Psychiatr Prax 2010; 37(7): 356-357
DOI: 10.1055/s-0030-1267419
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Ambivalenz der Freiheit – Suizidales Denken im 20. Jahrhundert

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Publication Date:
04 October 2010 (online)

 

Das 337-Seiten-Buch, mit ausführlichem Kommentar und Literaturangaben 478 Seiten, zeigt einen Überblick über die Geschichte des Denkens im 20. Jahrhundert zu Freiheit, Suizid, Willensbildung und Moral in diesem Kontext. Bereits in der Einleitung wird auf die aktuelle kontroverse Diskussion um das Thema Sterbehilfe und die Diskussionen auch in der Gesetzgebung Bezug genommen.

Dieses Buch ist wohltuend sachlich und tiefgründig, weil die aktuellen Diskussionen in Bezug auf die Philosophie und Ideengeschichte besser hinterfragt werden können. Es beginnt mit den Wurzeln in der Antike. Zum Beispiel sind extreme Positionen in der Geschichte nicht neu, das ist gut zu wissen. Es so genau zu wissen, wie nach der Lektüre dieses Buches, verleiht mehr Sicherheit zur im Titel fokussierten Ambivalenz (der Freiheit).

Als wissenschaftliche Methode wählt Matthias Bormuth die Konstellationsforschung nach Dieter Henrich: durch den Vergleich verschiedener Meinungsgruppen und deren Argumente und Positionen wird versucht Hilfestellungen zur Meinungsbildung zu leisten, ja ein wissenschaftlich zu nennendes Ergebnis zu erreichen. M. B. nennt sein Buch eine Studie. An deren Anfang steht die Suche nach entsprechenden "intellektuellen Konstellationen", die sich mit ethisch relevanten Aspekten des Suizidproblems befasst haben und das Phänomen suizidalen Denkens heuristisch behandelt haben. In moderner Nomenklatur könnte man die Studie also eine heuristische Metaanalyse nennen. Die identifizierten Konstellationen sind Philosophie, Psychiatrie und Literaturwissenschaft. Diese werden fachbezogen und fächerübergreifend registriert, analysiert und auch mit der eigenen Meinung des Autors versehen, die jeweils gekennzeichnet wird. Dieser anspruchsvolle wissenschaftliche Versuch wird, ganz im Sinne einer Metaanalyse, aber nun mal heuristisch, auf wichtige Namen begrenzt. In der Philosophie sind dies z.B. Martin Heidegger und Karl Jaspers, Hans Georg Gadamer und Wilhem Kammla, Erich Auerbach, Max Weber, und weitere. In der Psychiatrie Karl Jaspers, Hans W. Gruhle, Kurt Schneider, Max Scheeler, Robert Gaupp, Hans Heimann, Werner Janzarik und der für die Psychiatrie in ihren Anfängen so einflussreiche, wie gezeigt wird, Friedrich Nietzsche. Die Literaturliste umfasst am Ende auch viele aktuelle Autoren. Schon der Umfang der Literatur, in die sich Matthias Bormuth intensivst eingearbeitet hat, ist beeindruckend. Die akribische Auseinandersetzung über einzelne Argumente ist wundervoll. Das Buch eignet sich als Grundlage für fundierte Diskussionen, nicht nur über den Suizid und das suizidale Denken an sich, sondern ebenso zu Fragen wie Sterbehilfe und medizinische Ethik, wenn ein fundierter Einblick in das abendländische Denken als Grundlage des modernen Denkens gesucht wird. Menschlich berührend ist die Auseinandersetzung mit Schriftstellern, einschließlich denen, die selbst Suizid begangen haben. Die Kritik an verschiedenen Positionen, z.B. an der Extremposition Hermann Pohlmeiers, ist durchdacht. Mehr soll hier vom Rezensenten aber nicht dargestellt werden. Dieses Buch sollte man lesen, es liest sich nicht an einem Abend, auch nicht in einer Woche, es beschäftigt einen wesentlich länger, man kann immer wieder nachschlagen und vertiefen. Man kann auch nur einzelne Kapitel lesen, z.B. über den Holocaust und den Freitod oder über die Freiheit und den Suizid. Es ist ein Werk. Für den Rezensenten besonders erfreulich war, dass dieses Buch nicht ohne Meinung daher kommt, obwohl es wissenschaftlich methodisch fundiert vorgeht und deshalb der Weg zur Meinungslosigkeit des Autors gebahnt sein könnte. In diesem Buch wird deutlich, was der Sinn von Büchern heute noch sein kann, wie kürzlich in einem Beitrag in Nature zu lesen: Sich in Ruhe und ausführlich mit schwierigen Themen zu befassen, die nur in einem Buch lebendig und wahrhaftig "rübergebracht" werden, was in den vergleichsweise kurzen wissenschaftlichen Artikeln nicht gelingt. Das Buch ist sehr zu empfehlen.

Karl Bechter, Günzburg

Email: karl.bechter@bkh-guenzburg.de

Bormuth M. Ambivalenz der Freiheit. Suizidales Denken im 20. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein Verlag, 2008. 478 Seiten, 39,90 Euro. ISBN-10: 3835303384

  • 01 Bormuth M . Ambivalenz der Freiheit. Suizidales Denken im 20. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein Verlag; 2008. 478 Seiten, 39,90 €. ISBN: -10: 3835303384
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