Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement 2010; 15(5): 233-235
DOI: 10.1055/s-0029-1245687
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Editorial

J.-M. Graf von der Schulenburg1
  • 1Forschungsstelle für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystemforschung, Leibniz Universität Hannover
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Publication Date:
27 October 2010 (online)

Seit dem 1. April 2007 kann das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) auf der Grundlage von § 35b SGB V vom Gemeinsamen Bundesausschuss und vom Bundesministerium für Gesundheit damit beauftragt werden, das Kosten-Nutzen-Verhältnis von Arzneimitteln zu evaluieren. Die Kosten-Nutzen-Analyse kann unter anderem nach § 31 Abs. 2a SGB V zur Festlegung von Erstattungshöchstbeträgen für Arzneimittel dienen.

Vielfach wurde sehr begrüßt, dass mit dieser Neuregelung nun auch ökonomische Rationalität und Transparenz in die Allokation der knappen Ressourcen und die Erstattungspolitik der Krankenkassen einzieht. Aus der Welt der verdeckten Rationierung, die über Richtgrößen, DRGs, Budgets und Vergütungen gesteuert wird, entsteht eine Welt der offenen Rationierung mit klaren Kosten-Nutzen-Abwägungen. Damit schließt die deutsche GKV an die im Ausland geltende Praxis an. Dies wird noch durch die gleich zwei mal im SGB V verankerte Forderung des Gesetzgebers verstärkt, dass die Kosten-Nutzen-Bewertung „auf Grundlage der in den jeweiligen Fachkreisen anerkannten internationalen Standards … der Gesundheitsökonomie” (§ 35b Abs. 1 S. 5 SGB V) durchzuführen ist. Eine entsprechende gesetzliche Formulierung findet sich in der Rechtsgrundlage für das IQWiG in § 139a SGB V, wonach das Institut zu gewährleisten hat, „dass … die ökonomische Bewertung nach den hierfür maßgeblichen international anerkannten Standards, insbesondere der Gesundheitsökonomie, erfolgt”.

Umso erstaunlicher ist es, dass in den letzten drei Jahren seit der Neuregelung nicht viel passiert ist. Während in anderen Ländern die Bewertungsagenturen fleißig arbeiten, wird in Deutschland diskutiert, was denn der Gesetzgeber mit der Neuregelung eigentlich gemeint hat. Bislang hat das IQWiG, sieht man von ein paar unbrauchbaren Piloten zur Testung der ungeeigneten Methode des Instituts ab, keine Kosten-Nutzen-Analyse zur Festlegung von Höchsterstattungspreisen durchgeführt. Obwohl die Forschung auf dem Gebiet der Kosten-Nutzen-Analyse ein halbes Jahrhundert alt ist, viele einschlägige Lehrbücher zur ökonomischen Evaluation im allgemeinen und von Gesundheitsleistungen im Besonderen existieren und im Ausland die Kosten-Nutzen-Analyse gängige Praxis ist, wurden in Deutschland die letzten drei Jahre des aktiven Nichtstuns durch heftige Debatten über die richtige Methodik ausgefüllt. Vor dem Hintergrund dieser Diskussion ist es eine reizvolle Aufgabe, die Methoden in einem diesen gewidmeten Sonderheft zusammenzufassen. Auch kommt das Sonderheft mit Beiträgen prominenter Gesundheitsökonomen keineswegs zu spät, sondern genau zur richtigen Zeit. Denn über kurz oder lang wird man auch in Deutschland auf die Anwendung systematischer (und hoffentlich methodisch sauberer) Analysen der Kosten und Nutzen von Gesundheitsleistungen nicht verzichten können, wenn man nachvollziehbar entscheiden will, was die Solidargemeinschaften der Krankenkassen bezahlen sollen und was nicht.

Die Methodendiskussion der letzten Monate hatte durchaus kuriose Züge. Der eine Streit bezog sich auf die Perspektive, aus der heraus die Kosten und Nutzen zu bewerten seien. Das IQWiG wollte bei der Bewertung der Kosten eine Einschränkung auf die Sicht der Versichertengemeinschaft – ein Ausdruck aus dem § 35b SGB V, der an keiner Stelle der Sozialgesetzbücher definiert ist. Die Gegenmeinung war, dass nur die Sicht der Gesellschaft sinnvoll ist. Weder konnte das IQWiG deutlich machen, wie sich die Sicht der Versichertengemeinschaft von der Gesellschaft oder der Sozialversicherungsträger detailliert unterscheidet, da die GKV-Versicherten rund 90 % der Bevölkerung ausmachen und gleichzeitig Steuerzahler und Mitglieder anderer Sozialversicherungen sind, noch wurden in den drei Jahren präzise Vorgaben für die Ermittlung der Kosten und ihrer Aggregation erarbeitet. Sind z. B. Transferzahlungen der Sozialversicherungsträger Kosten, obwohl sie keine Alternativkosten (Ressourcenverzehr) darstellen? Die Gegenseite bleibt letztlich die Begründung schuldig, was eigentlich eine gesellschaftliche Sicht bedeutet: Die aus Lehrbüchern bekannte Definition, wonach die gesellschaftliche Sichtweise bei den Kosten, den Ausgaben der GKV zuzüglich Selbstbeteiligungen und Lohnzahlungen der Arbeitgeber während den krankheitsbedingten Arbeitsausfällen entsprechen, ist m. E. unzureichend.

Bei der gesamten Diskussion kam zu kurz, dass es sich bei den anzusetzenden Kosten und Nutzen um Erwartungskosten und -nutzen handelt und dem ökonomischen Denken das Alternativkostenprinzip zugrunde liegt: Demnach entsprechen die Kosten einer Maßnahme A für den Entscheidungsträger dem entgangenen Nutzen einer Alternative B, die er nicht mehr ergreifen kann, da er die Kosten für A aufgewendet hat. Was sind nun die Alternativkosten für ein Krankenversicherungssystem, wenn es eine kostenintensive Behandlung zulässt und finanziert? Die Antwort hängt davon ab, ob es: indikationsspezifische Budgets gibt (dann hätte das IQWiG recht), generelle Budgets für die Krankenkassen existieren (was § 71 SGB V suggeriert) oder die Defizite der Krankenkassen letztlich durch den Steuerzahler übernommen werden (dann ergibt nur die Perspektive der Steuerzahler Sinn).

Bei der Perspektive der Nutzenbewertung gab es ebenfalls eine aufschlussreiche Debatte. Während die einen nur den klinischen Forscher berücksichtigen wollten, der die primären Endpunkte klinischer Zulassungsstudien definiert, rückten andere mit den Konzepten der patientenrelevanten Endpunkte und der „Patient Reported Outcome” den Patienten in den Mittelpunkt.

Interessant war auch die fundamentale Kritik am international anerkannten QALY-Ansatz. Obwohl der Gesetzgeber in § 35b explizit die Verbesserung der Lebensqualität und Verlängerung der Lebensdauer als Nutzenparameter nennt und das QALY-Konzept nichts anderes ist, als die Verbindung bzw. Aggregation dieser beiden Dimensionen, wurde dieses Konzept als unethisch, in Deutschland nicht praktikabel und im Ergebnis unsinnig verworfen.

Es gilt als fair und gerecht, dass bei einem sinkenden Passagierdampfer zuerst Frauen und Kinder die Rettungsboote besteigen dürfen. Das QALY-Konzept würde wahrscheinlich das gleiche Ergebnis vorschlagen. Egalitaristische Konzepte hingegen würden es ggf. besser finden wenn alle ertrinken, als dass nur einige gerettet werden. Vielleicht befürworteten sie auch einen Zufallsmechanismus, bei dem vor Fahrtantritt um die Sitze im Rettungsboot gewürfelt wird. Bei Gesundheitsleistungen sieht das für viele Kritiker aber ganz anders aus. Entweder wird behauptet, es wären genügend Rettungsboote da, weshalb jede Regel zu einer unrechtmäßigen Diskriminierung führt oder es wird ein demokratischer gesellschaftlicher Diskussionsprozess gefordert, der dann Mindestrechte für alle festlegt. Aber worauf kann man sich da einigen? Es kommt wohl nur das Maximum infrage.

Das QALY-Konzept hingegen wird vehement abgelehnt, weil es den (Erwartungs-)Nutzen verschiedener Menschen aggregiert und damit einer utilitaristischen Weltanschauung folgt. Die Argumentation ist nicht falsch. Es gibt nämlich drei Aggregationsprobleme, die nur mithilfe und unter Anerkennung von Paradigmen oder Werturteilen lösbar sind: das dimensionale Aggregationsproblem, d. h. die Aggregation verschiedener Outcomes wie z. B. Haupt- und Nebenwirkungen, Lebensqualität und Lebensdauer und verschiedene Dimensionen der Lebensqualität; weiterhin das intertemporale Aggregationsproblem, d. h. die Aggregation von Kosten und Nutzen, die in verschiedenen Zeiträumen anfallen; und abschließend das interpersonelle Aggregationsproblem, d. h. die Aggregation von Kosten und Nutzen verschiedener Menschen.

Lustig an den Kritikern ist aber, dass sie häufig glühende Verfechter der Evidence Based Medicine sind, d. h. der Welt der randomisierten doppelt blinden multizentrischen klinischen Studien. Gerade in diesen Studien werden Menschen künstlichen Gruppen zugeordnet. Danach werden mit hohem statistischem Aufwand Daten verschiedener Probanden aggregiert. Jeder Proband geht mit seinen Maßen mit dem gleichen Gewicht in die Statistik ein, obwohl er sich selbst der wichtigste sein dürfte. Die Problematik wird sofort deutlich, wenn man sich eine Studie mit zwei Interventionsalternativen vorstellt, bei der im Arm A nur ein Teilnehmer verstirbt und im Arm B zehn Patienten. Die Schlussfolgerung, dass die Therapie in A wirkungsvoller ist, liegt nahe. Für den bei Intervention A Verstorbenen kann sie aber falsch sein, wenn er mit der Therapie B überlebt hätte.

Meistens fordern die Kritiker auch die demokratische Legitimation der Entscheidungen, obwohl die Demokratie eine – sogar manchmal für den Einzelnen brutale – Form der Aggregation von individuellen Präferenzen ist. Jede Demokratie benötigt deshalb zum Schutz der Minderheit, ein System von Mindestrechten (Rechten gegenüber der Gemeinschaft). Mit anderen Worten, auch die Rationierung im Gesundheitswesen – z. B. mithilfe ökonomischer Evaluationen – benötigt als Komplement einen Katalog von Mindestrechten oder -standards. Beides schließt sich nicht aus, sondern bedingt einander.

Eine weitere Kuriosität der Methodendiskussion der vergangenen Jahre war die mit viel Aufwand vertretene Meinung, man könne eine Methode der Kosten-Nutzen-Analyse entwickeln, die gleichsam mechanistisch den angemessenen maximalen Erstattungspreis für ein neues Medikament ermittelt. Ein solches Konzept ist die IQWiG-Effizienzgrenze: Man nehme die (inkrementellen) Kosten-Effektivitäts-Raten der bereits auf dem Markt befindlichen Therapien (einer Indikation) und errechne damit die maximal zulässige (inkrementelle) Kosten-Effektivitäts-Rate der zu bewertenden neuen Intervention.

Dieses Vorgehen widerspricht den Grundprinzipien der Wirtschaftswissenschaften, die u. a. zwei Lehrsätze enthalten: Erstens, wie Paul Samuelson es ausdrückt, „Individual preferences are to count” und zweitens das bereits erwähnte Alternativkostenkonzept, wonach die Kosten von A dem entgangenen Nutzen der besten Alternative (B) entsprechen, die ich mit den für A aufgewendeten Ressourcen alternativ hätte erwerben können. Der Nutzen der Alternative ist aber ohne die Kenntnis der Präferenzen nicht einfach kalkulierbar. Warum soll z. B. jemand, der ein Auto mit einer maximalen Geschwindigkeit von 100 km/h fährt, bereit sein doppelt so viel für ein anderes Auto auszugeben, nur weil es doppelt so schnell fährt? Vielleicht reicht ihm sein Fahrzeug völlig und er würde das Geld lieber für einen neuen Anzug oder eine Waschmaschine ausgeben. Ein anderer hingegen würde das Vierfache ausgeben wollen, was in diesem Szenario wohl eher den herrschenden Marktpreisrelationen entspricht. Wenn man Autos, Anziehsachen und Waschmaschinen als Indikationen interpretiert, macht das Beispiel deutlich, dass die Verengung der Bewertung auf eine einzelne Indikation schwer begründbar ist. Die Argumentation der Verfasser des IQWiG-Methodenpapieres, dass wegen des Fehlens eines generellen Gesundheitsbudgets nur indikationsspezifische Kosten-Nutzen-Analysen zulässig sind, ist abwegig. Andersherum wäre die Argumentation schlüssig: Würden indikationsspezifische Budgets vorliegen, dann wäre der IQWiG-Ansatz vertretbar. Dann würde aber die Summe der Einzelbudgets natürlich auch ein Gesamtbudget weitgehend determinieren.

Weiterhin müssen die Präferenzen des Entscheidungsträgers formuliert werden, um aus einer Erfassung von Kosten und Nutzen Schlussfolgerungen ziehen zu können. Die Forderung nach einem indikationsübergreifenden Schwellenwert (z. B. Kosten/QALY) ist deshalb nicht nur eine fixe Idee von Ökonomen, sondern eine konsequente Folge der Revision des gesetzlichen Rahmens.

Kosten-Nutzen-Analysen dienen letztlich dazu, Hilfen im kollektiven Entscheidungsprozess über Behandlungsalternativen und Erstattungen zu liefern. Wäre es jedem selbst überlassen für seine Gesundheitsversorgung zu sorgen, so würde auch jeder Einzelne für sich entscheiden müssen. Der Markt würde (bei ausreichender Informationslage) alles Weitere regeln. In einer Welt mit Versicherungspflicht, Pflichtbeiträgen und partieller Steuerfinanzierung der Gesundheitsausgaben sind kollektive Entscheidungen über die Einnahme- und Ausgabenseite notwendig, da die Preise im Gesundheitswesen weder Knappheitsrelationen noch Kostenrelationen oder Nutzen anzeigen. Je nachvollziehbarer und transparenter die Entscheidungsprozesse sind, umso höher wird die Akzeptanz des Leistungskataloges der GKV auf Dauer sein. Deshalb ist es wichtig, dass die angewandten Methoden zur Bewertung von Gesundheitsleistungen nicht von Fall zu Fall neu definiert werden, sondern klar, wissenschaftlich korrekt und operationalisierbar festgelegt sind. Einen Beitrag dazu liefert das vorliegende Sonderheft. Auf die Diskussion der kommenden Jahre kann man sich nur freuen und hoffen, dass dieser dann auch Taten folgen.

Prof. Dr. J.-Matthias Graf von der Schulenburg

Leibniz Universität Hannover, Forschungsstelle für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystemforschung

Königsworther Platz 1

30167 Hannover

Email: jms@ivbl.uni-hannover.de

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