Psychiatr Prax 2010; 37(7): 353-354
DOI: 10.1055/s-0030-1267414
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Am Wendepunkt – Institutsambulanzen in der Versorgungslandschaft 2010

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Publication Date:
04 October 2010 (online)

 

In Berlin wurde im Mai der ab 1.7.2010 geltende neue "Spitzenvertrag" für die Psychiatrischen Institutsambulanzen (PIA) an psychiatrischen Abteilungen abgeschlossen. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG), der GKV-Spitzenverband (hier kurz GKV) und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) standen seit 2009 in schwierigen Verhandlungen. Das seit 2001 geltende Vertragswerk zu §118 Abs. 2 SGB V war von der KBV 2008 gekündigt worden mit dem angeblichen Ziel, die Gruppe der im Gesetz genannten Kranken genauer zu definieren, die wegen Art, Schwere oder Dauer ihrer Erkrankung der Behandlung in der PIA bedürfen.

Wir erinnern: Schon 2007 war die Versorgung in PIA ein Streitgegenstand, nachdem Berufsverbände wie der Bund Deutscher Nervenärzte BVDN sinngemäß vertraten, die PIA nähmen den Praxen Patienten weg, in PIA seien zu viele leicht Kranke, es finde aktive Akquise in Heimen statt. Der sachliche Gehalt dieser Behauptungen war mehr als zweifelhaft [1], den PIA wurde eine Sündenbockfunktion zugewiesen. Tatsächlich waren etliche PIA Lückenbüßer. Die Substitution fehlender nervenärztlicher Versorgung ist im Fall der Fachkrankenhäuser in §118 Abs. 1 SGB V gesetzlicher Auftrag dort, wo geeignete Ärzte nicht erreichbar sind.

Die Probleme der nervenärztlichen Versorgung sind bekannt: Viele Patienten sind unterversorgt, weil überlaufene und unterfinanzierte Nervenarzt- und Psychiatriepraxen überlastet sind, lange Wartezeiten haben, ihr Angebot pro Patient reduzieren oder in Psychotherapieleistungen ausweichen. Auch in westlichen Bundesländern ist der Sicherstellungsauftrag der KV nicht mehr überall erfüllt: In einzelnen Landkreisen existiert keine psychiatrische vertragsärztliche Versorgung mehr. Dies ist bis heute in der kleinräumigen regionalen Verteilung von Fachärzten, die tatsächlich psychisch Kranke versorgen, seitens der KV nicht ausreichend transparent [2], da die Fachgruppen nicht nach Gebieten differenzieren und individuelle Leistungsanteile von Psychiatrie, Neurologie und spezieller Psychotherapie nicht aufschlüsseln. Tatsächlich stehen viele Nervenärzte angesichts der Benachteiligung in den Honorarverteilungen, die von ihrer KV festgesetzt und von Krankenkassen mitverantwortet werden, in realer Not. In einigen Bundesländern wurden Fallzahlsteigerungen in PIA auch zum Ärgernis von Krankenkassen, die mangelnde Leistungsgerechtigkeit und -transparenz anmahnten. In den meisten Ländern funktionieren Vergütungsverträge und Versorgung verlässlich und auf hohem Niveau.

Es überraschte nicht, dass die Verhandlungen über den neuen Spitzenvertrag lange schwierig verliefen. Es drohte das Scheitern [2], [3]. Nicht nur die trennschärfere Definition der Patientengruppen nach Art (z.B. Diagnose), Schwere (z.B. Notfall, klinischer Schweregrad, Adherence) oder Dauer (Chronizität) war das Thema, sondern auch der Patientenzugang sollte massiv erschwert werden. Dies hätte angesichts der Lücken in der fachärztlichen Versorgung in vielen Landesteilen einschneidende Engpässe nach sich gezogen:

PIA an Fachkrankenhäusern und Abteilungen, einschließlich die Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJPP) versorgen mit etwa 1/10 des Gesamtbudgets gut 1/10 der ambulanten psychiatrischen Fälle. Nach Hochrechnungen profitieren davon rund 300000-350000 versicherte Personen mit etwa 750000 abgerechneten Quartalen - davon entfällt über ein Drittel auf die PIA an Abteilungen.

Aus Sicht der Betroffenen besteht der Anspruch auf Zugang und Leistungen einer PIA, soweit die Zulassungskriterien erfüllt sind. Diese werden im neuen, seit dem 1.7.2010 gültigen Vertragswerk [4] für die psychiatrischen Abteilungen konkreter gefasst. Was unterscheidet den neuen Spitzenvertrag von seinem Vorgänger aus dem Jahr 2000?

Präambel und Ziele sind im Kern erhalten. Die PIA bleibt subsidiär zuständig für die, die von Vertragsärzten nicht oder unzureichend erreicht werden, sie soll Krankenhausaufnahmen vermeiden, stationäre Behandlungen verkürzen, Patienten durch Behandlungskontinuität sozial stabilisieren. Es sollen keine Doppelstrukturen aufgebaut werden (ein Gebot, das andere Anbieter und Krankenkassen nicht daran hindert, solche mit neuen IV-Verträgen zu etablieren). Auch die Einrichtungen und die Regelungen zum Zugang sind im Wesentlichen unverändert. Neben den Regelfällen der Nachbehandlung nach stationärem Aufenthalt oder der vertragsärztlichen Überweisung bleibt die Notfallbehandlung oder Inanspruchnahme "mit Primärschein" möglich. Bewohner von Alten- und Pflegeheimen oder Jugendhilfeeinrichtungen können mit einer vertragsärztlichen Überweisung auch weiterhin behandelt werden. Auch im neuen Vertrag finden sich Regelungen über Leistungsinhalte, Qualitätssicherung, Kooperationsstrukturen, Dokumentationspflichten, nun auch über zu vereinbarende Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsprüfungen.

Formal ist die Zulassung der Fachkrankenhäuser nach §118 Abs. 1 SGB V davon unberührt. Auch sind die in den Ländern zu schließenden Vergütungsverträge nach §120 SGB V nicht tangiert. Inhaltlich müssen diese Vertragswerke sich aber an dem messen lassen, was jetzt für die Abteilungen gilt.

Nach §3 ist die "Gruppe psychisch Kranker, die wegen der Art, Schwere oder Dauer ihrer Erkrankung einer spezifischen ambulanten Behandlung durch Psychiatrische Institutsambulanzen bedürfen", erstmals in einer umfangreichen Anlage spezifiziert. Alte Arbeitshilfen der MDK standen Pate. Die meisten bisher behandelten Versicherten können aber auch künftig in der PIA behandelt werden. Allerdings: Es gibt einige Einschränkungen und gedankliche Fallstricke, die weniger dem gesetzlichen Auftrag als vielmehr der Dynamik einer schwierigen Verhandlung entstammen. Man wird nicht umhin kommen, die Anlage zu studieren und Punkt für Punkt zu prüfen, ob die Zulassung zur Behandlung besteht [5], [6]:

Es gibt für Erwachsene Einschlusskriterien [1], die auf Diagnosenlisten (A), auf Indikatoren des Schweregrades (B) und der Erkrankungsdauer (C) abheben. Dies ist für Kinder und Jugendliche [2] analog aufgebaut.

Die Einschlusskriterien [1] schließen durch die Diagnosen-Positivlisten (A) die meisten Patienten ein, die nach Art der Störung in die PIA gehören. Zu dem hier gelisteten breiten diagnostischen Spektrum müssen entweder (B) ein besonderer Schweregrad oder (C) ein chronischer Verlauf hinzutreten. Die Kriterien des Schweregrades (B) sind klinisch begründet und breit gefasst – 4 von 12 Kriterien müssen erfüllt sein oder es muss ein Notfall vorliegen. Die Verlaufskriterien (C) verweisen mit Störungsrezidiven oder längerer Dauer auf die Chronizität.

Dieses Zulassungsraster ist bei genauer Betrachtung durchbrochen für einige sonstige Diagnosen, die nicht in der Diagnosen-Positivliste (A) stehen. In diesen Fällen müssen Schweregrad (B) und Chronizität (C) gleichzeitig vorliegen. Das ist bei erstmaligen Erkrankungen nicht gegeben. Daher gibt es einige in der Diagnosen-Positivliste nicht aufgeführte Störungsbilder wie etwa mittelschwere Depression, die bei einer Ersterkrankung nicht übernommen werden können. Diese Patienten können im Notfall durch das Raster fallen. Es ist zu hoffen, dass Ärzte und Patienten hier nicht vor Situationen gestellt werden, die berufsethisch untragbar werden.

Es gibt darüber hinaus für alle Altersstufen Ausschlusskriterien [3]: Soweit eine kontinuierliche und ausreichende psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung durch einen Vertragsarzt bzw. -psychotherapeuten erfolgt und ein ausreichend stützendes soziales Netzwerk besteht, ist die Behandlung in der PIA nicht angezeigt. Begrifflich entsteht hier Klärungsbedarf, wenn nicht Konfliktpotenzial. Auch kann die PIA-Behandlung nicht während einer anderweitig laufenden Soziotherapie gemäß §37a SGB V erfolgen.

Darüber hinaus kann im Regelfall erwartet werden, dass Patienten, die auf die PIA angewiesen sind, auch behandelt werden können [5]. Andere wird man nach diagnostischer Abklärung kriterienorientiert weiter verweisen müssen, wie es schon bisher in vielen PIA erfolgt.

Klinikbetreiber, die eine Ausweitung der PIA-Fallzahlen anstreben, ohne das Umfeld und Zulassungskriterien zu berücksichtigen, können sich auf die Vereinbarung nicht stützen. Es wird auch künftig auf die Leistungstransparenz, die Vertragstreue, die Qualität der Dokumentation, auf die Ausgestaltung der Vergütungsverträge in den Ländern und auf die Zusammenarbeit mit den Ärzten in der jeweiligen Region ankommen. Die Fachkrankenhäuser mit ihren PIA werden sich, formal vom Vertrag unberührt, mittelbar mit den Inhalten konfrontiert sehen. Schon die alten Verträge forderten regionale Abstimmungen über das kollegiale Miteinander. Es gibt hierzu bereits gute Vorbilder. Auch sollten alle Vertragspartner und nicht nur die PIA darauf achten, keine neuen Doppelstrukturen aufzubauen, statt Märkte selektiv aufzuteilen. Sie sollten Versorgungspfade mit den Krankenhäusern gemeinsam ausgestalten. Letztlich wird es auf die Handhabung durch die Vertragspartner vor Ort ankommen, auf die Frage, ob die Regelungen vernünftig gelebt oder ob sie als neue Spielwiese für leistungsrechtliche und zulassungsrechtliche Streitigkeiten genutzt werden. Damit wäre niemandem gedient, v.a. nicht den Betroffenen.

Andreas Spengler, Wunstorf; Steffi Koch-Stoecker, Bielefeld; Horst Lorenzen, Hamburg; Martin Driessen, Bielefeld

Email: andreas-spengler@t-online.de

Literatur

  • 01 Spengler A . Aktuelle Probleme der ambulanten psychiatrischen Versorgung. Zur Rolle der PIA.  Psychiat Prax. 2008;  35 361-365
  • 02 Roth-Sackenheim C , Melchinger H . Entwicklungen in der ambulanten Versorgung.  NeuroTransmitter. 2009;  2 28-35
  • 03 Koch-Stoecker S . Zur aktuellen Situation der Psychiatrischen Institutsambulanzen.  Psychiat Prax. 2010;  37 100
  • 04 Kassenärztliche Bundesvereinigung .Bekanntmachungen: Vereinbarung zu Psychiatrischen Institutsambulanzen gemäß §118 Abs. 2 SGB V. Mitteilungen: Kommentar zur Neuvereinbarung zu Psychiatrischen Institutsambulanzen nach §118 Abs. 2 SGB V. Dt Ärztebl 107 (26), 2. Juli 2010, A 1321. 
  • 05 Deutsches Ärzteblatt 107 (26), 2. Juli 2010, A 1292: Einigung über Zielgruppen. 
  • 06 Spengler A . Leserbrief zu: Dt Ärztebl 107 (26), 2. Juli 2010, A 1292: Einigung über Zielgruppen. Dt Ärztebl 107 (30) A 1462. 
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