Zeitschrift für Palliativmedizin 2010; 11(3): 98-101
DOI: 10.1055/s-0030-1254265
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Als Doktorandin in Südindien - ein Erfahrungsbericht - Interviews mit Palliativpatienten über psychosoziale Probleme

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Publication Date:
25 May 2010 (online)

 

Neben vielen Problemen der medizinischen Patientenversorgung ist in Kerala wenig über die Krankheitsverarbeitung und die psychosozialen Probleme und Bedürfnisse von Patienten mit einer weit fortgeschrittenen und unheilbaren Erkrankung bekannt. Dies wurde im Rahmen einer Kooperation zwischen Prof. Dr. Frank Elsner (Oberarzt der Klinik für Palliativmedizin in Aachen) und Dr. M. R. Rajagopal MD (Chairman Pallium India Trivandrum Institute of Palliative Sciences) deutlich.

Daraus ergab sich die Möglichkeit, für eine Doktorarbeit in Thiruvanathapuram (Trivandrum) in Südindien Daten zu erheben. Titel und Gegenstand dieser Arbeit sind "Psycho-social and spiritual problems of terminally ill patients in Kerala, India". Die Datenerfassung erfolgte mit Hilfe eines teilstrukturierten Interviewleitfadens. Als Zeitrahmen der Erhebung vor Ort wurden 4 Monate angesetzt. Letztendlich konnte ich die Datenerhebung aber bereits nach 3 Monaten mit 39 anstelle der geplanten 20 Interviews beenden. Zur Durchführung der Interviews musste nicht nur mit Übersetzern gearbeitet werden, sondern auch das Team vor Ort musste mit der Methodik einer solchen Studiendurchführung vertraut gemacht werden. Die Ergebnisse waren schlechter als ich es mir erhofft hatte, mit der Folge, dass eine Auswertung vor Ort nicht möglich war. Um dennoch zeitnah mit der Auswertung anfangen zu können, kehrte ich etwas früher als ursprünglich geplant, an mein Heimatinstitut zurück.

Patientin und Übersetzerin Navya während eines Interviews.

Trotz eines anfänglichen Kulturschocks konnte ich bereits am 5. Tag meines Indienaufenthaltes mit den ersten Interviews beginnen. Zu deren Durchführung finazierte mir mein Heimatinstitut ein Auto inklusive Fahrer und eine Dolmetscherin. Angesichts der Fahrweise des Fahrers als auch der Arbeitseinstellung so manch anderer Mitarbeiter wurde mir schnell klar, dass in Indien nicht nur alles anders aussieht als in Europa, sondern auch alles anders und vor allem erheblich langsamer vonstatten geht. Die ungewohnten Arbeitsbedingungen vor Ort lassen sich recht deutlich durch eine Beschreibung des 1. Interviewsettings veranschaulichen: Mit einem Arzt und einigen Krankenschwestern waren wir zu einer Außenstation des Krankenhauses gefahren, um Interviews durchzuführen. Da der einzige Raum des Krankenhauses durch die Arbeit des Arztes besetzt war, blieb mir nur das Auto als Rückzugsort, um die Patienten zu interviewen. Während der Fahrer auf der Rückbank des Kleinbusses schlief und etliche neugierige Dorfbewohner den Kopf zum Fenster hereinstreckten und sich sogar immer wieder ins Gespräch einmischten, übersetzte die Dolmetscherin in holperigem Englisch die Antworten der interviewten Patientin. Diese ohnehin kaum als standardisiert zu bezeichnende Interviewsituation wurde dann noch mehrfach vom Handyklingeln des Fahrers und der Dolmetscherin unterbrochen, überdies heizte sich der Bus zunehmend unangenehm auf, da das Auto natürlich nicht über den Luxus einer Klimaanlage verfügte.

Aus dieser Situationsbeschreibung lässt sich gut nachvollziehen, mit welchen Schwierigkeiten ich anfangs zu kämpfen hatte. Nicht nur die Interviewsettings unterschieden sich deutlich von dem, was ich aus Deutschland gewohnt war. Auch die Arbeitsweise und Organisation waren kaum mit dem zu vergleichen, was bei uns üblich ist und ich ursprünglich auch von meinem indischen Team erwartet hatte. So erhielt ich die Übersetzungen anfangs handschriftlich, in mangelhafter Grammatik und auf losen Blättern. Ich hatte den Eindruck, dass die wenigsten Inder mit den englischen Grammatikregeln, geschweige denn einer Computertastatur vertraut sind. Auch die völlig andere Einstellung zum Thema Pünktlichkeit und Verlässlichkeit empfand ich zunächst als große Belastung. Es brauchte nicht nur jeder Arbeitsschritt erheblich mehr Zeit und Beharrlichkeit meinerseits, sondern auch vereinbarte Uhrzeiten waren allenfalls ein Richtwert. An einem Tag kamen Fahrer und Dolmetscherin gar nicht zum vereinbarten Treffpunkt, am nächsten Tag standen sie bereits eine Stunde früher als verabredet vor meiner Unterkunft. Die Gestaltung eines indischen Arbeitstages scheint vor allem durch Pausen geprägt: Wenn der Arbeitstag vor 9 Uhr anfängt, gibt es zuerst eine ausgiebige Frühstückspause, gefolgt von Chaya (Tee) um 10 Uhr, einer guten Stunde Mittagspause um 13 Uhr und nochmals einer Teepause um 16 Uhr. An diesem Pausenplan wird auch mitten im Busch festgehalten, denn es gibt wohl kaum einen Ort in Kerala, an dem man nicht ein so genanntes "Hotel" findet, meist eine Holzbude, in der frischer Tee verkauft wird.

Das Hauptproblem, dieser anderen Arbeitsweise war die Tatsache, dass es mir bis zum Schluss nicht ganz gelungen ist, uneingeschränkt vergleichbare Interviewsituationen zu schaffen. Immer wieder wurden die schriftlich ins Malayalam übersetzten Fragen im jeweiligen Interview leicht verändert, was jedoch erst in den Übersetzungen durch eine Zweitübersetzerin deutlich wurde. Auch waren offenbar einige Fragen kulturell sehr unüblich, so dass nicht nur die Patienten Schwierigkeiten hatten, sie zu verstehen, sondern auch der Übersetzerin nicht wirklich begreiflich zu machen war, was eigentlich erfragt werden sollte. Als Beispiel sei hier die Frage: "Do you feel well informed about your indisposition?" genannt. Meistens lauteten die Antworten: "I know everything" oder "My family knows everything". Selten wurde etwas zu den Gefühlen bezüglich der Informationsweise und - des Umfangs - der eigentliche Gegenstand dieser Frage - geäußert.Diese Probleme erschweren mir letztendlich die Auswertung, da jedes Interview nun etwas individueller gestaltet ist, als es eigentlich vorgesehen war.

Jedes einzelne Interview war für mich eine Expedition in eine andere Welt, da bereits die Anreise zu einem Patienten ein kleines Abenteuer darstellte. Die Auswahl der Patienten erfolgte unter den Patienten von Pallium India in Trivandrum, einer Organisation, welche sich nicht nur um die medizinische Versorgung ihrer Patienten kümmert, sondern, wenn nötig, auch um ganz grundlegende Dinge wie Nahrung, Unterkunft und Transport zu einem geeigneten Krankenhaus. Die medizinische Versorgung erfolgte dabei einerseits durch wöchentliche Visitationen verschiedener Außenstationen, die meist nicht viel mehr als ein umfunktionierter Klassenraum mit ein paar Plastikstühlen waren. Andererseits stellten auch Hausbesuche einen wesentlichen Bestandteil der Patientenversorgung dar, da viele Patienten nicht mehr in der Lage sind, ihre Häuser zu verlassen. Oft wohnten die Patienten in mir bis dahin unvorstellbar ärmlichen kleinen Hütten, die kaum den Arzt, diverse Krankenschwestern, Ehrenamtliche, Fahrer und Studenten sowie die Patientenfamilie und oft sogar noch die Nachbarn fassen konnten. Nicht selten sah ich anfangs von der Tür aus dem Geschehen zu, da ich es als für den Patienten unzumutbar empfand, wenn 8 und mehr Personen der Behandlung zuschauten. Bald jedoch merkte ich, dass die Patienten dies als ganz selbstverständlich betrachteten und sich nicht im mindestens daran zu stören schienen. Zu Beginn hielt ich es für unmöglich, allein mit Stethoskop, Blutzuckermessgerät und einem uralten Blutdruckmesser, eine angemessene Patientenversorgung leisten zu können. Doch die schlechte medizinische Ausstattung wurde durch ganz viel Zeit und Anteilnahme an jedem einzelnen Patientenschicksal wett gemacht. Ich finde es bewundernswert, wie mit solch geringen materiellen Ressourcen das Leiden so vieler Menschen gelindert werden kann.

Obwohl ich unter den Patienten von Pallium India geeignete Studienteilnehmer heraussuchen konnte, enthielten die Akten meist nicht viel mehr als den Namen und den ungefähren Wohnort des Patienten. Da die meisten Straßen in Indien keine Namen haben, oft nicht kartografiert sind und viele Patienten auch kein Telefon besitzen, ist es mir nur mit Hilfe der Übersetzerin, ehrenamtlichen Helfern vor Ort und viel Durchfragen gelungen, die richtige Hütte und den Patienten zu finden. Oft wohnten die Patienten dabei so weit im Hinterland, dass wir das Auto zurücklassen und die letzten Meter zu Fuß bewältigen mussten. Dies war zwar manchmal etwas beschwerlich, eröffnete mir aber andererseits einen Einblick in das wirkliche Leben der indischen Bevölkerung, denn oft hatte ich den Eindruck, dass die Armut der Bewohner, je weiter sie von der nächsten Straße entfernt lebten, wuchs.

Von links nach rechts: Navya (Übersetzerin), J. Schmidt (Doktorandin), Dr.M.R. Rajagopal (Chairman Pallium India), Lakshmi (Schwesternhelferin), Aneeja Joseph (Sozialarbeiterin). (Quelle der Bilder: J. Schmidt)

Trotz der ungewohnten Arbeitsweise, der schwierigen Umstände vor Ort und deren Folgen auf die Interviewqualität sind die Ergebnisse der Befragungen sehr aufschlussreich. Nicht zuletzt der ständige E-Mail- und gelegentliche Telefon-Kontakt mit meinem Heimatinstitut, vor allem mit Diplom-Psychologin Martina Pestinger, trugen wesentlich dazu bei, dass ich trotz der oben geschilderten Schwierigkeiten die angewandte Forschungsstrategie Schritt für Schritt verbessern konnte. Da Martina Pestinger wenige Wochen vor Beginn der Datenerhebung einige Tage am Trivandrum-Institut verbracht hatte, war sie einerseits mit der Situation dort vertraut, hatte jedoch andererseits den nötigen Abstand, um den umfassenden Überblick zu behalten, der mir manchmal aufgrund der vielen kleinen Probleme verloren zu gehen drohte.

Die Datenerhebung als Grundlage meiner Promotion hat diesen Aufenthalt für mich lohnenswert gemacht, und die Eindrücke und Erfahrungen außerhalb dieser Tätigkeit haben mich und meine Zukunftspläne geprägt. So weiß ich jetzt für uns ganz alltägliche Dinge, wie sauberes Wasser, sanitäre Anlagen, die Existenz von Fahrplänen und vor allem die Möglichkeit, abends auszugehen, wirklich zu schätzen.

Tagsüber fühlte ich mich nie unsicher, nachts dagegen sind die Straßen in Kerala menschenleer und gerade als Frau sollte man dann nicht mehr alleine unterwegs sein. In Gegenden, die nicht touristisch erschlossen sind, hatte ich allerdings auch kaum Gelegenheit, abends auszugehen, da dies für eine Frau dort nicht üblich zu sein scheint.

Die indische Kultur hat im übrigen sehr viele angenehme Seiten, so schmeckt die indische Küche tatsächlich so gut, wie sie in den Reiseführen beschrieben wird, wenngleich auch in Kerala sehr scharf gewürzt wird. Beim Essen sollte man stets den Spruch "Peel it, cook it or forget it" berücksichtigen und sich ansonsten auf sein "Bauchgefühl" verlassen. Ich fand immer wieder Dinge in meinem Essen, die dort eigentlich nicht hineingehörten - und trotzdem hatte ich während der ganzen Zeit nie schwerwiegende Gesundheitsprobleme. Vor allem beim Wasser musste ich jedoch aufpassen und bei den Ausflügen in die Dörfer immer genug davon mitnehmen. Die meisten Häuser haben zwar einen eigenen Brunnen - dieser liegt aber oft nicht sehr weit von dem Toilettenhäuschen entfernt und dessen Wasser ist daher nicht für westliche Mägen zu empfehlen. Bei akutem Wassermangel kann man problemlos die Milch aus frisch aufgeschlagenen Kokosnüssen trinken - diese ist nicht nur sauber, sondern angeblich auch noch sehr gesund und wirklich überall zu bekommen.

Padmanabashwamy-Tempel, Thiruvanathapuram.

Ich könnte noch viel über meine Erfahrungen rund um die Studiendurchführung berichten. Doch da dies, im Gegensatz zu der Studienbeschreibung, auch in die diversen Reiseführen nachzulesen ist, soll mein Bericht dadurch nicht dominiert werden.

Fazit: Trotz der beschriebenen Schwierigkeiten hatte ich eine sehr gute Zeit in Indien. Meine Erfahrungen, vor allem mit den schwerkranken Patienten, möchte ich auf keinen Fall missen. Wer das Fremde nicht scheut, neugierig auf Neues ist und Toleranz demgegenüber aufbringen kann, was wir mit unserem westlichen Verständnis einfach nicht begreifen und so leicht gut heißen können, der kann in Indien vieles entdecken und wird einige Eindrücke wohl nie mehr ganz hinter sich lassen können.

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