Suchttherapie 2011; 12(1): 42
DOI: 10.1055/s-0031-1272959
Interview

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

ICF und Suchthilfe

Fragen an die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen
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Publication Date:
21 February 2011 (online)

? Welche Bedeutung hat die ICF für die Suchtpsychiatrie?

Sucht manifestiert sich als komplexes psychisch-körperliches Syndrom, das als Abhängigkeitssyndrom definiert ist. Wie jede psychische Erkrankung ist Sucht nach den Regeln der ICD zu diagnostizieren und kurativ zu behandeln mit dem sozial-medizinischen Ziel "Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit". Psychische Erkrankungen gefährden die Teilhabe am Arbeitsleben oder am Leben in der Gesellschaft; es hat sich in der Psychiatrie bewährt, das biologisch-medizinisch begründete kurative Handeln um psychosoziale Aspekte zu erweitern und einer mehr ganzheitlichen Betrachtung zuzuführen. Für die Diagnostik der funktionalen Gesundheit ist die ICF ein mächtiges System zur strukturierten Beschreibung von Funktionen, Aktivitäten und Teilhabefähigkeiten. Gerade bei Suchtkranken sind frühzeitig rehabilitative Maßnahmen zur Entwöhnung zu prüfen und ggf. einzuleiten mit dem Ziel "Erhalt bzw. Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit". Suchtkranke benötigen kurative und rehabilitative Behandlung gleichermaßen.

? Stichwort neues Entgeltsystem in der stationären Psychiatrie und auch der Suchtpsychiatrie: Welche Bedeutung hat die ICF für die qualifizierte Entzugsbehandlung?

Die qualifizierte Entzugsbehandlung ist eine wirksame Behandlung des Abhängig-keitssyndroms. Um den dazu erforderlichen Ressourcenbedarf adäquat abzubilden, bedarf es zukünftig des gesamten in der Psychiatrie und Psychotherapie zur Verfügung stehenden Systems an Komplex-OPS, die zurzeit entwickelt und validiert werden. Der für die Belange der körperlichen Entgiftung in den somatischen Kliniken geschaffene OPS 8-985 hat nicht das gesamte (biopsychosoziale) Abhängigkeitssyndrom im Fokus. Die gravierenden strukturellen und prozessualen Unterschiede des Leistungsgeschehens erfordern in der Suchtpsychiatrie differenzierte therapeutische Vorgehensweisen unter Einbezug der ICF, z.B. bei der Klärung des Rehabilitationsbedarfs.

? Welche Bedeutung hat die ICF für die ambulante Suchthilfe und die medizinische Rehabilitation suchtkranker Patienten?

Die kurative Medizin ist da zu Ende, wo es um die Behebung gesundheitlicher Probleme aufgrund von Schädigungen der Körperfunktionen und Körperstrukturen, der Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe – unter Berücksichtigung der Kontextfaktoren – geht. Insofern wird der Suchtkranke auch als Behinderter bzw. von Behinderung Bedrohter angesprochen. Die ambulante Suchthilfe ist mittlerweile der leistungsstärkste Zweig der rehabilitativ orientierten Suchthilfe. Die ICF ermöglicht die strukturierte Erfassung des Rehabilitationsbedarfs unter Berücksichtigung der umwelt- und personenbezogenen Kontextfaktoren. Daher ist sie bei der Feststellung des ambulanten oder stationären Reha-Bedarfs, bei der funktionalen Diagnostik des Aktivitäts- und Teilhabeniveaus, Reha-Management, der Interventionsplanung und Evaluation rehabilitativer Leistungen nutzbar.

In der Suchthilfe zeichnet sich ein Trend hin zum Ausbau der Überlebens- und niederschwelligen Hilfen auf Kosten der weitergehenden Ausstiegsperspektiven ab: Welche Bedeutung hat hier die ICF?

Die ICF ist kein Instrument zur Bewältigung der kaufmännischen Herausforderung des sparsamen Wirtschaftens. Sie kann aber einen wichtigen Beitrag zur bedarfsgerechten Ressourcenallokation, also "gerechten" Verteilung notwendiger Leistungen, beitragen. Ziel muss sein, Suchtkranken, die einen spezifischen, nach dem System der ICF beschreibbaren Hilfebedarf haben, die ferner über die notwendige Rehabilitationsfähigkeit (z.B. Motivation bzw. Motivierbarkeit und Belastbarkeit) verfügen und von einer passenden (Teilhabe)Leistung profitieren können (Prognosekriterium!), einer geeigneten Maßnahme zuzuführen. Eine strikte Anwendung der gesetzlich vorgegebenen Entscheidungskriterien auf der Basis der ICF ist eine ökonomische Alternative zum kaufmännischen Prinzip des Sparens um des Sparens willen. Mit der Systematik der ICF sind nicht nur die einseitig präferierten medizinischen Rehabilitationsbedarfe, sondern insbesondere Bedarfe der niederschwelligen Hilfen, der Hilfen zum (Über)Leben – ggf. auch mit Sucht – benennbar. Es geht im Versorgungssystem der Suchthilfe um das Gesamtbild der negativen Auswirkungen der Sucht auf das Leben eines Betroffenen, also der Mobilität, der Kommunikation, der Selbstversorgung, des häuslichen Lebens, der Interaktionen mit anderen Menschen und Behörden und des Erwerbslebens.

? Sucht als bio-psycho-sozial be-dingtes Phänomen und Suchthilfe und -therapie als mehrdimensionale Herausforderung: Welche Chancen und Risiken liegen im ICF?

Die ICF kann aufgrund ihres bio-psycho-sozialen Ansatzes die interdisziplinäre Kommunikation verbessern. Insofern bietet sie die Chance einer systemübergreifenden "Sprache" mit der Möglichkeit der stärkeren Integration des medizinischen, suchtpsychiatrischen und Suchthilfe spezifischen Versorgungssystems; damit ist eine bessere Nutzung von Synergien statt der Verfolgung ressourcenzehrender Optimierung von Einzelsystemen erreichbar. Zudem umfasst die ICF auch die personale Ebene und damit die subjektive Sicht des Suchtkranken. Sie soll nicht zuletzt auch bei den betroffenen Menschen selbst ein bio-psycho-soziales Verständnis der Krankheit und der mehrdimensionalen Behandlung fördern. Die Denkweise der ICF wird zukünftig das diagnostische und therapeutische Handeln auf allen Versorgungsebenen stärker prägen. Dieses komplexe Instrument zur Klassifikation des Hilfebedarfs kann die Leistungsträger und -erbringer schnell überfordern. Sie muss sukzessive an den (klinischen) Alltag angepasst werden.

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