Suchttherapie 2011; 12(1): 7
DOI: 10.1055/s-0030-1270463
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health)

T. Kuhlmann
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Publication Date:
11 February 2011 (online)

Dr. med. T. Kuhlmann

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Der Konsum psychotroper Substanzen ist mit der menschlichen Kulturgeschichte seit Jahrtausenden untrennbar verbunden. Wenn sich daraus süchtiges Verhalten entwickelt, liegen dem vielfältige Ursachen zugrunde, die gemeinsam berücksichtigt werden müssen, um eine – falls erforderlich – angemessene Behandlung zu entwickeln, umzusetzen und die Betroffenen vor Ausgrenzung zu bewahren. Diese Erkenntnis ist im bio-psycho-sozialen Modell zusammengefasst und gilt in der Sucht- (und Drogen-) hilfe als Binsenwahrheit.

Die WHO hat diesen Aspekt bereits vor Jahrzehnten aufgegriffen und ein Konzept entwickelt, um die bio-psycho-soziale Dimension differenziert zu erfassen und für die Praxis zu nutzen. Dieses Konzept ist die ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) und als Ergänzung zur ICD (International Classification of Diseases) zu verstehen, in welcher die Krankheiten, nicht aber die Krankheitsfolgen, also die Auswirkungen der Krankheit auf das Leben des einzelnen Menschen, abgebildet werden. Diese Krankheitsfolgen jedoch sind entscheidend für die Frage, welche Hilfen ein Mensch braucht, der z. B. suchtkrank ist.

Dieser Bedarf lässt sich mittels ICF differenziert bestimmen und ermöglicht darüber hinaus internationale Vergleiche. Maßstab ist nicht der kranke, sondern der gesunde Mensch. Es geht darum herauszufinden, welchen Unterstützungsbedarf ein Mensch mit Behinderungen benötigt, um die gleichen Chancen auf umfassende Reintegration zu haben wie ein Mensch ohne Behinderungen.

Das Kernstück dieser Reintegration ist die Teilhabe (Partizipation), also die Möglichkeit, umfassend am gesamten gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, anders ausgedrückt: Im realen Leben nicht ausgegrenzt zu sein wegen einer Behinderung. Dieses ICF-Konzept ist längst Teil unserer Sozialgesetzgebung, insbesondere im SGB IX und prägt wesentlich den Auftrag und die konkrete praktische Arbeit der Rentenversicherungen und damit die medizinische Rehabilitation.

Wenn die Implementierung der ICF in unserer Sozialgesetzgebung und die unermüdliche und differenzierte Verbreitung der diesbezüglich erforderlichen Informationen mit einer Person verbunden werden können, dann mit Michael Schuntermann, der in seinem Beitrag umfassend auf die Philosophie, Geschichte und auch Probleme des ICF eingeht.

Heribert Fleischmann, Vorsitzender der DHS, langjähriger Vorsitzender des Suchtausschusses der BDK und Ärztlicher Direktor einer psychiatrischen Versorgungsklinik, nimmt im Interview Stellung zur Bedeutung der ICF für die Suchthilfe und die aktuellen Herausforderungen.

In den Niederlanden ist das gesamte Suchthilfesystem in den letzten Jahren fundamental verändert worden, u. a. durch die Implementierung der ICF-Philosophie in der Suchthilfe mittels des MATE-Konzepts (Measurements in the Addictions for Triage and Evaluations – ICF-Coreset and needs for care). Ein Zwischenfazit ziehen Angela Buchholz und Daniel Schippers. Verglichen werden Erfahrungen in den Niederlanden und in Deutschland in unterschiedlichen Settings.

Die praktische Arbeit mit der ICF erfordert die differenzierte Beschreibung über eine Vielzahl von Codierungen. Eine bundesweite Arbeitsgruppe ist seit Jahren dabei, ein diesbezügliches Core-Set für den Suchtbereich zu erarbeiten. Über den mittlerweile erreichten Konsens berichten Klaus Amann und Rolf Stracke.

In einem weiteren Beitrag versuchen Janina Klein et al., ausgehend vom Grundgedanken der ICF – der Funktionsfähigkeit (Functioning) –, die Erfassung möglicher Prädiktoren für die funktionale Gesundheit im Rahmen der medizinischen Rehabilitation, der Langzeittherapie, zu bestimmen. Sylke Andreas et al. untersuchen spezifische Charakteristika, um sucht- und psychosomatisch erkrankte Patienten bezüglich Funktionsfähigkeit und Partizipation voneinander abzugrenzen.

Bernhard Piest et al. berichten über ihre Erfahrungen mit der Umstellung substituierter Patienten von Buprenorphin auf Suboxone (Buprenorphin und Naloxon).

Teilhabe und Ressourcen – zwei nicht voneinander zu trennende Aspekte, die die Arbeit mit Suchtkranken bestimmen, um Ausgrenzung zu verhindern oder zumindest zu reduzieren, umfassende auch soziale Reintegration und damit Teilhabe zu ermöglichen. Dabei ist stets zu berücksichtigen, dass jeder Mensch Stärken und Schwächen hat, unabhängig von seiner Lebensgeschichte. Entscheidend für den Erfolg langfristiger Überlebens- und Veränderungsbemühungen ist die Nutzung und Stärkung der Ressourcen unter Berücksichtigung der Schwächen. Und das gilt auch für Suchtkranke.

Ich hoffe, dass es uns gelungen ist, Ihnen dieses komplexe Thema mit diesem Heft nahezubringen und Sie darauf neugierig zu machen oder anders ausgedrückt, Ihnen Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, um auch unsere praktische Arbeit und unser Hilfesystem stärker ressourcenorientiert auszurichten.

Es grüßt Sie herzlich

Thomas Kuhlmann

Korrespondenzadresse

Dr. med. T. Kuhlmann

Chefarzt

Psychosomatische Klinik

Bergisch Gladbach

Schlodderdicher Weg 23a

51469 Berg. Gladbach

Email: thkuhlmann@psk-bg.de

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