kompensiert werden sollen (S. 141). Hier ­besteht die Gefahr einer Wiederholung enttäuschender Beziehungsmuster, die von außen als „verwahrlost“ wahrgenommen werden könnten.

Sehr differenziert setzt sich Ralf Vollbrecht mit der „Wirkung pornographischer Mediendarstellungen“ auseinander. Die unstrittige Veränderung der Medienwelt mit dem Hauptmerkmal des freieren Zugangs zu allen möglichen Informationen und damit auch zu pornographischem Material für alle, also auch für Kinder und Jugendliche, wird hier nicht einseitig als Gefährdung, aber auch nicht ausschließlich als Fortschritt gewertet, sondern zunächst nur beschrieben und aus verschiedenen theoretischen Perspektiven beleuchtet. Schafft oder beantwortet es Bedürfnisse, wann und für wen bewirkt es eher Verunsicherung, wann und wem dient es eher zur Information und Sicherheit. Das von Schmidt so genannte Phänomen der „Overscription“, das Aneignen und Verfügen über Wissen und Halbwissen und eben vor allem auch über Bilder von sexuellem Verhalten lange vor der ersten eigenen Erfahrung wird sicher noch Ausgangspunkt für weitere Fragestellungen sein. Allen Gefahrenrufen zum Trotz zeigen die empirischen Befunde jedoch, dass der Konsum von pornographischem Material zumeist auf eine recht kurze Phase vor allem bei männlichen Jugendlichen beschränkt ist und sich bei der großen Mehrheit auf Softporno reduziert.

Den Zusammenhang zwischen „Jugend, Medien und Internet“ untersucht auch Alexandra Klein. Sie kritisiert die häufig „verkürzten Kausalunterstellungen“ (S. 169, kursiv im Original) und weist sie im Fall der Pornographie ebenso zurück wie für ge­walthaltige Computerspiele. Sie fordert eine differenziertere Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen und der Lebenswelt der Jugendlichen und auch mit ihren Medien­erfahrungen.

Birgit Richard findet über die Analyse ins Netz gestellter Fotos ebenfalls eine über­raschend eindeutige Antwort auf die Frage nach der Verwahrlosung. Sie betont die kommunikative, kreative und gestalterische Funktion der Selbstdarstellung auf Plattformen wie flickr oder YouTube. Sie untersucht egoshots von Frauen und Männern und auch wenn die vorgefundenen Kategorisierungen teilweise sehr konstruiert wirken, zeigen sie eher die Gleichzeitigkeit von tradierten, stereotypen Bildern und diese Klischees bre­chenden Inszenierungen. Damit verweisen sie auf ein typisches Selbstfindungsthema, einen altersgemäßen Prozess der Identitätskonstruktion und sind kaum als Phänomen der Verwahrlosung interpretierbar.

Konrad Weller setzt sich mit dem wohl umstrittensten Thema des Porno-Rap aus­einander und macht am deutlichsten, dass die Debatte um die sexuelle Verwahrlosung vor allem eine Pornographie- und eine Prekariatsdebatte ist, denn sexistischer Rap wird vor allem von sozial benachteiligten Jungen gehört. Auch er betont die Meta­ebene, die Funktion, die diese Musik hat: Gruppenzugehörigkeit herstellen, provozieren und abgrenzen von der Elterngeneration und allem, was anders ist, dem eigenen Lebensgefühl Ausdruck geben, sich über die Härte und den Sexismus der Texte und der Interpreten als ebenso harter und ebenso männlicher Mann (oder zur Szene gehörende Frau) identifizieren. Weller betont die Form der Sprache und ihre kulturelle Funktion und schätzt das Risiko, dass die Inhalte für bare Münze genommen werden, für die allermeisten Jugendlichen als sehr gering ein. Gleichzeitig nimmt er das Phänomen als Hinweis auf den Bruch, den vor allem ­sozial benachteiligte Jugendliche mit der Mehrheitsgesellschaft machen, ernst und fordert eine gesellschaftliche Auseinandersetzung damit.

Die letzten drei Aufsätze, die zum Kapitel „Reflexionen“ zusammengefasst sind, geben dem Band die eigentliche Klammer. Birgit Menzel deutet in ihrem Beitrag „Verwahr­losung und die Legitimation sozialer Ungleichheit“ Gewalt als immanent logische Provokationsform in einem Gesellschaftssystem, das durch die Individualisierungsprozesse die Selbstbestimmung der Ein­zel­nen hervorhebt. Dazu passt auch die Problemwahrnehmung als Verwahrlosung, denn schon der Begriff enthält eine Art individueller Schuldzuschreibung. Soziale Unter­schiede werden nicht mehr als Ungerechtigkeit konnotiert, für die die Gesellschaft verantwortlich ist, sondern als individuelle Schwäche.

Uwe Sielert greift dies in seinem Text „Sexuelle Verwahrlosung – Interventionsnotwendigkeiten und -möglichkeiten aus pädagogischer Perspektive“ quasi auf und beschreibt zunächst das Klima der Angst und Verunsicherung, was Sexualaufklärung angeht, teilweise geschürt durch erstarkende religiöse Kräfte, die im Sexuellen an sich die Gefahr sehen, benennt aber auch den Mangel eines Gegenübers, den viele Kinder und Jugendliche in ihren selbst eher ich-schwachen Eltern haben. Hier sieht er die Aufgabe sexualpädagogischer Sozialarbeit und macht viele konkret klingende Vorschläge, wie der Kontakt zu und die Aus­einandersetzung mit den Menschen aus den betroffenen sozialen Milieus gesucht werden soll – allerdings bleibt abzuwarten, wie diese tatsächlich in die Praxis umgesetzt werden können.

Der abschließende und die gesamten Texte auswertende Beitrag ist von Rüdiger Lautmann. Er fasst vieles zusammen, stellt Verbindungen zwischen den Beiträgen her und bleibt dabei auf angenehme Weise nüchtern engagiert. So spannt er noch mal den Bogen und erleichtert eine eigene Einschätzung, wie viel von dem Gelesenen tatsächlich mit dem Begriff der Verwahrlosung zu tun hat und was einfach allgemeine soziale Prozesse beschreibt, die vielleicht eher unter dem Begriff der Modernisierung oder der Veränderung sexueller Identifikationsprozesse zu subsumieren wären.

Anne Fischer (Hamburg)

Philippe Weber. Der Trieb zum Erzählen. Sexualpathologie und Homosexualität, 1852–1914. Bielefeld: transcript, 2008. 378 Seiten, EUR 29,80 [3]

Dass sich die moderne „Sexualität“ dem 19. Jahrhundert verdankt, ist weitgehend bekannt. Der Rolle, die das sexualpathologische Narrativ der Homosexualität bei ihrer Genese spielt, widmet sich die bemerkenswerte Studie Der Trieb zum Erzählen des Historikers Philippe Weber. Sie analysiert nicht nur ein Stück Wissenschaftsgeschichte, sondern auch eine wichtige (Teil-)Geschichte der modernen Sexualität.

Webers klar aufgebautes und luzide geschriebenes Buch zeichnet sich dadurch aus, dass es jene idealtypischen Narrative in den Mittelpunkt rückt, mittels derer sich im (psycho-)pathologischen Diskurs des 19. Jahrhunderts ein „Wissen“ vom „homosexuellen Trieb“ entwickelte, der das gesamte Leben der an ihm „leidenden“ Personen bestimmte. Insbesondere betont Weber die Erzählform der Fallgeschichte, in der sich die diagnostische Sicherheit des Arztes mit der Biographie des Patienten in einer Weise verknüpfte, die es einerseits erlaubte, Leben und Leiden des Patienten als einen Fall eines allgemeinen Krankheitsbildes zu beschreiben und andererseits den beschreibenden Arzt als objektiven wissenschaftlichen Beobachter zu inszenieren.

Obwohl sich die Psychopathologie des 19. Jahrhunderts den homosexuellen Trieb nur als pathologischen Trieb vorstellen könne, ebene sie, so Weber, dem Konzept eines allgemeinen „Sexualtriebs“ den Weg. Entscheidend ist für Webers Argumentation jedoch, dass der homosexuelle Trieb der Sexualpathologie nicht mit dem bürgerlichen Geschlechtstrieb zusammenfalle: Während nämlich der Geschlechtstrieb ganz allgemein nach Befriedigung strebe, weise der Sexualtrieb der Sexualpathologie eine eindeutige Richtung auf – im pathologischen Falle auf gleichgeschlechtliche, im physiologischen Falle auf gegengeschlechtliche Objekte. Kurz gesagt: Das Konzept eines Sexualtriebs bricht mit der Vorstellung des Geschlechtstriebs und führt diesem gegenüber eine neue Kategorie und Vorstellungswelt ein – jene der „Sexualität“.

Webers Studie gliedert sich in vier Teile: Die Genealogie, Der Diskurs, Die Positionen  und Die Ausweitung  sowie in einen Epilog, in dem der Autor zeigt, wie Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie einen Bruch mit dem sexualpathologischen Konzept markieren, indem sie ein energetisches Triebkonzept einführen, das der Sexualpathologie die Grundlage entzieht.

In Webers Genealogie des homosexuellen Triebes stehen jene drei Autoren zentral, die man erwartet: der „Über Nothzucht und Päderastie“ schreibende Gerichtsarzt Johann Ludwig Casper, Carl Westphal mit seinen Überlegungen zur „conträren Sexualempfindung“ und schließlich der Psychiater Richard von Krafft-Ebing mit seiner „Psychopathia Sexualis“. Webers Deutung unterscheidet sich von der üblichen Lesart jedoch dadurch, dass es nicht Westphal, sondern erst Krafft-Ebing sei, der den entscheidenden Schritt hin zur Erfindung der „Homo­sexualität“ getan habe. Krafft-Ebing gelang es 1882, „die Erzählpraktiken der 1870er Jahre so zusammenzuführen, dass seine Fallgeschichten den pathologischen Trieb in einem neuen Ausmaß sichtbar machten und ihn zur entscheidenden Kraft innerhalb der Biographie und zum zentralen Symptom der ‚conträren Sexualempfindung‘ werden ließen.“ (S. 78) Anhand der Weise, in der Weber die Chronologie der „Entdeckung“ der Homosexualität „verändert“, zeigen sich die Besonderheit und Fruchtbarkeit einer Narrationsanalyse: Gerechtfertigt sieht er seine Einteilung nämlich dadurch, dass „die Analyse der Erzählpraktiken Unterschiede zwischen den Phänomenen Westphals und denjenigen in Krafft-Ebings Aufsatz von 1882 aufzeigen kann, die eine nach her­meneutischer Tradition vorgehende Suche nach einer uns scheinbar bekannten Homosexualität übersieht.“ (S. 78) Erst in Krafft-Ebings Variante einer Gegenüberstellung von homosexuellem und heterosexuellem Trieb entstehe die moderne Homosexualität und – als ihr Nebenprodukt – die Hetero­sexualität sowie die Vorstellung eines die gesamte Persönlichkeit wie Biographie prägenden sexuellen Triebs.

Die sexualpathologische Homosexualität analysiert Weber mithin als Produkt spezi­fischer „Untersuchungstechniken, Plots und Darstellungsformen“ (S. 83), die sich in der Fallgeschichte verdichteten, die wiederum die moderne Sexualität präge; nicht nur die sexualpathologische Homosexualität, sondern auch die moderne Vorstellung der Sexualität ist also das Korrelat bzw. Produkt ­einer bestimmten, narrativ verfahrenden Beobachtungs- und Beschreibungspraxis.

Indem Weber sein Augenmerk auf narrative Konstruktionen legt, kann er zeigen, dass Krafft-Ebing mit der sexualpathologischen Homosexualität ein neues Phänomen entdeckte, das mit den Phänomenen, die Casper und Westphal untersuchten, wenig gemein hat. Die neue Erzählweise erklärt nicht zuletzt, warum in recht kurzer Zeit ­eine Fülle neuer Fälle entdeckt werden konnte. Insbesondere sei hierfür die „Me­dialität der Fallgeschichten Kraft-Ebings“ verantwortlich; sie wirkte als Generator ­einer Vielzahl neuer Fälle. Die sexualpathologische Homosexualität bildet zugleich ­eine Gemeinschaftsproduktion von Arzt und Patient: „Die Fallgeschichten gaben den Patienten eine Stimme und verschafften sich so Zugriff auf die Polyphonie der Lüste und des Geschlechtlichen im 19. Jahrhundert. Krafft-Ebings Erzählpraxis war dazu auf­nahmefähig, weil sie zahlreiche Lüste und Eigenschaften als Ausdruck des homosexuellen Triebs erfassen und so sexual­pathologisch codieren konnte. Die so mög­liche Medialität erschloss die unterschiedlichsten Beziehungen zwischen Personen des gleichen Geschlechts als Homosexualität“ (S. 99).

Die Fallgeschichten erlaubten es einerseits, die Individuen und ihr Begehren sexualpathologisch zu codieren, boten diesen aber andererseits einen Raum, sich zu entfalten und wurden so für beide Seiten attraktiv. So konnte Krafft-Ebings Erzählpraxis allgemein aufgegriffen werden und epochemachend wirken. Allerdings hatte das Konzept des sexualpathologischen Triebs einen „Schönheitsfehler“: „auch der Trieb der sexualpathologischen Homosexualität [blieb] ein spekulatives Prinzip, dessen ‚Rätsel‘ grundlegende Fragen zur ‚Sexualität‘ des Menschen aufwarf“ (S. 105).

Der zweite Hauptteil des Buchs – Der Diskurs – untersucht das sexualpathologische Narrativ im Hinblick darauf, wie im Phänomenbereich „Ordnung“ geschaffen wurde. Die Fallgeschichte steht zunächst vor einem doppelten Problem: Zum einen muss sie für das erzählende Subjekt so attraktiv erscheinen, dass es sich als „Fall“ inszeniert bzw. dem Arzt offenbart, und zum anderen stellt sich die Frage, wie sich eine subjektive Erzählung in eine wissenschaftliche Aussage verwandeln lässt. Auf beides antwortet die Figur des Arztes: Als Wissenschaftler bürgt er für die Wissenschaftlichkeit der Fallgeschichte, als Experte kann er eine Diagnose anbieten, die die Betroffenen nicht selbst erstellen können, und schließlich eröffnet er – wenn auch ungeplant – den betroffenen Subjekten die Möglichkeit, ihr Begehren zu diskursivieren. Der Arzt bietet also ein offenes Ohr sowie eine Diagnose und bekommt dafür wissenschaftlich verwertbares (Roh-)Material. Die Fallgeschichte ist somit zugleich biographische Erzählung, Ergebnis ärztlicher Untersuchung und wissenschaft­liche (Re-)Konstruktion. Freilich war es nur der Arzt (und nicht etwa der Betroffene), der den homosexuellen Trieb zweifelsfrei ­erkennen konnte. Sexuelle Handlungen waren im Rahmen der sexualpathologischen Fallgeschichten nämlich „nicht über Pe­netration definiert, sondern über die Lüste, Dränge und ihre Befriedigung. Der Sexualtrieb äußerte sich in der Lust, die Befriedigung im Stillen der Lust, und deshalb war der Trieb erst über Techniken der internen Fokalisierung greifbar.“ (S. 125) Der Erfolg der Sexualpathologie verdankte sich schließlich, einer bemerkenswerten Kombination von Begrenzung und Ausweitung des Wirkungsfelds des Triebes: „Sobald eine homosexuelle Lust konstatiert war, konnten die unterschiedlichsten Akte als sexuelle Handlungen imponieren. […]. Mit der ‚psychischen‘ Definition erschienen nun Handlungen als ‚sexuell‘, die im älteren gerichtsmedizinischen Diskurs kaum als ‚Unzucht‘ wahrgenommen worden wären“ (S. 127).

Vor diesem Hintergrund konnte das sexualpathologische Narrativ eine Biographie entwerfen, „die vollständig im Zeichen des homosexuellen Triebs stand“ (S. 133) und den mechanisch verstandenen Trieb als ­einen eigenständigen, „vom Subjekt unabhängigen Akteur“ konzipieren, dessen Wirken unbewusst blieb (S. 137) und erst durch den Arzt erkannt werden konnte. Die ärzt­liche Diagnose wurde so „der Schlüssel zur Biographie, sie war das unverzichtbare Element aller Fallgeschichten“ (S. 144). Zwar war sie „nichts anderes als die Behauptung des homosexuellen Triebs“ (S. 144); aber indem das sexualpathologische Narrativ einen verborgenen, aber gleichwohl identitäts­bestimmenden Sexualtrieb postulierte, wurde es für verschiedene Personengruppen – Ärzte, Wissenschaftler, Laien und Betrof­fene – so attraktiv, dass es jenen titelgebenden „Trieb zum Erzählen“ entfesselte.

Den Positionen und Theorien zur Homosexualität im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts widmet sich Weber im Kapitel Die Posi­tionen, wobei er verschiedene Sicht­weisen anhand eines in der entsprechenden Epoche massenmedial aufbereiteten Fall­beispiels und im Hinblick auf vorgeschla­gene Therapiemöglichkeiten diskutiert und zugleich zeigen kann, dass die „Voraussetzung für die Pluralität“ der Diskurse in der „Fähigkeit des sexualpathologischen Narrativs [lag], Fallgeschichten mit differenten Plots und dadurch vielfältigen Beobachtungen hervorzubringen“ (S. 179).

Nachdem in den Jahren 1852 bis 1882 die sexualpathologische Homosexualität „entdeckt“ und bis 1900 die unterschied­lichen Positionen zu ihr entwickelt wurden, erfolgte ab der Wende ins 20. Jahrhundert ihre „Expansion“. Diese Jahre seien durch ­eine Soziologisierung der Homosexualität gekennzeichnet: Der Diskurs verlasse das ärztliche Sprechzimmer und die  Homo­sexuellen als Gruppe würden zum Thema.

Die Genese des Kollektivs der Homo­sexuellen verdankt sich freilich der vorherigen fallgeschichtlichen Individualisierung. Diese schuf nicht nur „die Grundlage für die Rezeption sexualpathologischen Wissens in der Öffentlichkeit und bei Betroffenen“ (S. 220), sondern bot letzteren auch „Schutz vor moralischen Vorwürfen und eröffnete neue Formen und Freiheiten im Bereich des sexuellen Handelns“ (S. 221). Eine Rezeption des sexualpathologischen Narrativs war also für alle Seiten attraktiv und wirkte „bei den Betroffenen […] als Katalysator für eine homosexuelle Identität unter Individuen und Kollektiven, was zu einer sichtbaren Präsenz der Homosexuellen in der Gesellschaft führte“ (S. 221). Eine Paradoxie lag allerdings darin, dass die nämlichen Entwicklungen „eine Voraussetzung für die Erforschung des Kollektivs und damit letztlich auch für eine intensivierte Biopolitik“ bildeten (S. 222).

Diese Paradoxie illustriert Weber an Magnus Hirschfelds Forschungen. „Hirschfelds Innovation“ hätte darin bestanden, „dass er die Verkehrten als Kollektiv, als gesellschaftliche Gruppe sichtbar machen konnte.“ (S. 234) Seine Texte seien freilich von einer eigentümlichen Spannung durchzogen, da er als Sexualpathologe zwar „den pathologischen Status mindern“ wollte, „sein Objekt [aber dennoch] eine Krankheit haben [musste]“ (S. 234). In recht weitschweifiger Weise zeigt Weber, dass „Hirschfelds Texte zur Sexualpathologie gehörten und zu deren Projekt einer Soziologie beitrugen“ (S. 234), also trotz aller emanzipatorischen Tendenzen nicht mit dem sexualpathologischen Rahmen brachen: Hirschfeld erfasste „das homosexuelle Individuum mittels des sexualpathologischen Narrativs“ und „für ihn [bestand] die gesellschaftliche Gruppe der Homosexuellen aus Patienten der Sexualpathologie“ (S. 234). Damit bereitete die Soziologie der Homosexualität ungewollt den Boden für neue Biopolitiken, indem sie Homosexelle als Kollektiv sichtbar machte und so Anschlussmöglichkeiten für Diskurse der Entartung, der Degeneration und der Bedrohung schuf.

Der Erfolg der Sexualpathologie beruhte ganz allgemein darauf, dass sie „das Geschlechtsleben auf neue Weise [codierte], indem sie das plurale, uneinheitliche Feld des Gleichgeschlechtlichen in die „Homo­sexualität“ überführte und dieser die „Heterosexualität“ gegenüberstellte“ (S. 311), zugleich aber Vereinheitlichung und Pluralität so zu kombinieren wusste, dass eine Vielzahl von (Homo-)Sexualitäten entdeckt und erzählt werden konnten. „Die Sexual­pathologie erfasste derart viele Formen gleich­geschlechtlichen Begehrens und mach­te die dadurch entstehende ‚Homosexualität‘ so grundlegend für das Konzept einer ‚Sexualität‘, dass sie zu Referenzpunkt jeg­licher Wahrnehmung des Sexuellen wurde“ (S. 312).

Dem heutigen Leser mögen die Konzeptionen des 19. Jahrhunderts als fremd erscheinen, da er es gewohnt ist, ihr Objekt durch die Brille Freuds zu sehen und so widmet sich Weber im Epilog jenem Bruch, den Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie von 1905 markieren.

Freuds Libidokonzepts, das im Gegensatz zum sexualpathologischen Triebmodell nicht auf mechanischen, sondern auf energetischen Denkfiguren beruht, erlaubte es ihm, sowohl an sexualpathologische Wahrnehmungen anzuschließen, als auch mit dem sexualpathologischen Diskurs zu brechen: „Mit den Sexualpathologen wusste Freud von der unbewussten Determination ganzer Biographien durch den Sexualtrieb sowie von dessen homo- und heterosexuellen Gestalten; zusammen mit den Gegnern der Sexualpathologie verweigerte er sich allerdings der Annahme zweier grundsätzlich verschiedener Sexualtriebe und beharrte darauf, dass das Geschlechtsleben bei allen Menschen auf demselben Sexualtrieb beruht. Die Bedeutung der Libidoenergie lag darin, dass mit ihr die differenten Wissensbestände zusammengeführt und dadurch eine gänzlich neue ‚Sexualität‘ entworfen wurde“ (S. 319). Mit der Umstellung auf die Libidotheorie zerbricht zugleich das se­xualpathologische Narrativ: „Die lineare Narration der Triebwirkungen wurde von ­einer biographischen Erzählung unterlaufen, die von den komplexen Transforma­tionen der libidinösen Energie handelte“ (S. 324 f.). Wenngleich sich auch nach Freud die Narrative verschoben haben mögen und die Buntheit des Sexuellen größer als je zuvor zu sein scheint, ist der Trieb zum ­Erzählen des Sexuellen dennoch geblieben, so dass Weber zurecht den „Sexualtrieb als Trieb zum Erzählen“ verstehen kann (S. 327).

Soziologisch und zeitdiagnostisch darf man vielleicht noch anfügen, dass der Trieb zum Erzählen zu einem konstitutiven Merkmal aller abweichenden Sexualitäten geworden zu sein scheint; einem notwendigen Merkmal freilich, weil sich Abweichung nicht nur durch Praktiken, sondern primär durch Erzählung und Reflexion konstituiert und andererseits die Abweichung sowohl ins Diskursive drängt als auch in dieses gedrängt wird – nicht so sehr, um sich zu rechtfertigen, sondern um sich selbst zu verstehen und sich zu verstehen zu geben.

Sven Lewandowski (Hannover)

Otto Penz. Schönheit als Praxis. Über klassen- und geschlechtsspezifische Körperlichkeit. Frankfurt am Main: Campus Verlag 2010 (Reihe: Politik der Geschlechterverhältnisse, Bd. 42). 205 Seiten, EUR 29,90 [4]

Der neueste Band in der seit 1994 im ­Campus Verlag erscheinenden Reihe „Politik der Geschlechterverhältnisse“ behandelt die Schönheitspraxis von Frauen und Männern in westlichen spätmodernen Gesellschaften. Während sich die psychologische Attrak­tivitätsforschung mit der Suche nach all­gemeingültigen Schönheitsidealen wie etwa der Gesichtssymmetrie zu einem beachteten Forschungsfeld entwickelt hat, blieben Schönheitspraktiken im kulturellen Kontext weitgehend unbeleuchtet. Otto Penz hat es sich daher zur Aufgaben gemacht, erstmals systematisch klassen- und geschlechtsspezifische Schönheitshandlungen zu analysieren und sie mit der Frage nach sozialer Macht zu verknüpfen. Es geht dem Soziologen Penz also nicht um die Frage, was als schön oder attraktiv wahrgenommen wird, sondern wie  sich zeitgenössische Schönheitspraktiken (und deren Diskurs) in Abhängigkeit von Geschlecht und Klasse voneinander unter­scheiden und inwiefern sich dieses Handeln auf das Machtgefälle zwischen den ­Milieus auswirkt, indem etwa bestimmte Schönheitsstandards von Mitgliedern hö­herer Klassen gesamtgesellschaftlich durch­gesetzt werden.

Den Ausgangspunkt der in diesem Band publizierten Schönheitsstudie stellt die Theorie Pierre Bourdieus dar, nach der „alle sozialen Felder beziehungsweise der gesellschaftliche Raum insgesamt durch Herrschaft strukturiert werden“ (S. 9) und „sich in Symbolsystemen […] Herrschaft [im Sinne von Gewalt] manifestiert“ (ebd.). Bourdieus Konzeption der symbolischen Gewalt dient Penz dann auch als theoretische Grundlage für seine Studie; denn sie sei, so der Autor, auf dem Gebiet der Schönheit „höchst anschaulich“ (ebd.). Penz' Hypothese, „dass das Schönheitshandeln auf systematische Art und Weise mit sozialen Positionen kor­respondiert, oder anders gesagt, dass die ­jeweilige Ausstattung von Personen [beider Geschlechter] mit kulturellem und ökonomischem Kapital Unterschiede in den Schönheitspraxen bedingt“ (S. 88), zieht sich sodann auch als roter Faden durch seine ­Arbeit. Der Begriff der Schönheitshandlung wird von Penz weit gefasst: das Spektrum reicht hier von alltäglicher Körperhygiene wie Wasch- und Rasurverhalten über Essverhalten und sportliche Aktivitäten bis hin zu Maßnahmen wie Tätowierungen oder chirurgischen Eingriffen. Das Bekleidungsverhalten und sein Diskurs wurden vom ­Autor bei der Befragung bedauerlicherweise vernachlässig. Zwar lassen sich durchaus Fragen und Aussagen zu diesem speziellen Schönheitshandeln finden, sie bleiben aber vereinzelt und entsprechen somit nicht der erheblichen praktischen Bedeutung, die Mode und Bekleidung für viele Menschen im Sinne des Schönseins oder Schönmachens zweifellos hat.

Bevor sich der Autor im zweiten Kapitel mit der „Theorie zeitgenössischer Schönheitspraxis“ beschäftigt, beginnt er mit ­einem knapp gehaltenen, aber interessanten Streifzug durch das Feld der Schönheit der vergangenen 200 Jahre. Penz illustriert hier anschaulich, wie sich Schönheit zur sozial strukturierenden Macht (im Sinne Bourdieus) aufgrund erheblicher kultureller Ver­änderungen entwickelt hat, angefangen bei der Ablösung von Schönheit als normiertem Symbol ständischer Ordnung zu Beginn der Demokratisierung bis hin zur massenhaften Verbreitung von Piercings und Tattoos als Ausdruck von Individualität zum Ende des vorherigen Jahrhunderts.

Hauptgegenstand des hier vorgestellten Bandes ist und bleibt jedoch die Studie, die Penz und Mitarbeiter (allesamt Teil­nehmer an den Seminaren zur Theorie Pierre Bourdieus an der Universität Wien) in zwei Befragungsintervallen in den Jahren 2007 und 2008 durchgeführt haben. Nach einem „Klumpenverfahren“ wurden insgesamt 85 Tiefeninterviews mit berufstätigen Frauen und Männern aus dem Raum Wien im Alter zwischen 25 und 45 Jahren durchgeführt. Personen mit Migrationshintergrund wurden ausgeklammert. Penz diskutiert im vierten Kapitel (zu den methodischen Anmerkungen) diese auf dem ersten Blick bedauerliche Sample-Einschränkung und argumentiert plausibel, dass eine multifaktorielle Erhebung (neben Klasse und Geschlecht) die Aussagekraft der Stichprobe überstrapaziert hätte, obgleich für ihn die Frage „nach ethnischen Ausformungen der Selbstinszenierung in Zuwanderungsländern wie Deutschland und Österreich, zumal unter den Gesichtspunkt von Macht, höchst interessant ist“ (S. 86). Ebenso nicht zur Stichprobe zählten Personen unter 25 Jahren, Nicht-Berufstätige (wie etwa Studierende, Erwerbslose, Hausfrauen) sowie Personen, die am oberen oder unteren Ende der allgemeinen Klassenstruktur stehen, also weder Personen der „wahren“ kulturellen und ökonomischen Oberschicht, noch Personen der Unterschicht. Bei der Interviewstichprobe handelt es sich also um einen mittleren Ausschnitt der ­Gesellschaft und keinesfalls um ein Abbild der west­lichen Gesellschaft insgesamt. Die Berufsgruppen der Befragten reichen von „höheren“ Angestellten und Selbstständigen mit Universitätsabschluss, über „mittlere“ An­gestellte mit und ohne Hochschulabschluss bis hin zu „kleinen“ Angestellten aus dem Dienstleistungssektor sowie Arbeitern mit mittlerer bis niedriger Schul­bildung.

Im fünften Kapitel werden drei Schönheitsklassen, jeweils getrennt nach Männern und Frauen, ausführlich dargestellt und anhand von Fallbeispielen illustriert. Durch systematische Analyse und Verknüpfung von Geschlechter- beziehungsweise Klassenhabitus einerseits und Schönheitspraktiken andererseits haben Penz und Mitarbeiter folgende „Schönheitsklassen“ herausgearbeitet: (1) Frauen der oberen Klasse („Natürlichkeit und Individualität“), (2) Männer der oberen Klasse („Attraktivität als verallgemeinerter Normalzustand“), (3) Frau­en der mittleren Klasse („Schönheit zum ­Wohlfühlen“), (4) Männer der mittleren Klasse („Unauffällige sportliche Schönheit“), (5) Frauen der unteren Klasse („Schönheit durch intensive Pflege“) und (6) Männer der unteren Klasse („Kampf gegen Schweiß und Körpergeruch“).

Im folgenden sechsten Kapitel schließlich werden dann nacheinander die klassen- und geschlechtsspezifischen Differenzen herausgearbeitet. Die Forschungsfrage, der Penz und seine Mitarbeiter zur Überprüfung ihrer Hypothese hier nachgehen, ist also: inwieweit lassen sich systematische Unterschiede hinsichtlich Schönheitspraktiken und -diskursen (1) zwischen den Geschlechtern und (2) zwischen den Klassen finden? Bereits der Umschlagtext des Bandes fasst Penz’ Forschungsergebnisse auf diese Fragen treffend zusammen: „In Schönheitsdiskursen und -praktiken […] zeigt sich sowohl das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern als auch die Unterlegenheit bildungsferner Milieus. Deutlich wird, dass die klassenspezifischen Unterschiede vielfach größer sind als die Differenzen zwischen den Geschlechtern“. Mit anderen Worten: hinsichtlich der Schönheitspraxis sind die gefundenen Geschlechtsunterschiede innerhalb der Klassen, insbesondere der oberen Klasse, deutlich geringer als die Klassenunterschiede innerhalb der jeweiligen Genusgruppe. Die Ergebnisse belegen somit einmal mehr, das im Feld des Schönheitshandelns zwischen den Geschlechtern eine Annäherung stattfindet: Das Sich-Pflegen und das Schönseinwollen ist nicht mehr nur den Frauen vorbehalten, sondern wird heute von immer mehr Männern praktiziert, insbesondere in den oberen Klassen. So zeige sich in den Ergebnissen der Studie auch, dass die Schönheitspraxis maßgeblich durch drei Faktoren bestimmt ist: durch das kulturelle Kapital, die beruflichen Anforderungen an das Erscheinungsbild und – letztlich eben auch – das Geschlecht. Der eigentliche Unterschied, so der Autor, liege dabei weniger im Handeln selbst, sondern vielmehr darin, wie  dieses legitimiert wird. Von Männern der oberen Klassen werden Fitness, Gesundheit, beruf­liche Seriosität als Gründe für ihr Handeln genannt, während Frauen der gleichen Klassen Natürlichkeit, Authentizität und Individualität betonen.

Welche Bedeutung Schönheitshandlungen dann im Kontext moderner Macht­verhältnisse haben, wird im letzten Buch­abschnitt resümierend diskutiert. Nach Ansicht des Autors wird vor allem eines deutlich: Je geringer das ökonomische und kulturelle Kapital (und damit die Handlungsressourcen), desto höher ist die individuelle Bedeutung für das eigene körper­liche Erscheinungsbild. Besonders Frauen der unte­ren Klassen gehorchen den Schönheitsanforderungen (der oberen Klassen) „weitgehend unreflektiert“ (S. 200). Insofern stellen die Schönheitsanforderungen für Penz dann auch „ein Paradebeispiel für die Mechanismen symbolischer Gewalt in der Gegenwartsgesellschaft dar“ (S. 200).

Penz und seinen MitautorInnen gelang ein Buch, das Aufschluss über klassen- und geschlechtsspezifische Schönheitshandlungen gibt. Nicht zuletzt die differenzierte Betrachtungsweise und die Verknüpfung von Schönheit und Machtverhältnissen machen „Schönheit als Praxis“ zu einem interessanten, klugen und daher lesenswerten Buch.

André Aude (Hamburg)

  • 1 Amendt Günter, Schmidt Gunter, Sigusch Volkmar Hrsg. Sex tells. Sexualforschung als Gesellschaftskritik. Hamburg: Konkret-Verlag; 2011. 144 Seiten, EUR 19.–
  • 2 Schetsche Michael, Schmidt Renate Berenike Hrsg. Sexuelle Verwahrlosung. Empirische Befunde – Gesellschaftliche Diskurse – Sozialethische Reflexionen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; 2010. 240 Seiten, EUR 24,95
  • 3 Weber Philippe. Der Trieb zum Erzählen. Sexualpathologie und Homosexualität, 1852–1914. Bielefeld: transcript; 2008. 378 Seiten, EUR 29,80
  • 4 Penz Otto. Schönheit als Praxis. Über klassen- und geschlechtsspezifische Körperlichkeit. Frankfurt am Main: Campus Verlag; 2010. (Reihe: Politik der Geschlechterverhältnisse, Bd.  42 ). 205 Seiten, EUR 29,90
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