Psychiatr Prax 2010; 37(6): 314-315
DOI: 10.1055/s-0030-1265795
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Die Auffassung der Emotionen im Huang Di Nei Jing und ihre Brechung in der Affektlogik Luc Ciompis

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Publication Date:
01 September 2010 (online)

 

Der Autor Wolfgang Schulz, seit Jahrzehnten als Psychiater, Neurologe und Psychotherapeut tätig, begann vor etwa 20 Jahren damit, sich intensiv der traditionellen Medizin und der Kultur Chinas zu befassen. Seit 1995 ist er in diesem Sinne als praktizierender Arzt tätig. Darüber hinaus lehrt er als Dozent bei der Internationalen Gesellschaft für Chinesische Medizin SMS in München.

Wir haben es also mit einem Kenner beider Welten zu tun. Schulz unternimmt den überaus interessanten Versuch, das Konstrukt "Emotionen" in der Auffassung als Kulturgegenstand in der altchinesischen Medizin einer "modernen" europäischen Auffassung, und zwar der Affektlogik Luc Ciompis gegenüberzustellen, sie miteinander zu vergleichen und Schlussfolgerungen aus diesem Vergleich zu ziehen.

Der Korpus des Huang Di Nei Jing, das Buch des Gelben Kaisers zur Inneren Medizin (im Folgenden: Nei Jing), erläutert Schulz, ist textheterogen, eine Kompila tion, und wurde hauptsächlich in der Zeit zwischen 200 v.u.Z. und 200 u.Z. zusammen getragen. In seiner heute überlieferten Form und Anordnung stammt er aus der Zeit um 751 u.Z. und besteht aus zweimal 81 Kapiteln. Unter den zahlreichen Gruppierungen chinesischer Medizinschulen ist sie eine der bedeutendsten. Neben seinen elementaren Grundlegungen bietet das Nei Jing Ausführungen über die Emotionen, die jedoch keine Systematik nach unserem Verständnis aufweisen.

"Diese sind eingewoben in die Wandlungen der Jahreszeiten auf der Matrix der 5 inneren Funktionskreise Leber, Herz, Milz, Lunge, Nieren entsprechend den 5 Wandlungsphasen Holz, Feuer, Erde, Metall, Wasser, die in einer den Jahreszeiten entsprechenden Hervorbringungsreihenfolge dargestellt werden" (S. 63).

Im Nei Jing werden 5 Emotionen (Ärger, Trauer, Freude, Angst und Denken im Sinne von Sorge) in ihrer Verwobenheit und umfassenden Bezüglichkeit dargelegt, wobei Sichtbares und Unsichtbares als Bewusstseinsakte miteinander korreliert werden. Beide gehören demselben Erlebnisstrom an. Dabei wird der Leib als Einheit der psychophysischen Verfasstheit aufgefasst "... und steht in sich einschwingender Resonanz mit Naturerscheinungen und dem Erlebnisstrom der Emotionen" (S. 103). Neben demselben Erlebnisstrom gehören sie außerdem derselben Seinssphäre an. Sie verweisen und beziehen sich aufeinander ebenso, wie das Funktionelle auf das Substanzielle.

Seit Descartes und La Mettrie wandte man sich in der europäischen Wissenschaftsgeschichte von Ganzheitlichkeitsauffassungen ab und den Dualismen und der Kleinteiligkeit zu: Geistes- vs. Naturwissenschaften, empirische vs. qualitative Ansätze, nomothetisches vs. idiografisches Prozedere. Erst durch die Neue Physik (Einstein u. Heisenberg) wurde wieder ein Raum jenseits der newtonschen Mechanik und der Dualismen geöffnet, in dem es wieder möglich, ja notwendig wurde, Ganzheitliches diskursiv zu denken.

Für die in naturwissenschaftlicher Fixierung erstarrte Psychiatrie, aber auch für den Bereich einer lediglich empiristisch basierten Psychotherapie hatten Theoretiker und Praktiker der sozialpsychiatrischen Bewegung in den Jahren zwischen 1960 und 1980 die Aufgabe übernommen, das erstarrte Paradigma anzugreifen, es aufzubrechen und es für den Ganzheitlichkeitsdiskurs zu öffnen. Dem Schweizer Psychiater Luc Ciompi kam dabei eine führende Rolle zu. Die Tragweite seiner bisher publizierten, 3 große Monografien umfassenden Überlegungen bezüglich der Entstehung und komplexen Wirkzusammenhänge der Affekte oder Emotionen ist immer noch nicht wirklich ausgelotet.

Erstaunlich bleibt die frappante Übereinstimmung der Grundemotionen im Nei Jing und der Emotionen in der Affektlogik Ciompis, wie sie von Wielant Machleidt ermittelt wurden, trotz kultureller und zeitlicher Differenz (ca. 2500 Jahre). Da beide Sichtweisen eine dynamische Betrachtung bevorzugen, wurde überhaupt erst eine einander bereichernde Brechung in der Schulzschen Arbeit möglich.

Die Affekte, in der orthodoxen medizinischen Psychiatrie, entweder Gegenstand von Pathologisierung, oder als unberechenbare Störvariable aussortiert, erhalten in der Affektlogik Luc Ciompis ihre umfängliche Bedeutung als entscheidendes Movens für das gesamte Denken, Fühlen und Handeln, einschließlich ihrer phylo -und ontogenetischen Entwicklungsdynamik zurück. Zu diesem Resultat durchzudringen konnte nur mit einem ganzheitlich angelegten Erkenntnisinteresse gelingen. Ähnlich wie im Nei Jing beschreibt auch Ciompi 5 Grundgefühle, und er definiert den Affekt als "... eine von innen nach äußeren Reizen ausgelöste, ganzheitliche psychophysische Gestimmtheit von unterschiedlicher Qualität, Dauer und Bewusstseinsnähe" (S. 129). Die Affekte fungieren dabei als die entscheidenden Energielieferanten, Motivatoren oder Motoren jedweder kognitiven Dynamik. Es bestehen strukturelle Übereinstimmungen beider Emotionskonzepte in ihrer jeweiligen Beschreibung dynamischer, interdependenter Ursachen und Wirkweisen der Gefühle, "... obwohl sie in ihrer bewegenden Kraft unterschiedlich gedacht sind" (S. 185). Die Differenz, so Schulz, liege in der sprachlichen Grenze, dem Graben der Zeit und den Verwerfungen der Erkenntnisgewinnung (S. 160).

Der große Detailreichtum, die bei jedem Aspekt anzutreffende Exkursvielfalt mit ihren Verweisen auf Literatur, Philosophie und Wissenschaft macht die Lektüre der Arbeit so ungemein anregend und stiftet den Leser zu eigenständigen Verknüpfungsversuchen an.

Der Lektüre dieses vorzüglichen Buches verdanke ich vor allem Eines: Die wirklich bedeutenden Erkenntnisse über uns und die Welt, hier beispielhaft gemacht an den Gefühlen, zeichnen sich v.a. durch das Merkmal ihrer Transzendenzfähigkeit in der Weise aus, Gültigkeit und Bedeutung zu haben über Zeit- und Kulturgrenzen hinweg. Transzendenz ist dabei nicht zu verwechseln mit normierter Gleichförmigkeit, denn die Tiefenstruktur des Gemeinsamen erfährt durch die immer auffindbare Differenz ihre eigene, unverkennbare Note.

Für Psychotherapeuten, die der durchmanualisierten Diagnostik- und Therapiemaschinerie nicht nur überdrüssig sind, sondern deren Beschränktheit tagtäglich erfahren, bietet das Buch viele und reichhaltige Anregungen, andere Wege in der therapeutischen Begegnung zu beschreiten.

Martin Wollschläger, Gütersloh

Email: martin.wollschlaeger@wkp-lwl.org

Schulz W. Die Auffassung der Emotionen im Huang Di Nei Jing und ihre Brechung in der Affektlogik Luc Ciompis. Berlin: Europäischer Universitätsverlag, 2009, 202 Seiten, Preis: 35 €, ISBN: 978-3-89966-340-2

  • 01 Schulz W . Die Auffassung der Emotionen im Huang Di Nei Jing und ihre Brechung in der Affektlogik Luc Ciompis. Berlin: Europäischer Universitätsverlag; 2009. 202 Seiten, Preis: 35,00 €, ISBN: 978-3-89966-340-2
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