Gesundheitswesen 2010; 72(4): 199-200
DOI: 10.1055/s-0030-1249072
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Gesundheitskonzepte im Wandel – Die 1980er Jahre als „Wendephase”?

D. Schäfer, A. Frewer
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Publication Date:
15 April 2010 (online)

Prof. Dr. med. Dr. phil. Daniel Schäfer

Prof. Dr. med. Andreas Frewer

In den letzten Jahrzehnten sind innerhalb der medizinischen, ethischen und sozialpolitischen Diskussionen zum Gesundheitsbegriff bedeutende Verschiebungen zu konstatieren. Die Möglichkeiten moderner Medizin in der Diagnostik und auch – mit einigen Einschränkungen im Bereich chronischer Erkrankungen – in der Therapie wuchsen immer noch stetig an. Mit dieser Entwicklung ging auch eine Verschiebung klassischer Koordinaten der Arzt-Patienten-Beziehung einher in Richtung einer Dienstleistungsmedizin, die eine Erfüllung der vom aufgeklärten Patienten vorgetragenen Wünsche zu ihrem Ziel erklärte [1]. Gerade an gegenwärtigen Phänomenen wie der Steigerung von Leistungsfähigkeit und Gesundheit (Enhancement) oder der Prädiktion von Disposition und Krankheit wird deutlich, wie sehr sich Rahmenbedingungen ärztlichen und pflegerischen Handelns seit damals verschoben haben. Diese Palette neuer medizinischer Möglichkeiten führte zu wachsenden Erwartungen gegenüber der Heilkunde, die aber angesichts der Verknappung finanzieller Ressourcen für das Gesundheitswesen immer weniger zu erfüllen waren. Diese Diskrepanz entwickelte sich zur Hauptursache für den von verschiedenen Seiten erhobenen Ruf nach einer wirksamen Prävention.

Im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojektes „Gesundheit im Wandel (1970–2000)”, das seit Ende 2005 in mehreren Arbeitsgruppen (Köln, Hannover, Erlangen, Freiburg) durchgeführt wurde [2], konnten Phänomene eines sich sukzessive verändernden Gesundheitsverständnisses dokumentiert, analysiert und in Beziehung zueinander gesetzt werden. Die publizierten Ergebnisse einer Fachtagung dienten der orientierenden Darstellung der Thematik über den gesamten Untersuchungszeitraum [3]; die vorliegende Artikelserie mit ihren Fachbeiträgen greift dagegen die in den Arbeitsgruppen immer wieder diskutierte „Wendephase” der 1980er Jahre in vier Werkstattberichten auf; darin betrachten die Autorinnen und Autoren anhand verschiedener Aspekte, Quellen und Methoden die gemeinsame Fragestellung, welche Formen des Wandels den Umgang mit Gesundheit in dieser Zeit prägten und ob tatsächlich ein tiefgreifender Einschnitt im Gesundheitsdenken in diesem Jahrzehnt zu erkennen ist.

Ralf Forsbach (Bonn) erörtert aus sozialhistorischer und -politischer Sicht anhand des ersten umfassenderen Reformentwurfs im Gesundheitswesen der Bundesrepublik Deutschland – „Zehn Grundsätze der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen” (1985) – den Durchbruch des Präventionsgedankens in der westdeutschen Politik, die Reaktionen der Akteure und die Folgen für das öffentliche Bild von „Gesundheit”.

Andrea Schottdorf (Köln) analysiert auf der Basis der gegensätzlichen Quellen der „Protokolle der Deutschen Ärztetage” und der Zeitschrift „Dr. med. Mabuse” die Diskussion um die Ausbildung zukünftiger Ärzte, die 1988 in die Einführung des „Arztes im Praktikum” mündete und anhand der sich paradigmatisch die lange Zeit stagnierende Reform des Gesundheitssystems sowie der sukzessive Machtverlust der Ärzteschaft darstellen lässt.

Isabella Jordan (Hannover) beschreibt aus medizinhistorischer und ethischer Sicht den zeitgeschichtlichen Wandel der Diskurse um Medizin am Lebensende hin zu einer gesellschaftlich eingeforderten „Vorsorge” und Kontrolle des Sterbens unter dem Leitbild der Autonomie. Dies lässt sich insbesondere in den Debatten um Sterbehilfe sowie der bundesdeutschen Manifestation des Hospizgedankens und der Palliativmedizin seit den 1980er Jahren erkennen.

Dominik Baltes (Freiburg) greift die anthropologisch akzentuierte bioethische Diskussion um die Gesundheit (u. a. Nordenfelt, 1985) im Sinne einer Vorbedingung menschlichen Glücks auf und fragt nach ihrer Reflexion in Stellungnahmen der großen Kirchen, die demgegenüber eine Begrenztheit menschlicher Möglichkeiten und die Tugend des Maßhaltens angesichts der Geschöpflichkeit des Menschen herausstellten.

Eine Synthese der unterschiedlichen Beiträge ist weder sinnvoll noch notwendig; schlaglichtartig beleuchten sie aus der Sicht verschiedener Disziplinen die 1980er Jahre als Zeitraum, in dem sich aus einer in Deutschland zunächst noch vorherrschenden gesundheitspolitischen und ethischen Stagnation heraus Ansätze zu neuen Entwicklungen manifestieren, deren Ursprünge allerdings bereits in 1960er und 1970er Jahren (z. B. in der Medizinkritik Ivan Illichs) lagen und die trotz ihrer historischen Bedingtheit bis heute das Gesundheitswesen prägen: die „Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen” als Hinweis, dass Reformen aus gesellschaftspolitischer Sicht unter besonderer Berücksichtigung der Prävention als überfällig betrachtet wurden; die Einführung neuer Ausbildungsstrukturen bei gleichzeitig einsetzendem Bettenabbau in Krankenhäusern als politisches Signal, die Zunahme des ärztlichen Nachwuchses und zugleich den Einfluss der Ärzteschaft auf gesundheitspolitische Maßnahmen einschneidend begrenzen zu wollen; die zunächst umstrittene Einführung von Hospizen als Maßnahme gegen eine einseitig die Patientenautonomie akzentuierende Sterbehilfe; und schließlich eine der ersten Stellungnahmen der beiden großen Kirchen zu medizinischen und gesundheitspolitischen Fragen als theologische Reaktion auf einen zunehmend subjektzentrierten und leistungsorientierten Gesundheitsbegriff, der Gesundheit als Voraussetzung, aber auch als (präventiv zu vollziehende) Aufgabe für ein gelingendes Leben implementiert. Keines dieser Ereignisse war aus heutiger Sicht Epoche machend für die Geschichte des Gesundheitswesens in Deutschland; trotzdem signalisieren sie gemeinsam eine allmähliche Wende im „Gesundheitsdenken” der Republik: weg von einem nur für Spezialisten bestimmten Sektor und hin zu einem von der Politik aktiver gestalteten Bereich von hoher gesellschaftlicher Relevanz.

Literatur

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Dr. phil. D. Schäfer

Institut für Geschichte und

Ethik der Medizin

Joseph-Stelzmann-Straße 20

Geb. 42

50931 Köln

Email: daniel.schaefer@uni-koeln.de

Prof. Dr. med. A. FrewerMA 

Institut für Geschichte und

Ethik der Medizin

Glückstraße 10

91054 Erlangen

Email: andreas.frewer@ethik.med.uni-erlangen.de

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