Psychiatr Prax 2011; 38(2): 104-107
DOI: 10.1055/s-0031-1275227
Mitteilungen der BDK

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Zehn-Thesen-Papier der BDK zum Neuen Entgeltsystem in Psychiatrie und Psychotherapie[1]

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Publication Date:
10 March 2011 (online)

 

Die Entwicklung eines neuen Entgeltsystems in der Psychiatrie und Psychotherapie, wie sie das KHG von 2009 vorschreibt, darf nur gleichzeitig mit der in diesem Gesetz ebenfalls normierten vollständigen Anpassung der finanziellen Ausstattung des stationären psychiatrischen Versorgungssystems an die Anforderungen der PsychPV (100%ige PsychPV Erfüllung) erfolgen. Nur diese finanzielle Ausstattung darf als Ausgangspunkt für eine leistungsorientierte Umverteilung der Mittel dienen. Die Psychiatriepersonalverordnung von 1991 legt normativ die Personalbedarfe fest, die bei der stationären Behandlung verschiedener Patientengruppen entstehen. Hierbei wird nicht nur der Personalbedarf berücksichtigt, der dem einzelnen Patienten direkt und persönlich zugerechnet werden kann, sondern auch der milieu-orientierte Bedarf der zum Betrieb einer psychiatrischen Station notwendig ist. Bis heute ist die PsychPV gesetzliche Grundlage der personellen Ausstattung psychiatrischer Kliniken. Dennoch ist die Lage seit Mitte der 1990er-Jahre geprägt durch eine zunehmende Erosion der PsychPV, da die Krankenhausbudgets gedeckelt wurden und gleichzeitig die Zahl der Behandlungsfälle deutlich anstieg. Dieser Anstieg wurde nur teilweise durch eine deutliche Abnahme der Verweildauer kompensiert. In der Summe ist die durchschnittliche Erfüllung der PsychPV bis Ende 2008 unter 90% gesunken. Im KHG von 2009 wurde neben den Bestimmungen zur Entwicklung des neuen Entgeltsystems festgelegt, dass die Mittel zur vollständigen Erfüllung der PsychPV durch die Kostenträger bereit zu stellen sind. Dies ist von besonderer Bedeutung, weil sich das neue Entgeltsystem nicht an normativen Vorgaben orientiert, sondern auf der Basis der realen Aufwendungen entwickelt werden soll. Deshalb kann nur eine 100%ige Erfüllung der PsychPV vor Einführung des neuen Entgeltsystems verhindern, dass die bisherige Mangelsituation fortgeschrieben wird. Konkrete Forderungen: - Die Finanzierung der psychiatrischen Krankenhäuser darf nicht den Regelungen des GKV-FinG unterworfen werden. - Die politischen Instanzen sollen auf die Kostenträger einwirken möglichst rasch eine flächendeckende 100%ige Erfüllung der PsychPV umzusetzen. - Die Erfüllung der PsychPV muss ausgehend vom Erfüllungsgrad am 31.12.2008 durch tatsächliche Budgeterhöhungen in den einzelnen Krankenhäusern erfolgen. 2. Ziel muss im stationären und teilstationären Bereich die Entwicklung leistungs- und aufwandsgerechter Tagessätze sein. Fallpauschalen sind für der Psychiatrie und Psychotherapie nicht geeignet, weil sie zu Fehlsteuerungen zum Nachteil der Patienten führen. Das KHG enthält den eindeutigen Auftrag, auf Basis der PsychPV ein durchgängiges, leistungsorientiertes und pauschalierendes Vergütungssystem auf der Grundlage von tagesbezogenen Entgelten einzuführen. In der Gesetzesbegründung ist klargestellt, dass Fallpauschalen wie sie im DRG System konzeptualisiert sind, sich generell für psychiatrische Erkrankungen nicht eignen. Der Tagesbezug der Entgelte ist sachlich im Wesentlichen aus 2 Gründen geboten: a) Ein pauschaler Anreiz zur Verweildauerverkürzung, wie er durch fallbezogene Entgelte erzeugt wird, wird den Behandlungsbedürfnissen psychiatrischer Patienten nicht gerecht. Schon jetzt wird in den meisten Akutkliniken für Psychiatrie und Psychotherapie die Verweildauer, die sich in den letzten 20 Jahren ohnehin schon halbiert hat, v.a. durch den immensen Aufnahmedruck bestimmt. Patienten werden also häufig zu früh entlassen. Dies wird durch Studien belegt, die zeigen, dass die reale mittlere diagnosebezogene Verweildauer häufig unter der liegt, die eine rasche Wiederaufnahme verhindert. Es wird also nicht nur ein Drehtüreffekt erzeugt, sondern die patientenbezogene Inanspruchnahme stationärer Behandlungsleistungen nimmt teilweise sogar zu. b) Zeit ist ein wesentlicher Wirkfaktor jeder psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung. Im stationären und teilstationären Behandlungsbereich bedeutet dies, dass bestimmte Milieufaktoren wie Reizabschirmung oder Tagesstrukturierung neben den spezifischen pharmakologischen und psychotherapeutischen Behandlungsmaßnahmen für den Therapieerfolg unabdingbar sind. Nach gegenwärtigem Kenntnisstand gibt es aber keine patientenbezogenen Charakteristika, die bei Behandlungsbeginn in der Lage wären, den spezifischen Zeitbedarf des einzelnen Patienten hinreichend trennscharf voraus zu sagen. Konkrete Forderungen: - Das neue Entgeltsystem für Psychiatrie und Psychotherapie muss so entwickelt werden, dass eine leistungsgerechte Vergütung tagesbezogen erfolgt. - Pauschale rein ökonomische Anreize zu einer Verweildauerverkürzung, wie sie fallbezogene Vergütungen induzieren, müssen vermieden werden. - Es sollte eine Versorgungsforschung etabliert werden, die versucht mögliche Faktoren zu isolieren, die die immense interindividuelle Streuung der Verweildauern erklären könnten. Das neue Entgeltsystem muss ausgehend von der PsychPV qualitätssichernde Elemente enthalten, die verhindern, dass es in der stationären Versorgung zu einer kommerziell motivierten Erosion personeller Standards kommt. Beim Übergang zum neuen Entgeltsystem drohen normative Elemente der PsychPV verloren zu gehen, die für die Sicherstellung der speziellen Bedürfnisse psychisch Kranker unabdingbar sind. So besteht zum Beispiel die Gefahr, dass in Zukunft die regionale Pflichtversorgung und die Finanzierung der damit verbundenen Vorhaltekosten der Kliniken nicht mehr gesichert finanziert sind. Ähnliches gilt für die regionale Vernetzung mit dem komplementären Bereich, die eine Pflichtvorgabe für psychiatrische und psychotherapeutische Kliniken bleiben muss. Deshalb können im neuen System Fehlanreize entstehen, sich auf ökonomisch attraktive psychotherapiefähige Patienten zu konzentrieren und chronisch Kranke mit ihren spezifischen Bedürfnissen zu vernachlässigen. Die derzeitige Fokussierung des Entgeltsystems auf lange Therapieeinheiten leistet solchen Entwicklungen Vorschub und gefährdet auch die Multiprofessionalität von Psychiatrie und Psychotherapie, die auch für die Behandlung chronisch Kranker von hoher Bedeutung ist. Konkrete Forderungen: - Qualitätssichernde Elemente, die den Basisstandard einer Versorgung aller Patienten festlegen (Pflichtversorgung etc.), müssen an geeigneter Stelle in den Bestimmungen des neuen Entgeltsystems verankert werden. Das neue Entgeltsystem darf ökonomische Anreize zur Verkürzung der fall- oder patientenbezogenen stationären oder teilstationären Verweildauer nur in dem Umfang enthalten, in dem auch tatsächlich die realen Möglichkeiten für eine Intensivierung ambulanter Behandlungskonzepte geschaffen werden. Im momentanen Entwicklungsstand beziehen sich die Planungen zum neuen Entgeltsystem in der Psychiatrie ausschließlich auf den stationären und teilstationären Bereich. Dies ist als erster Arbeitsschritt sicherlich sinnvoll. In der Psychiatrie und Psychotherapie besteht aber im Gegensatz zur somatischen Medizin an den Fachkliniken und auch den Abteilungspsychiatrien seit vielen Jahren ein über den Versorgungsauftrag des §116 SGB V hinausgehender ambulanter Versorgungszweig. Unter den Rahmenbedingungen des §118 SGB V hat sich der Bereich der ambulanten Versorgung im Rahmen psychiatrischer Institutsambulanzen mittlerweile als wesentlicher Teil der ambulanten Versorgung psychisch kranker Menschen etabliert. Die Institutsambulanzen übernehmen die Behandlung der Patienten, die wegen Art, Schwere oder Dauer dieser speziellen Behandlungsform bedürfen. Es handelt sich bei der stationär/teilstationären und der ambulanten Versorgungsstruktur um eng aufeinander bezogene Systeme, bei denen eine Veränderung im einen Bereich unmittelbar eine Folgewirkung im anderen Bereich nach sich zieht. Wenn nun durch die Strukturen des neuen Entgeltsystems Anreize geschaffen werden sollen, den Umfang stationärer und teilstationärer Behandlung zu reduzieren und ambulante Behandlung zu stärken, dann müssen hierfür zunächst im ambulanten Bereich die notwendigen Voraussetzungen und Regularien geschaffen werden. Der ambulante Sektor muss dann v.a. in den Übergängen zum stationären Bereich äußerst flexibel tätig werden können, um die notwendige intensive ambulante Behandlung realisieren zu können. Konkrete Forderungen: - Anreize zur weiteren Verkürzung der stationären Verweildauer setzen zuvor zwingend die Verbesserung der Behandlungsstrukturen der Institutsambulanzen voraus, unbeschadet des zusätzlichen Verbesserungsbedarfes im Bereich der KV finanzierten Leistungen - Diese intensivierte ambulante Behandlung einschließlich des Home-treatments sollte abhängig vom Personaleinsatz und damit von der Ressourcenbereitstellung kostendeckend finanziert sein. Grundsätzlich soll das neue Entgeltsystem geeignet sein, bürokratische Hürden an sektoralen Grenzen zu beseitigen oder zu minimieren. Hierzu können sektorübergreifende Budgets hilfreich sein, solange sie nicht im Sinne einer Deckelung das Risiko von Kostensteigerungen einseitig den Patienten und Leistungserbringern aufbürden. Deutschland nimmt derzeit eine führende Rolle in der Diversifizierung von Kostenträgern zur Finanzierung verschiedener Teilbereiche stationärer und ambulanter medizinischer Behandlung sowie psychosozialer Betreuung und Versorgung ein. Dies erschwert insbesondere bei komplexem Hilfebedarf eines Patienten häufig die Abstimmung der notwendigen Hilfe und deren Finanzierung. Für den Bereich der psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung durch Fachkliniken und Abteilungen sollte ein integratives Entgeltsystem entwickelt werden, das – zumindest innerhalb dieses Sektors – problemlose Übergänge zwischen ambulanter, teilstationärer und stationärer Behandlung mit allen denkbaren Zwischenstufen ermöglicht. Auf eine gute Passung zu den Zuständigkeitsbereichen der Rentenversicherungen, der Wiedereingliederungshilfe und der Pflegekassen ist ergänzend zu achten. Es sind für das neu zu entwickelnde Entgeltsystem in der Psychiatrie und Psychotherapie Modelle abzulehnen, die im Sinne eines regionalen Gesamtbudgets im Wesentlichen der Kostendämpfung dienen und – im Nebenschluss – häufig das Morbiditätsrisiko von den Kostenträgern auf die Leistungserbringer und teilweise auf die Patienten übertragen. Angesichts der regional sehr unterschied.lichen Strukturen der psychiatrisch/psychotherapeutischen Versorgung in Deutschland sollte die Erprobung derartiger budgetärer Experimente den dafür besser geeigneten IV-Verträgen überlassen bleiben. Auch bei diesen sollte sich aber die Budgetierung immer auf den einzelnen Patienten (oder eine definierte Zahl von Patienten) und nicht auf eine Region als solche beziehen. Die Überwindung der von den Patienten seit vielen Jahren als äußerst beschwerlich erlebten Trennung zwischen dem stationären und dem ambulanten Sektor könnte jedoch im neuen Entgeltsystem bereits gebahnt werden und zu einer wesentlichen Erleichterung aller Beteiligten und zu einem sinnvollen Einsatz der von den Kostenträgern zur Verfügung gestellten Ressourcen beitragen. Konkrete Forderungen: - Wesentlicher Motor für eine intensivierte ambulante Behandlung zu Lasten des stationären Sektors darf nicht grundsätzlich der Wunsch der Kostenersparnis sein, weil gute und intensive ambulante Angebote durchaus den Kostenumfang einer teilstationären oder sogar stationären Behandlung erreichen können. - Die Einbeziehung ambulanter Angebote in das Budget von Kliniken sollte deshalb deren Gesamtbudgets im stationären, teilstationären und ambulanten Bereich nicht schmälern. Es muss sichergestellt sein, dass die besonders hohen personellen Anforderungen an die Gewährleistung einer gemeindenahen Pflichtversorgung für akut schwer psychisch Kranke, und für Patienten, die gegen ihren Willen untergebracht sind, ausreichende Berücksichtigung im neuen Entgeltsystem finden. Im Rahmen der gemeindenahen Pflichtversorgung von schwer psychisch Kranken, die häufig zumindest zeitweise gegen ihren Willen in der Klinik untergebracht werden müssen, ist die stationäre Behandlung der Akutsymptomatik ein Baustein in einem mittelfristig angelegten Gesamtbehandlungsplan, der zukünftige Erkrankungsrückfälle gefolgt von (unfreiwilligen) Klinikeinweisungen weitgehend verhindern soll. Wesentliche Elemente hierfür, die in einem neuen Entgeltsystem abgebildet werden müssen, sind weniger einzelne, zeitlich ausgedehnte Therapieeinheiten, als der Aufbau einer besonders guten therapeutischen Beziehung zum Patienten (z.B. Bezugspflege mit vielen täglichen Einzelkontakten), die Kontaktaufnahme und Optimierung der Schnittstellen zu den außerklinischen Versorgungsanbietern und psychosozialen Diensten einschließlich multiprofessioneller Fallbesprechungen sowie die fachgerechte Analyse von rückfallfördernden Faktoren im psychosozialen Umfeld und die Schaffung von ambulanten Perspektiven, die insbesondere die Kooperationsbereitschaft einschließlich der medikamentösen Compliance dieser Patienten unterstützen. Derartige Leistungen, die sowohl das Potenzial zur deutlichen Besserung ungünstiger Erkrankungsverläufe als auch zur Reduzierung stationärer Wiederaufnahmeraten besitzen, sollten im Sinne eines gemeindenahen Case Managements gesondert als Komplexleistung abgebildet werden können. In Bezug auf die Bewertung des Personalbedarfs ist nicht nur die Tatsache einer Unterbringung gegen den Willen mit einer höheren Personalausstattung zu berücksichtigen, sondern auch andere diagnose- und patientenbezogene Merkmale und Umstände, die mit einem deutliche erhöhtem Personalbedarf einhergehen. Konkrete Forderungen: - Gewährleistung einer besonders intensiven Betreuung von Patienten, die gegen ihren Willen untergebracht sind, einschließlich einer Finanzierung eines Schnittstellenmanagements, wie z.B. intensiver Zusammenarbeit mit sozialpsychiatrischen Diensten, gemeindepsychiatrischen Angeboten etc. bei gleichzeitiger Bereitstellung von Vergütungsanreizen für die rasche Wiederherstellung eines freiwilliges Behandlungsrahmens. - Zukünftige Bewertung aller geplanten psychiatrischen OPS-Ver.änderungen durch eine Expertenkommission in Bezug auf mögliche Fehlanreize insbesondere in Bezug auf die gemeindepsychiatrische Versorgung. Das neue Entgeltsystem muss der Tatsache Rechung tragen, dass psychiatrische Patienten in einer alternden Gesellschaft zunehmend multimorbid sind und deswegen im psychiatrischen Krankenhaus, bzw. in einer psychiatrischen Abteilung auch zunehmend somatische Versorgungsbedarfe entstehen. In der Gerontopsychiatrie müssen häufig somatische Komorbiditäten mitbehandelt werden, wobei es sich in der Regel um mehrere sich gegenseitig destabilisierende Symptombereiche handelt, die sorgfältig in ein Gleichgewicht gebracht werden müssen, ohne dass die Patienten einer destabilisierenden Belastung durch eine zu hohe Dichte diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen ausgesetzt werden. Dies allein fordert längere Behandlungszeiten. Die Beeinträchtigungen der körperlichen Belastbarkeit, die reduzierte sensorische (Sehfähigkeit, Hörvermögen) und kognitive Leistungsfähigkeit sowie die Kombination aus erkrankungs- und altersbedingter Verlangsamung der Patienten generieren einen erhöhten Zeit- und persönlichen Unterstützungsbedarf, sowohl bei der Diagnostik als auch bei der Therapie. Zusätzlich müssen aufgrund vielfältiger Abhängigkeiten und Unterstützungsbedarfe zwingend die Bezugspersonen der Patienten einbezogen werden, was einen weiteren zusätzlichen Zeitbedarf bedingt. Konkrete Forderungen: - Der erhöhte Zeit- und personelle Betreuungsaufwand im Vergleich zur Allgemeinpsychiatrie und Somatik muss im neuen Entgeltsystem für alle Berufsgruppen abgebildet werden. - Hierzu reicht die bloße Erfassung von somatischen Zusatzdiagnosen nicht aus, sondern es müssen auch der somatische Diagnostik- und Therapieaufwand unter Berücksichtigung des Alters der Patienten berücksichtigt werden. Die zur Entwicklung des neuen Entgeltsystems und zu seiner späteren Anwendung notwendigen zusätzlichen bürokratischen Aufwendungen müssen so gering wie möglich gehalten werden. Der Anspruch des KHG, bei der Entwicklung des neuen Entgeltsystems ausufernde Bürokratie zu vermeiden, wird durch die tatsächliche aktuelle Entwicklung konterkariert. Die derzeitigen praxisfernen Kodierungsvorgaben führen dazu, dass enorme Ressourcen in Leistungserfassung und Kodierung umgeleitet werden, sodass die Zeit, die für direkte Patientenkontakte zur Verfügung steht, weiter reduziert wird. Darüber hinaus ist ausufernde Bürokratie ein wesentlicher Grund der Abwanderung von Ärzten aus den klinischen Fächern, auch aus der Psychiatrie. Dem gilt es mit aller Macht entgegenzuwirken. Konkrete Forderungen: - Zusätzliche bürokratische Aufwendungen müssen finanziell ausgeglichen werden und dürfen nicht zulasten der Patientenversorgung gehen. - Nicht aufwandstrennende Codierungen sind so bald wie möglich einzustellen. - Darüber hinaus ist sicherzustellen, dass durch die zu erwartende Prüftätigkeit des MDK keine weitere bürokratische Eskalation erfolgt. - Zusätzlich sind finanzielle Sanktionen zu erwägen, um die überbordenden Kontrolltätigkeiten der Kostenträger einzugrenzen. Dokumentation und Datenübermittlung zur Entwicklung und späteren Anwendung des neuen Entgeltsystems müssen die besonderen Belange psychisch kranker Menschen und den Schutz ihrer Privatsphäre berücksichtigen. Anders als somatische Erkrankungen sind psychiatrische Erkrankungen von der reziproken Interaktion mit dem psychosozialen Umfeld geprägt. Hier finden sich wesentliche (Teil-)Ursachen für die jeweilige Erkrankung und ihren Verlauf, und die Erkrankung wirkt sich wiederum selbst auf die soziale Anpassung aus. Beispiele für besonders sensible Inhalte der Dokumentation sind Zwangsmaßnahmen wegen Fremdgefährdung, Beurteilungen der Geschäftsfähigkeit, oder Verhaltensweisen, die in Zusammenhang mit der psychischen Erkrankung stehen, aber grundsätzlich strafrechtliche Ermittlungen bzw. Konsequenzen nach sich ziehen könnten (z.B. Beschaffungskriminalität). Hier muss der kriminalpräventive Charakter einer psychiatrischen Behandlung betont und durch die verlässliche Wahrung der Schweigepflicht erhalten werden. Vergleichbares gilt für Symptommitteilungen, die voreilige Rückschlüsse auf die Geschäftsfähigkeit zulassen. Diese Ausführungen machen exemplarisch deutlich, dass die besonderen Anforderungen an den Datenschutz gerade bei psychisch Erkrankten dringend berücksichtigt werden müssen. Die höhere Transparenz in der Leistungsvergütung nach dem neuen Entgeltsystem in der Psychiatrie darf nicht mit einer Transparenz der Biografie und Lebenssituation der betroffenen Patienten für die Kostenträger einhergehen. Hier muss einem mög.lichen Konflikt zwischen ökonomischen und medizinisch-ethischen Interessen wirksam begegnet werden. Konkrete Forderungen: - Bei der Darstellung kostentrennender Merkmale in der Behandlung der einzelnen Patienten muss strikt darauf geachtet werden, dass diese mindestens so grobrasterig sind, dass sie sich nicht für eine Identifizierung des konkret vorliegenden Problems eignen. - Einzeln aufgezählte und somit identifizierbare Merkmale wie die Unterbringung wegen Fremdgefährdung, völlige Desorientiertheit oder psychotische Situationsverkennungen sollten deshalb vermieden werden. - Stattdessen sollten heterogene Merkmale, die gleichwohl einen vergleichbaren therapeutischen Aufwand verursachen, nur in Form eines Beispielkatalogs (in spiegelstrichartiger Auflistung) übermittelt werden, der keine unmittelbaren Rückschlüsse auf die oben beschriebene Konstellation zulässt. Die Entwicklung des neuen Entgeltsystems erfolgt nach dem Willen des Gesetzgebers durch die Selbstverwaltungspartner. Deren Arbeit muss durch eine unabhängige, fachlich orientierte Expertenkommission unterstützt werden. Das psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgungssystem in Deutschland ist in besonderem Maße einer Zersplitterung in unterschiedliche sektorale Finanzierungsbereiche unterworfen. Gemeindenahe Pflichtversorgungseinrichtungen, überregionale Spezialangebote, rehabilitative Angebote der Psychosomatik und der Suchtfachkliniken sowie forensische Fachabteilungen versorgen teilweise die gleichen Patienten in unterschiedlichen Erkrankungsphasen. Eine vergleichbare Diversifizierung zeigt sich in der ambulanten Versorgung, die durch niedergelassene ärztliche und psychologische Psychotherapeuten, Psychiater, Nervenärzte, Fachärzte für Psychosomatische Medizin sowie forensische Fachambulanzen und schließlich psychosoziale Beratungsstellen und gemeindepsychiatrische Dienste erfolgt. Der exorbitante Anstieg des Anteils forensisch untergebrachten Patienten in den letzten 10 Jahren, der in einigen Bundesländern inzwischen mehr als 15% beträgt, zeigt, dass sich Eingriffe in einem Zweig des Versorgungssystems (Personalabbau und Verweildauerverkürzung in der gemeindenahen Regelversorgung) auf alle anderen psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungsstrukturen in erheblichem Maß auswirken können. Diesen gesundheitspoltischen Rahmenbedingungen können die Selbstverwaltungspartner einschließlich des InEK nur in beschränktem Umfang Rechnung tragen, da sie nur den durch die Krankenkassen finanzierten Teil des psychiatrisch-psychosomatisch-psychotherapeutischen Versorgungssystems repräsentieren und zudem auch innerhalb der einzelnen Verhandlungsparteien unterschiedliche strategische Interessen bestehen. Um die fachliche Grundlage für die vor Einführung eines neuen Entgeltsystems notwendigen gesundheitspolitischen Entscheidungen zu schaffen, ist die umgehende Einsetzung einer unabhängigen Expertenkommission zu fordern, die den Entwicklungsprozess des neuen Entgeltsystems konstruktiv-kritisch begleitet, mögliche Fehlsteuerungen frühzeitig identifiziert und die politischen Gremien abschließend berät. Konkrete Forderungen: - Eine Expertenkommission zur Begleitung der Entwicklung des neuen Entgeltsystems muss umgehend eingerichtet werden. - Diese Expertenkommission sollte vom BMG berufen werden - Mitglieder der Expertenkommis.sion sollten Vertreter der stationären und teilstationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Einrichtungen und Vertreter von Angehörigen- und Patientenverbänden sein.

01 Dieses Papier wurde zwischen April und Oktober 2010 von der Kommission "Neues Entgeltsystem" der BDK (Mitglieder: Prof. Dr. Thomas Pollmächer [Vorsitzender], Prof. Dr. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Dr. Felix Hohl-Radke, Prof. Dr. Ansgar Klimke, Dr. Manfred Koller, Prof. Dr. Gerhard Längle und Dr. Rolf Speier) formuliert, mit dem BDK-Vorstand abgestimmt und am 22. Oktober bei der Herbst-Tagung der BDK in Bielefeld von den anwesenden BDK-Mitgliedern einstimmig befürwortet.

01 Dieses Papier wurde zwischen April und Oktober 2010 von der Kommission "Neues Entgeltsystem" der BDK (Mitglieder: Prof. Dr. Thomas Pollmächer [Vorsitzender], Prof. Dr. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Dr. Felix Hohl-Radke, Prof. Dr. Ansgar Klimke, Dr. Manfred Koller, Prof. Dr. Gerhard Längle und Dr. Rolf Speier) formuliert, mit dem BDK-Vorstand abgestimmt und am 22. Oktober bei der Herbst-Tagung der BDK in Bielefeld von den anwesenden BDK-Mitgliedern einstimmig befürwortet.

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