Psychiatr Prax 2009; 36(8): 401
DOI: 10.1055/s-0029-1242895
Serie ˙ Szene ˙ Media Screen
Leserbrief
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Müller S, Kissling W (Pro), Stiegler (Kontra). Finanzielle Anreize zur Compliance-Förderung. Psychiat Prax 2009; 36: 258-260

Further Information

Publication History

Publication Date:
13 November 2009 (online)

 

Ein schärferes Kontra ist nötig

Im September-Heft der Psychiatrischen Praxis hat die Redaktion Frau Müller und Herrn Kissling Gelegenheit gegeben, in einem sogenannten Pro-Artikel ihre Vorstellungen darzustellen, wie die Compliance bzw. Adherence von schizophren erkrankten Patienten gefördert werden kann. Ihr Vorschlag ist es, die Patienten durch finanzielle Anreize zu erwünschtem Verhalten zu motivieren, insbesondere zur regelmäßigen medikamentösen Behandlung.

Die Problematik der Compliance von Patienten mit einer Schizophrenie ist ja seit langem Thema wissenschaftlicher Untersuchungen. Für mich als niedergelassener Nervenarzt in einer sozialpsychiatrisch orientierten Praxis stellt sich täglich die Frage, wie man Patienten zur Therapietreue motivieren kann. Ich habe im letzten Jahr in der Psychiatrischen Praxis [1] in einem kurzen Artikel meine Erfahrungen bezüglich der Behandlung chronisch schizophrener Patienten darstellen können und erläutert, dass die mangelnde Einnahme von Medikamenten aus meiner Sicht nicht der wichtigste Punkt bei den Rückfällen schizophren erkrankter Patienten ist.

Ich habe darauf hingewiesen, dass sowohl die Compliance als auch Rückfälle mit Verschlechterung und Wiederaufnahme in die Psychiatrische Klinik sehr komplexe Grundlagen haben und die Kontinuität der Arzt-Patienten-Beziehung und das stabile sozialpsychiatrische Netz die entscheidenden Grundpfeiler für jede Therapie und Erhaltung der Lebensqualität von schizophrenen Menschen sind. Leider wird in den, in der Psychiatrischen Praxis veröffentlichten Kontra-Argumenten von Frau Stiegler, ebenfalls TU München, fast ausschließlich formalistisch argumentiert; die problematischen Implikationen finanzieller Anreize für die Arzt-Patienten-Beziehung werden nicht erfasst.

Man muss sich doch vor Augen führen, was für Wirkungen eine solche finanzielle Anreizmethode auf den betreffenden Behandler, auf den betreffenden Patienten und auf die Beziehung zwischen Therapeut und Patient ausübt. Der Therapeut, der gleichzeitig Essensgutscheine austeilt, gerät in die Rolle wie der Mitarbeiter beim Sozialamt, der soziales Wohlverhalten belohnt bzw. Fehlverhalten sanktioniert.

Gravierender sind die Folgen für die schizophren erkrankten Patienten. Sie, die an ihrem Selbstwert ständig zweifeln, ihre soziale Exklusion täglich erleben, erfahren auch im Verhältnis zum behandelnden Arzt Autonomieverlust, spüren vermehrte Abhängigkeit. Ihre Bereitschaft zur Behandlung wird zur Ware, die dann in Essensgutscheinen den entsprechenden Tauschwert findet.

Dass dies in die Arzt-Patienten-Beziehung erheblich eingreift, ist kein Zweifel. Auf jeden Fall wird die Asymmetrie in einer ungünstigen Weise verschärft und die labile Ich-Struktur des Patienten weiter geschwächt. Meines Erachtens widerspricht eine solche Denk- und Verfahrensweise einem personenbezogenen Behandlungsansatz bei Menschen, die an einer Schizophrenie erkrankt sind.

Friedrich Böhme, Tuttlingen

Email: boehme.@tut.t-online.de

Literatur

  • 01 Böhme F . Der Verlauf schizophrener Erkrankungen im Blickwinkel der Nervenarztpraxis.  Psychiat Prax. 2008;  35 99-103
    >